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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Simon: Die Ausführungen des Webmasters in der letzten Nachricht haben uns ganz gut beschäftigt, Ozzy, Maria, Carl und mich. Vielleicht haben wir hier einen neuen Anhaltspunkt. Wenn wir Situationen als Bezugspunkte von Wertungen wählen statt Meinungen oder Personen, ist die Wertung objektiver. Das ist jedenfalls die Idee der Sache. Ein Streitpunkt bleibt dabei, welche Elemente wir als zu einer Situation gehörig anerkennen. Als ich mich mit Ozzy darüber unterhalten habe, kamen wir darauf, dass man jede Situation aus ihrer Entstehung heraus verstehen muss, nicht aus ihrer Oberfläche. Die Fragen sind also: Wie ist die Situation entstanden und wie stellt sie sich dar?

Nehmen wir Afghanistan: Dass die Deutschen jetzt militärische Hilfe leisten ist folgerichtig. Diese Entscheidung und die Situation, die sich aus ihr ergibt, ist im internationalen Kontext gerechtfertigt. An der Oberfläche ist es eine richtige Entscheidung. Überlegt man aber, wie es zu der Entscheidung gekommen ist, berücksichtigt man also frühere Entscheidungen wie die der uneingeschränkten Solidarität, den Angriff auf einen souveränen Staat, die „Vertrauensfrage“, die Entscheidung für Gewalt zur Gewaltbekämpfung und so weiter, dann stellt sich die Situation anders dar, dynamischer, nicht oberflächlich statisch.

Vielleicht können wir mit den Mitteln des Webmasters ein paar Szenarien zusammenstellen, um Begriffen wie „Gewalt“ näherzukommen. Denn solange wir keinen systematischen Argumentationsrahmen schaffen, bleiben alle Bewertungen relativ. Nehmen wir ein Kind, das Schläge als Gewalt empfindet und Eltern, die Kritik an ihnen als Gewalt empfinden. Wenn die Werte hier relativ sind, werden beide Parteien argumentieren und danach wird sich – unabhängig von dem Gesagten – die stärkere Partei durchsetzen. Mehr als zuvor brauchen wir eine Gewaltdefinition.

(2) Dieter Z.: Hat jemand von euch die „SZ am Wochenende“ vom 22.12. gelesen? Superspannend. Fritz B. Simon hat dort einen langen Essay mit dem Titel „Nichts Großes ohne Größenwahn“. Das passt hervorragend in unsere Diskussion. Fritz Simon ist Psychiater, Professor in Herdecke und Autor des Buches „Meine Psychose, mein Fahrrad und ich“. Es geht in dem Artikel um die Ähnlichkeiten zwischen und die Wahrnehmung von psychisch Kranken und Führungspersönlichkeiten. War Hitler verrückt? Was ist Wahn, was Voraussage? Er spricht einerseits von natürlichen Größenfantasien als der Wurzel großer Leistungen und andererseits von den Gefahren der Begeisterung für Führer. Hinter diesen Gedanken verbirgt sich eine feine Autoritätskritik. Der Autor moniert, dass sich die Führungskräfte in der Gesellschaft häufig mit Ja-Sagern umgeben. Fritz Simon sagt: „Die Qualität eines Führers zeigt sich darin, dass er es schafft, trotz seiner Machtposition Widerspruch zu hören.“

Es ist von psychischen Auffälligkeiten die Rede. Hitlers Habitus etwa wäre unbedingt als pathologisch eingestuft worden, wäre er nicht der Führer gewesen. Es wird ja oft darüber gestritten, ob man Hitler vergleichen soll oder nicht. Es gibt Leute, die sagen, man würde die einzigartige Abscheulichkeit Hitlers relativieren, wenn man ihn mit anderen Leuten vergleicht. Ich halte das für grundverkehrt. Um mit dem Situationsbegriff zu argumentieren: Das Phänomen Hitler zeigt sich in den Situationen, in denen er stand und die er hervorgerufen hat. Wenn man das nicht mit anderen Situationen vergleicht, kann man das Phänomen Hitler gar nicht verstehen. Man vergleicht ja doch immer nur Aspekte und nicht den ganzen Menschen. Deshalb ist es auch angebracht, ihn mit Popstars zu vergleichen, um aus den Unterschieden zu einem besseren Verständnis zu kommen. Zum Beispiel der früher erwähnte Gedanke von Elvis als der Antithese Hitlers. Elvis hatte sicherlich Größenfantasien. Oder Jesus. Oder Schröder. Oder Oskar Lafontaine.

