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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Mo: Einen guten Übergang ins Jahr 2002 wünsche ich euch, mit viel Rock'n'Roll. Mit Elvis und Little Richard wirst du einfach nicht älter. Das war kein bonbonfarbener Zirkus zwischen 1956 und 1959, sondern es ist ein mächtiger Mythos daraus geworden, der Homer des Fernsehzeitalters. Der große Schrei nach Freiheit. Der Blues war zu langsam geworden, seine Texte zu trüb. Hey c'mon rock these blues away! Mach Wut aus deiner Trauer, Tanzwut, und, wenns sein muss, Zorn! Gib dich nicht zufrieden mit deiner Trauer! Das ist die Botschaft des Rock'n'Roll.

Hört euch noch mal den Anfang von Elvis' Version des MILKCOW BLUES an, den er bereits MILKCOW BLUES BOOGIE nennt. Zu finden auf der allerersten LP von SUN-Records. Er fängt lahm an, dann stoppt er und sagt: „Hold it, fellows! That don't move me. Let's get real gone for a change“, und dann rockt er ab. Also dazu kann ich nur sagen: Hey out there, let's get real gone for a change!

(2) Maria: Am gestrigen Freitag waren neben Hanna und Marco auch Maja, Enno und Roger hier zu Gast. Es war ein bisschen Blind-Date-mäßig, hat sich aber gelohnt. Deshalb werde ich jetzt für eine Weile jeden Freitag mein Domizil als Marktplatz für Leute und ihre Gedanken zur Verfügung stellen. Meldet euch aber bitte vorher an, denn ich habe keine unbegrenzten Kapazitäten. Ob das wohl über den Red. laufen könnte? (Is kein Problem, der Red.) Die Adresse bekommt ihr dann dort. Es ist so etwa schräg gegenüber vom ABATON-Kino.

(3) Webmaster: Vielleicht ist es doch angebracht, etwas detaillierter über meinen Definitionsansatz der Gewalt zu schreiben. Vielleicht hilft das Herrn Simon und Frau Maja B. etwas weiter. In meiner Begriffsanalyse werden Begriffe etwa so zerlegt, wie man Sätze zerlegt, in Handlung und verschiedene Kasusträger und Modifikatoren. Ein Begriff ist also wie ein Satz, nur dass er aus Variablen besteht. Diese Variablen nenne ich in Anlehnung an linguistische Theorien Slots. Ohne allzuweit in Details zu gehen, möchte ich hier das vorläufige Gewaltszenario aufzeichnen, das ich in der vorletzten Nachricht bereits angesprochen habe.

Der erste Slot ist die Tat, allgemeiner gesagt: die Art der Gewalt. Darunter fallen körperliche Gewalt als Prototyp, aber auch psychische oder seelische Gewalt mit weiteren Unterteilungen. Darüber hinaus fallen Phänomene wie wirtschaftliche Gewalt durch Monopole oder andere Arten von Kontrollgewalt in diesen Slot. Der zweite Slot ist die Quelle, der dritte das Ziel der Gewalt. In beiden Rubriken finden wir dieselben vier Einträge: Sache, Person, Gruppe, Staat. Man könnte auch „Tier“ als eigenen Eintrag fassen. Der Staat ist zwar auch eine Gruppe, er hat jedoch eine Sonderstellung, weil seine Gewalt autorisiert ist. Schließlich noch die Ursache und die Folge, um den situativen und historischen Kontext einer jeden Gewalttat erreichen zu können. Als Ursachen kommen Emotion, Dominanzverhalten, Rache und Bestrafung in Frage, als Folgen zum Beispiel physischer Schaden, Gegengewalt, Überreaktion oder Hemmung.

Ich denke, so in etwa sieht der Begriffsrahmen aus. Andere Faktoren können als Option dazukommen, wie etwa das Instrument, mit dem Gewalt verübt wurde. Die größten Schwierigkeiten macht bestimmt der erste Slot, denn wenn es um die Gewaltdefinition geht, fragt man hauptsächlich nach der Tat. Schon bei körperlicher Gewalt ist die Abgrenzung schwierig, wie der Fall Helen Keller zeigt, wie der kontrollierte Sado-Masochismus zeigt, und die undeutliche Grenze zwischen Lust und Schmerz. Man muss sich also zum Beispiel fragen, ob es für den Tatbestand notwendig ist, dass das Ziel der Gewalt sich beschwert. Wenn man also etwas als Gewalt erkennt, aber nichts tut, um dem Einhalt zu gebieten oder sich zu wehren, dann relativiert sich der Gewaltbegriff bereits. Ebenfalls muss man sich fragen, was die Arten der Gewalt von den Arten der Schuld abgrenzt, denn „Schuld“ ist ein weitaus konkreterer Begriff. Würde man die beiden Begriffe aber zu eng aneinanderdefinieren, dann würde man die Staatsgewalt damit stark in Frage stellen.

