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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Ozzy Balou: Liebe Leute, hier ist ein rockiger Neujahrsgruß von eurem Ozzy. Habt ihr euch schon mal überlegt, warum es eigentlich so normal ist, dass man mit seinen Eltern nicht zurecht kommt? Generationenkonflikt? Natürlich, ist doch klar. Deshalb zieht man ja auch so schnell wie möglich bei den Eltern aus. Das ist überall gleich. Man geht sich aus dem Weg wegen der unterschwelligen Aggressionen. Ja, aber warum, warum? Was steckt hinter dem Generationskonflikt? Es stimmt etwas nicht mit unserem Menschenbild, wenn so viel Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit herrschen.

Ein Jahr liegt hinter uns, in dem es einen Elften September gegeben hat. Die Toten des Elften September sind missbraucht worden als Rechtfertigung von Unrecht. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich auf das Niveau eines verblendeten Massenmörders herunterbegeben und sind in einer schweren Identitätskrise, von der ich nicht glaube, dass sie sie schadlos überstehen werden. Zu viel Unrecht ist von Amerika ausgegangen. Der amerikanische Traum ist in Kabul zuendegegangen. Ich habe die Vietnamzeit nicht erlebt, vielleicht hätte ich damals etwas Ähnliches gesagt. In diesen heutigen Feldzug gegen „das Böse“ ist aber auch mein eigenes Land verwickelt und ich bin entsetzt über die Gewaltbereitschaft meiner Landsleute, die geschworen haben, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen soll. Aber es hatten ja sowieso die anderen Schuld. In der Neujahrsansprache redet der Bundeskanzler wieder über den „Anstand“. Es geht ihm eben um Amerika, nicht um Gerechtigkeit.

Die Leute sind pessimistisch. Punkt. Ja hallo, das Haus brennt, ach so, ach so, und was tun die Leute? Sie sind pessimistisch. Joo, die Welt ist scheiße, und die Leute durchschauen das alles und sie sind pessimistisch, denn dann haben sie Recht. Punkt. Und tun sie denn nichts? Aber was sollen sie denn tun, also nee, tun tun die nix. Was sollen die denn tun? Ist halt Pessimismus. Wenn du pessimistisch bist, dann kannst du dich wieder ins Bett legen. Keinerlei Konfrontationen. Die Leute haben mit nichts im Geringsten irgendetwas zu tun. Das macht sie gefeiht vor jeder Art von Leben. Man schneidet sich die Schuld aus dem Bauch und reißt dabei die Liebe mit heraus.

Ich mache jedenfalls etwas anderes als dieses Pessimismus-Alibi. Das ist doch noch der Mief der Großvater-Generation aus den 40ern. Erleben Sie Deutschland in der Sicherheitshysterie! Alles kontrollieren, zack zack. So sind die Leute heute drauf, völlig uncool. Da kommt so ein bescheuerter Bin Laden, den keiner leiden kann, und schon haben hier diese Neurotiker das Sagen. Diese verbiesterten blassen Angsthasen, die alles kontrollieren müssen, um sich sicher zu fühlen, weil sie in einer kleinen angepassten Welt leben.

Es ist Zeit zu kämpfen. Die andere Seite zu zeigen. Das Nichts zu zeigen. Das Establishment lässt das Individuum vereinsamen und es misstraut ihm. Es stellt sich vor, dass das Individuum eine Gefahr und böse ist. Es ignoriert alles Individuelle, solange bis das Individuum nicht mehr lieben kann und etwas Böses tut. Dann sagt das Establishment: Siehst du, du bist böse. Und das Individuum denkt sich: Ja, wenn die das alle denken, und wenn ich ja wirklich etwas Böses getan habe, dann haben die Recht, das sind ja auch so viele. Das ist das The-world-is-bad-cause-I-want-it-Fraktal. Kurz gesagt: Ich werfe dem Establishment Gewalt vor. Frohes Neues Jahr!

PS: Über alle politischen Differenzen hinweg hier noch ein Gruß an den Colonel. Ich hatte dir zwar schon privat geschrieben, möchte aber auch öffentlich auf dein letztes Statement reagieren, das ich sehr freundlich fand.