Was der Fritz-Simon-Artikel deutlich zeigt, ist, dass Ideen von Größe bzw. große Ideen von der Gesellschaft häufig pathologisiert werden, ohne dass man zwischen gesunder und ungesunder Größenfantasie unterscheidet. Und das ist haarscharf Ozzys Grundthese. Dass dies ein Thema ist, das Ozzy sehr interessiert, ist ziemlich einleuchtend. Vielleicht muss man sich auch selbst groß machen, um als Individuum in der Gesellschaft zu überleben. Denn letztlich geht es uns doch um die Rechte des Individuums. Carl hat zu Anfang im Zusammenhang mit dem Song EVERYBODY TO BE FREE einmal über Ozzy gesagt, dass es wahrlich Schlimmeres gebe, als sich als einen Befreier zu sehen. „Wie soll sich ein Popkünstler sonst sehen, als Sklaventreiber?“ Doch ist der Wunsch oder der Traum von einer besseren Welt ohne Zweifel eine Größenfantasie. Dazu steht Ozzy ja auch. Der Song selbst ist eine Größenfantasie. Und er ist gleichzeitig Kunst. Er legitimiert sich aus seiner Harmonie, man merkt, dass er echt ist, aus einer Inspiration entstanden. Nicht konstruiert. Dadurch fühlt Ozzy sich als Sprecher legitimiert. Wer jedoch diese Kriterien von Kunst und auch Ozzys Vorstellung von der gesellschaftlichen Rolle der Kunst nicht akzeptiert – z.B. wegen einer unsicheren Wertewelt –, der wird Ozzy vielleicht für verrückt halten, für größenwahnsinnig oder ähnliches. Wenn einige das tun, ist es nicht so schlimm, aber wenn es allgemein und unwidersprochen im Raum stehen bleibt und engagierte Künstler stark einschränkt, dann würde ich das Gewalt nennen. Ich schätze, solche Größenfantasien sind auch für das verantwortlich, was man gemeinhin subversiv nennt.

(3) Maja B.: Nachdem ich in der letzten Nachricht mal wieder meine Verwirrung über den Gewaltbegriff zum Ausdruck gebracht habe, bin ich die Sache nun doch systematisch angegangen. Lange Bücher konnte ich seit vorgestern natürlich nicht analysieren, aber eine Internet-Recherche ist ja auch schon mal nicht schlecht. Also habe ich die Begriffe „Gewalt“ und „Definition“ in meiner Suchmaschine eingegeben und mir die ersten Hundert Einträge mal angesehen. Dabei bin ich zu folgenden Ergebnissen gekommen:

Der Gewaltdiskurs ist vornehmlich ein soziologisch-politologischer, daneben gibt es den juristisch-bürokratischen. Wer aus dem Diskurs heraus über Gewalt spricht, der zitiert den norwegischen Soziologen Johan Galtung, der seit Mitte der 60er Jahre die maßgeblichen Bücher geschrieben hat. Oft zitiert wird er mit der Definition: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle körperliche, seelische oder geistige Verwirklichung hinter den an sich potenziellen Möglichkeiten zurückbleibt.“ (1975) Er geht also vom Opfer und seiner Einschränkung aus. Das Recht auf freie Entfaltung steht hier im Vordergrund.

So weit, so gut. Galtung unterscheidet weiterhin zwischen direkter und struktureller Gewalt. Ob er mit direkter Gewalt nur körperliche Gewalt meint, weiß ich jetzt nicht, wohl eher nicht. Die strukturelle jedenfalls ist zum Beispiel die Arbeitslosigkeit oder die Benachteiligung von Minderheiten durch gesellschaftliche Mechanismen, die keinen unmittelbaren Täter haben müssen. Später fügte Galtung noch eine kulturelle Gewalt hinzu, welche die strukturelle Gewalt kulturell untermauert und legitimiert.

Während die Vorstellung einer direkten Gewalt (die von anderen auch personelle Gewalt genannt wird) vom Establishment geteilt wird, herrscht über die strukturelle Gewalt nach meinen Ermittlungen ein gesellschaftlicher Streit. Die Soziologen sagen, dass man die Gesellschaft ohne sie nicht verstehen kann, das Establishment sagt, dass man dann alles Mögliche Gewalt nennen kann, dass es zu subjektiv sei, und dass sich der Begriff der strukturellen Gewalt juristisch nicht fassen ließe und insofern politisch eher uninteressant sei. So hat die Bundesregierung 1990 einen vierbändigen „Gewaltbericht“ einer eigens eingerichteten „Gewaltkommission“ vorgelegt, in dem deutlich wird, dass man in diesen Kreisen nicht über strukturelle Gewalt philosophiert. Es geht dort um „Formen des physischen Zwangs“.

Ja, und ansonsten ist da gar nicht so viel, wie ich dachte. Die meisten sagen, dass die Definition offen oder subjektiv sei. Ein paar Denkanstöße habe ich gefunden, aber nichts wirklich Überzeugendes. Das mag natürlich an mir liegen und der relativ kleinen Recherche. Hier ein paar Impressionen: Nach § 249 StGB liegt Gewalt gegen eine Person vor, wenn erwarteter Widerstand gebrochen wird, wobei ein körperlicher Zwang und eine entfaltete Kraft wesentlich sind. Seit einiger Zeit werden Sitzblockaden bei Demonstrationen von den Behörden als Gewalt eingestuft, das ist bei vielen auf Kritik gestoßen. Ralf Pöhler, ein Judo-Trainer, definiert schlicht: „Gewalt benennt die Beziehung zwischen einem Opfer und einem Täter“. Auch Gewalt als reine Schadenszufügung habe ich gefunden und das zwangsweise Einwirken auf den Willen des Opfers. Aber immer mehr scheint es, als kämen wir mit dem Gewaltbegriff gar nicht aus. Andere Begriffe wie „Aggression“, „Feindseligkeit“ und „Unrecht“ scheinen manchmal die Begriffe zu sein, die das beinhalten, was wir suchen. Im Moment sieht es für mich so aus, als sei jedes Unrecht Gewalt, ja als sei „Unrecht“ der Begriff, den wir eigentlich meinen.