Der Fokus des Gewaltszenarios liegt also auf dem ersten Element der fünf: Tatbestand (Art), Quelle, Ziel, Ursache (Motiv), Folge. Mit diesem kognitiven Rahmen müsste eine systematische Gewalterforschung möglich sein. Die Abgleichung mit Umgebungsbegriffen ist ebenso wichtig, sie wurde hier nur kurz angesprochen. Wenn Sie weitere Fragen zum Sinn des Lebens haben, fragen Sie beherzt Ihren Webmaster, den Weisen aus dem Cyberspace.

(4) Marco H.: Nach meiner Wut über verschiedene Sachen habe ich neu über die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichen nachgedacht. Affektkontrolle ist eine der zentralen Elemente der Zivilisation, sagt der Soziologe Norbert Elias. Heutzutage verprügelt man niemanden, der einem Unrecht getan hat, sondern man zeigt ihn an. Das ist die positive Seite der Zivilisation. Aber nicht nur Gewaltäußerungen, auch Gefühlsäußerungen sind wegzivilisiert worden. Die Leute leben immer introvertierter, und die Anpassung wird größer. Es ist zu einer Entfremdung von der Natur und von den eigenen Gefühlen gekommen, und die daraus resultierende Ratlosigkeit hat die Tendenz zum angepassten Gruppenverhalten nur verstärkt. Die Leute essen Fleisch, würden aber nie selbst ein Tier schlachten. Das ist Entfremdung. Es wird immer stärker getrennt zwischen privat und öffentlich oder beruflich. Das ist Entfremdung. Man ist gezwungen, verschiedene Identitäten auszubilden, die sich häufig sogar widersprechen. Auch ist, wer von seinen eigenen Gefühlen entfremdet ist, auch von denen anderer Leute entfremdet. Kommunikationsunfähigkeit und Misstrauen sind die Folge.

Ich möchte mich nicht mit dieser Analyse begnügen, sondern dem praktisch etwas entgegensetzen. Ich bin dabei, das Private und das Öffentliche für meinen Alltag neu zu definieren, um diese Kluft zu normalisieren. Privatheit hat etwas mit dem Wunsch nach Alleinsein zu tun, aber auch etwas mit Heimlichkeit. Der Wunsch nach Alleinsein ist akzeptabel. Wenn ich ruhe oder esse oder ins Bad gehe, möchte ich keine Öffentlichkeit. Das Recht auf Privatsphäre meint für mich dieses. Es muss einen Ort geben, wohin man sich zurückziehen kann. Der Wunsch nach Verborgenheit und Heimlichkeit aber ist nicht immer akzeptabel, und der verbirgt sich oft hinter dem Wort „privat“. Der progressive Mechanismus, den Mo erwähnt hat, bei dem das Schweigen mit Offenheit bekämpft wird, verlagert einige Aspekte des Privaten ins Öffentliche, und zwar solche, die politisch relevant sind. Das sind besonders die Gefühle, denn sie motivieren unser Handeln, auch unser gesellschaftliches Handeln. Das ist jedenfalls meine These.

Ich werde mir aus Gründen der Übung vorstellen, dass eine Kamera über meinem Kopf schwebt, die mich ständig filmt. Diesen Gedanken hatte ich zum ersten Mal, als ich Big Brother gekuckt habe. Da ist das Private öffentlich. Wo aber geht Öffentlichkeit zu weit, und aus welchen Gründen? Was ist privat, und warum? Ich glaube, wenn man dazu Antworten finden kann, dann bekommt die Frage nach den Werten des Individuums und der Gesellschaft eine Form. Und als Schriftsteller bin ich geradezu prädestiniert für einen solchen Selbstversuch, denn ich kann ihn bestimmt literarisch verwenden.

(5) Roger B.: Ich habe Maja B. gestern bei unserem Treffen geraten, jetzt lieber keine langen Bücher zu lesen und sich in Theorien zu vertiefen. Das wichtigste Resultat ihrer Arbeit ist die Herausarbeitung der umstrittenen Rolle von „struktureller Gewalt“ in der Gesellschaft. Maja sagt selbst, dass sie in den Gewaltdefinitionen nicht das findet, was wir eigentlich suchen, und dadurch wird auch mir immer klarer, dass wir tatsächlich auf der Suche sind. Wir suchen Werte, Kriterien für Autorität zum Beispiel. Lasst uns also vom Gewaltbegriff weggehen und sehen, welche anderen Begriffe wir in unserem Wertediskurs dauernd verwenden. Am Markantesten scheinen mir die Begriffe „Kontrolle“ und „Gruppe“ zu sein. Fragen wir nach dem Verhältnis zwischen den beiden.