(2) D. Hofstaedter: Da die Diskussion jetzt in tiefere Fahrwasser zu geraten scheint, möchte ich auf ein weiteres grundlegendes psychologisches Phänomen aufmerksam machen, das mit der Wertewelt der Gesellschaft zu tun hat. Und zwar geht es um die Wahrnehmung des Individuums. Dadurch, dass wir sowohl Individuen sind als auch Konstituenten der Gesellschaft, leben wir gewissermaßen schizophren. Wir haben eine innere Welt, in die wir niemanden hineinblicken lassen müssen, wenn wir es nicht wollen, und eine äußere Welt, immer wenn wir uns in Kommunikationsprozessen mit anderen Individuen befinden. In der inneren Welt sind wir das Maß aller Dinge und haben sehr viele Freiheiten, in der äußeren Welt müssen wir uns anpassen, damit eine Kommunikation möglich ist.

Nun sind das aber meistens keine getrennten Welten, sondern parallele. Während jemand im Büro arbeitet in einer hierarchisch strukturierten Firma, kann er sich vorstellen, sich in einem Spiel zu befinden. Niemand würde das merken. In dem erwähnten Benigni-Film DAS LEBEN IST SCHÖN ist der Held mit seinem Sohn im Konzentrationslager. Um dem Kind die grausame Wahrheit zu ersparen, erfindet der Vater ein Szenario, in dem es um einen Preis geht, den es zu gewinnen gilt. Mit Hilfe von Fantasie wurde hier die Innenwelt so groß gemacht, dass sie im Bewusstsein der Individuen stärker wurde als die aufgezwungene Außenwelt. Auch Don Quichotte ist ein Paradebeispiel. Erst in extremen Situationen prallen die beiden Welten aufeinander, und solche extremen Situationen lassen sich oft jahre- und jahrzehntelang vermeiden.

In einer Gesellschaft, die keinen offenen Diskurs hat, basieren viele Entscheidungen und Entwicklungen auf Heimlichkeiten, und so wird es auch erwartet. Über die Sprachhülsen der Politiker etwa regt sich heute niemand mehr auf, man weiß und akzeptiert, dass sie so reden. Man akzeptiert auch allgemein, dass Schweigen Nein bedeutet, und fragt nicht weiter nach. Eine solche Mentalität begünstigt das Sich-Zurückziehen in die innere Welt, in der man selbst bestimmen kann, welche Werte gelten. Während man im Konkurrenzdruck der äußeren Welt nur einer unter vielen ist, kann man Zuhause ein König sein. Der Fernseher gibt uns die Illusion, die äußere Welt kontrollieren zu können, denn wir können scheinbar überall dabei sein, wo etwas los ist. Dieser Selbstbetrug, der uns alle betrifft, untergräbt die Moral.

Moral ist eine Angelegenheit der äußeren Welt und zeigt sich in Kommunikationssituationen. Die geheime und nicht abgeglichene innere Welt beeinflusst uns in unseren Entscheidungen, wir biegen uns die äußere Welt zurecht, damit sie der inneren nicht widerspricht. Moral muss aber – dem schließe ich mich an – unmittelbar und allein aus den gegebenen Situationen entwickelt werden und darf nicht durch die große Diskrepanz zwischen inneren und äußeren Welten korrumpiert werden. Ich plädiere daher ebenso wie Marco H. in der letzten Nachricht für eine möglichst kleine Distanz zwischen Privatem und Öffentlichem. Es muss eine Distanz geben, aber keine so übertrieben große. Die Schizophrenie nämlich, von der ich oben sprach, liegt zwar unter der Oberfläche verborgen, aber sie ist schuldanfällig und entläd sich oft in Gewalttaten.