Und noch etwas: Ich habe eine Art von furchtsamem Schauer bekommen. Galtungs Begriff der strukturellen Gewalt, der im soziologischen Diskurs fest verankert ist, hat es seit den 60er Jahren nicht geschafft, angemessen in die Politik und die Gesellschaft zu wirken. Ich merke, wie viele Probleme der Gewaltbegriff für das Establishment mit sich bringt. Wir sind da wohl auf einer guten Fährte und es hat einen ganz eigenen Reiz, das Thema öffentlich zu diskutieren. Kaum jemand geht nämlich beim Gewaltbegriff wirklich in die Tiefe. Spooky thing, this. Nun muss ich wohl doch Galtung lesen. Hoffentlich ist der nicht so abstrakt. Aber es war ja abzusehen: Je näher man herankommt, desto mehr entzieht sich der Begriff. Wer hilft weiter?

(4) Samantha D.: Auch ich bin der Ansicht, dass es nötig ist, über Sex zu sprechen. Denn wenn eine Gesellschaft Tabus hat, dann sind immer sexuelle Tabus darunter. Die sind ja auch notwendig. „Tabu“ sollte dabei aber nicht verschweigen heißen, sondern verbieten. Dinge wie Gewalt gegen Frauen, Sex mit Kindern oder Inzest sind tabu, verboten, aber wenn es innerhalb dieser Themenkomplexe Probleme gibt, müssen wir natürlich darüber sprechen.

Ein guter Anhaltspunkt für den Umgang der Gesellschaft mit dem Thema Sex ist die Karriere der kürzlich verstorbenen Schleswig-Holsteinerin Beate Uhse. Sie war eine Frau, die aufklärerische Ideale mit wirtschaftlichen Interessen verband. Man sieht an ihrer Karriere, wie groß gleichzeitig die Nachfrage nach ihren Produkten war und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung. Überzeugt hat sie schließlich durch ihre Geschäftstüchtigkeit. Als sie das große Versandgebäude der Öffentlichkeit präsentieren konnte sowie immense Verkaufszahlen, da ist sie einigermaßen akzeptiert worden. Ihr aufklärerischer Ansatz hingegen (sie schrieb ja auch) wurde kaum bekannt. Insofern ist Sex als Wirtschaftsgut bei den Konservativen akzeptiert, mit dem Satz „Sexuelle Freiheit ist gesellschaftliche Freiheit“ kann man ihnen aber nicht kommen. Ich vermisse heute die zeitgemäße Figur eines Oswald Kolle, denn dessen damals bahnbrechenden Filme (gesellschaftlich, nicht wissenschaftlich bahnbrechend) sind in einigen Dingen überholt. Und in den Bücherschränken der Familien sieht man oft noch das Büchlein „Lerne glücklich lieben“, ein gutes Buch ohne Zweifel, aber auch das ist schon sehr alt.

(5) Silke P.: Eine kurze Bemerkung über den Individualismus und den Schamanismus. Im Schamanismus werden Tiere als Manifestation ihrer Gattung betrachtet. Wenn ich zum Beispiel einen Blauwal sehe, dann ist das nach schamanischem Verständnis kein individuelles Tier, sondern „Der Blauwal“. Ich erwähnte in einer früheren Nachricht, dass der Wal mein Lieblingstier ist. Inzwischen habe ich nachgelesen, dass dies eine schamanische Vorstellung ist. Der Schamane hat ein oder mehrere Krafttiere, die ihn bei seinen Träumen und Visionen begleiten. Sie sind geistige Führer. Bei den alten Ägyptern und anderswo sind diese Tierarten mit ihrer jeweiligen Symbolik auch zu Göttern aufgestiegen. Auch bei den Indianern haben die Tierarten einen einzigen Geist, der in jedem Exemplar manifestiert ist.

Der Mensch hingegen wird als Individuum gesehen. Der Geist eines einzelnen Menschen entspricht insofern dem einer ganzen Art von Tieren. Ich denke, hier zeigt sich auch das Dilemma menschlicher Gesellschaften: Einerseits gelten alle Mitglieder der Gesellschaft als gleich, weil sie dieselben Bedürfnisse haben und sie sich ja deshalb auch zusammengeschlossen haben, andererseits sind es alles Individuen, hinter denen sich jeweils ein ganzer Kosmos von personaler Identität verbirgt, mit individuellen Beschaffenheiten, Fähigkeiten, Gefühlen und Lebensarten. Jeder Mensch hat doch eine ganz eigene Kultur in sich. So liegt die größte Schwierigkeit der Gesellschaft darin, den Individuen gerecht zu werden.

Redaktion in Kiel, 28.12.01

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