Was ist eine Gruppe? Damit sich eine Gruppe überhaupt konstituieren kann, braucht sie ein Bewusstsein über sich selbst, und das würde ich bereits als eine Vorform von Kontrolle bezeichnen. Leute im Restaurant sind keine Gruppe, nur weil sie an einem gemeinsamen Ort sind und das gleiche tun, nämlich essen. Leute, die zusammen im Kino sitzen, bilden auch noch keine Gruppe, oder doch? Wenn sie zusammen einen Film erleben, dann schon eher. Wenn sie danach gemeinsam im Cafe sitzen, noch mehr, und wenn sie einen Urlaub zusammen planen, dann ganz bestimmt. Der Grad von Gruppenzugehörigkeit ist graduell und oft subjektiv, es gibt ein Set von Faktoren, deren Häufung uns bei Prototypen begegnet wie Familien, Firmen, Staaten, Gesellschaften, Subkulturen etc.. Solche Faktoren sind das oben genannte Gruppenbewusstsein, das gemeinsame Interesse, die eigene Geschichte, die eigenen Riten und Ausdrucksformen, die innere Kommunikation und die innere Organisation und die Darstellung und Kommunikation nach Außen, um nur die Faktoren zu nennen, die mir spontan einfallen.

Zur Erinnerung zwischendurch: Ich spreche über Gruppen, weil wir gesellschaftliche Mechanismen der strukturellen Gewalt untersuchen, die zu Terror und zu Kriegen geführt haben, und die ein großes gesellschaftliches Ungleichgewicht haben entstehen lassen. Wir forschen nach adäquaten Werten als Grundlage gesellschaftlicher Entscheidungen und Entwicklungen. Meine Vermutung ist, dass das soziale Ungleichgewicht an einem verzerrten Eigenverständnis von Gruppen liegt. Dass die fehlenden Werte zu wildwuchernden und destruktiven Kontrollzwängen in Gruppen führen. Wir alle suchen doch Sicherheit, Geborgenheit und Erfüllung in der Gruppe. In Gruppen. Gruppen haben eine Art Kodex, der zu Gruppenverhalten führt. Zum Beispiel bei der Vertrauensfrage. Auch die Entscheidung von Gruppen für Gewalt. Auch die mal mehr mal weniger bewusste strukturelle oder indirekte Gewalt, wie etwa durch Ausgrenzung oder Unterdrückung.

Kommen wir nun zur Rolle der Kontrolle in der Gruppendefinition. Es gibt Gruppen, die kaum oder wenig Kontrolle zu ihrer Konstitution brauchen, z.B. wenn Angler sich am Teich treffen oder Freunde zu einer Party zusammenkommen. Je weniger Planung, desto weniger Kontrolle braucht man. Viele Gruppen aber brauchen eine Art Kontrolle, um zu bestehen, nehmen wir die großen Firmen im Konkurrenzdruck, die Staaten, die eine Sicherheit garantieren, auch die Schulen und im Extremfall die Armeen. Ich hege die Annahme, dass die Gruppen, die in sich kontrolliert sind, eine ebensolche Kontrolle von anderen Gruppen erwarten. Da gesellschaftliche Situationen maßgeblich von Gruppen hervorgebracht werden, ist auch zu vermuten, dass sie durch die Formen ihrer Selbstkontrolle (zum Beispiel Hierarchien) neue Situationen schnell unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle betrachten. Eine Gesellschaft, die auf Ängste gegründet ist, ist ganz besonders darauf bedacht, keine unkontrollierten Situationen zu dulden oder entstehen zu lassen.

Ich denke, wir nähern uns unserer Grundfrage nach reformierten Werten, wenn wir untersuchen, welche Situationen kontrolliert werden und welche einer Kontrolle überhaupt bedürfen. Die Gewaltfrage scheint mir eben noch nicht tief genug an der Wurzel zu liegen. Gewalt ist bereits der Ausdruck einer unausgeglichenen Kontroll-Situation. Sowohl im Fall der Plünderungen in Argentinien, wo die Gewalt an der mangelnden Kontrolle des Staates lag, als auch im Fall von Ozzys Brief vom Gesundheitsamt, bei dem es die übermäßige Kontrolle war, die die Gewalt ausmachte. Gewalt also als Übermaß an oder als Mangel von Kontrolle. Ich denke, in diesen Bahnen kommen wir ganz gut weiter.

Redaktion in Kiel, 30.12.01

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