(3) Hanna G.: Unter dem Aspekt der Kontrolle betrachtet werden viele unserer Fragen plastischer, wie ich merke. Ich glaube, wir werden aber später wieder zum Gewaltbegriff zurückkommen. Ich habe mich gefragt, inwieweit Situationen Kontrolle brauchen und welche. Und was Kontrolle ist. Jedes planvolle Handeln braucht eine gewisse Kontrolle. Auch jede Gruppe braucht eine gewisse Kontrolle, die zum Beispiel in Umgangsformen ihren Ausdruck findet. Ansonsten hätten wir Anarchie, und das will eigentlich keiner. Auch didaktische Prozesse wie Schulunterricht brauchen eine gewisse Kontrolle. Wenn ich das so sage, werde ich wohl auf einen breiten Konsens stoßen, auch, wenn ich hinzufüge, dass jede Kontrolle begrenzt sein muss. Wenn also Konservative und Progressive sich auf der Basis des Gewaltbegriffs nicht verständigen können, dann müsste trotzdem eine Diskussion über den Kontrollbegriff möglich sein.

Da ein bestimmtes Maß an Kontrolle in vielen Situationen notwendig ist, es sich aber nur schwer abschätzen lässt, wieviel, neigen die Ängstlichen dazu, ein Übermaß von Kontrolle auszuüben oder zu fordern. Da dies auf allen Ebenen geschieht, würde ich sogar von einem Kontroll-Fraktal sprechen. Auf der außen- und innenpolitischen Ebene sind es Dinge wie der „Otto-Katalog“ oder die Solidaritätsfrage. Auf der Ebene der Familien sind es die Eltern, die die Kinder kontrollieren. Wenn die Kinder den Familienkodex verletzen, werden sie durch Kontrollmaßnahmen bestraft. Dies ist ein feiner Unterschied zur Gewalt, denn Kontrolle muss nicht Gewalt sein, aber Gewalt ist immer Kontrolle.

Stellen wir uns nun zwei Personen in einem Zimmer vor, sagen wir, einen Mann und eine Frau. Sie kennen sich und sitzen einfach nur zusammen in einem Zimmer, ohne etwas zu tun. Sie haben keinen Plan, den sie gemeinsam ausführen, keinen Traum, den sie zusammen träumen, kein Problem, dass erörtert werden müsste. Sie wissen nicht, was sie sich erzählen sollen. Der Fernseher ist auch zufällig kaputt. Sie wissen nicht, wo sie hinkucken sollen. Die Situation wird immer unangenehmer. Zeit vergeht. Jeder überlegt, wie er da wieder rauskommt. Kommt euch das bekannt vor? Man weiß nicht, was man sagen soll und all das? Bei Menschen, die es gewohnt sind, zu kontrollieren, kommen solche Situationen nicht vor. Diese Menschen machen dann einen Plan und die anderen machen mit. Das muss nichts Schlechtes sein, ist aber ein Mechanismus, der üblicherweise ausgenutzt wird. Kontrolliertwerden hat ja auch große Vorteile: Man weiß immer, wer man ist (der Kontrollierte), man trägt vermeintlich weniger Verantwortung und man ist nie allein. Viele Leute nehmen sogar Gewalt als Mittel der Kontrolle in Kauf, nur um nicht in solche Situationen zu geraten, in denen sie sich unwohl und allein fühlen. Um die Kontrolle auszugleichen, werden sie sie auch nach unten weitergeben.

Die oben beschriebene sprachlose und unangenehme Situation ist die, in der wir auf uns selbst zurückgeworfen werden und uns selbst nicht mehr ausweichen können. Wo uns unsere eigene Kommunikationslosigkeit deutlich wird. Es sind Situationen, die von der Konvention abweichen. Natürlich, manchmal hat man sich auch einfach nichts zu sagen, aber das meine ich nicht. Ich meine die Fälle, in denen Leute in Sachen hineingeraten, weil sie sich der Kontrolle nicht entziehen können. Das ist eine gesellschaftliche Basisfrage. Nur durch Fantasie und Neugier werden wir in der Lage sein, Fremdkontrolle zu erkennen und nur kontrolliert zuzulassen. Wenn wir uns selbst genug kennen, um nicht auf andere angewiesen zu sein, die uns sagen, wer wir sind.

Redaktion in Kiel, 01.01.02

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