(1) Carl: Wenn ich mir die ersten Nachrichten der Chronik so ansehe, bin ich schon verwundert darüber, was wir in den letzten drei Monaten alles auf die Beine gestellt haben. Wir hatten gar keine klaren Erwartungen, es sollte nur etwas passieren. Und jetzt haben wir einige der Leute aus dem BLUESLAND wieder zusammenbekommen. Und das, obwohl wir zum Teil in verschiedenen Ländern, ja, auf verschiedenen Kontinenten wohnen. Die Welt ist klein. Dadurch, dass Ozzy wieder da ist und wir sogar wieder ein wenig in der Öffentlichkeit stehen, sind viele Erinnerungen an die BULLETS wieder hochgekommen. Ich hatte auch vieles verdrängt, das war mir nicht so bewusst.
Heute habe ich ein ganz anderes Leben. Meine Schüler wissen zwar zum Teil, dass ich früher mal in einer bekannten Rock'n'Roll-Band gespielt habe, und manchmal zeigen sie mir auch grinsend Fotos aus alten Illustrierten, aber wie groß tatsächlich der Unterschied ist zwischen einem Lehrerdasein und einem freien Musikerdasein, das werden sie sich nicht vorstellen können. Ich kann es mir selbst kaum noch vorstellen, und deshalb habe ich wohl auch einiges verdrängt. Es war eine gute Zeit. Ich sage das nicht melancholisch oder nostalgisch, sondern ich gestehe es mir ein. Vor ein paar Wochen noch habe ich mich beim Schreiben zurückgehalten, wohl auch, weil ich dachte: Was, wenn deine Schüler das lesen? Aber das hat mir nur gezeigt, wie vorsichtig und furchtsam ich geworden bin, denn früher hätte ich solche Bedenken nie gehabt.
Wir waren die BULLETS. Wir haben Energie unter die Leute gebracht. Wir haben Bewegung gemacht. Ein bisschen ist es schon wie ein Traum. Die Konzerte haben uns bestärkt und Ozzy schrieb dauernd Songs. Als wir die DEBUT machten, fühlten wir uns ziemlich stark. Wir hörten sie dauernd, um uns klarzumachen, dass tatsächlich wir sie gemacht hatten. Ozzy hatte dann diese Idee mit dem Video zu dem Song NEWS. Wir drehten es in einer großen Autowerkstatt, einer riesigen Halle und wir tanzten und sprangen über die Gruben.
Eine zeitlang lief alles wunderbar. Ich frage mich heute, ob ich wirklich daran geglaubt hatte, bis nach ganz oben zu kommen. Natürlich, wir redeten über diese Sachen. Meistens war es aber Spaß, und wir übertrieben extra stark, um nicht den Bezug zur Realität zu verlieren. Heute frage ich mich, was Realität eigentlich ist. So richtig auf den internationalen Erfolg hingearbeitet habe ich nicht. Ich war überall dabei und hatte auch meine Parts immer gut einstudiert, war auch auf viele unvorhergesehene Ereigisse vorbereitet, aber geglaubt, wirklich geglaubt habe ich es wohl nicht. Ozzy sagt, Glaube ist Vertrauen auf das Wissen in nebligen Zeiten. Ein solches Wissen um noch größere Erfolge hatte ich nicht. Es hätte auch nicht in mein damaliges Weltbild gepasst, in der es kein Wissen über zukünftige Dinge geben konnte. Das sehe ich heute ein bisschen anders.
Es ist eine andere Art von Wissen als mathematisches Wissen, aber dass Glaube auf Wissen beruht, leuchtet mir ein. Sonst könnte der Glaube keine Berge versetzen, wie es im Sprichwort heißt und er wäre nichts anderes als eine Vermutung. Damit verlören ja alle Weltreligionen ihre Legitimation. Es muss schon mehr dahinterstecken. Simon und ich beschäftigen uns besonders damit. Er hat schon eine längere innere Debatte hinter sich und liest im Moment sehr viel. Ich fange gerade an, mir darüber Gedanken zu machen, was Glauben ist, und ob ich an irgendetwas glaube und was das konkret für mein Leben bedeutet. Ich spüre bisher nur, dass mir etwas fehlt, das ich mit meinen herkömmlichen Mitteln nicht erreichen kann.
Ebenfalls neu ist, dass ich mit Ozzy auf diese Art über Maria sprechen kann. Letzten Freitag haben wir gesprochen. Und es scheint mir auch ganz gut, wenn ich derjenige bin, der ein paar Worte darüber verliert, denn das habe ich früher nicht getan. Ich hatte mich innerlich eher von Ozzy distanziert, weil ich dachte, er sei eifersüchtig. Nun, so ganz weit hergeholt ist dieses Argument auch nicht, aber wir haben endlich einen Weg gefunden, dass es zu keinen Rivalitäten kommt. Wir sind alle drei der Meinung, dass das Quatsch ist. Und wir kommen auch gut klar. Damals hatte Ozzy uns sogar seinen Segen gegeben und er sagte, dass eine feste Beziehung für Maria und ihn nicht passend ist. Ich habe es ihm nicht richtig geglaubt, konnte es irgendwie nicht glauben. Es hatte auch eine bestimmte Art von Eifersucht gegeben, aber er meinte es wohl ernst, was er mir sagte. Heute jedenfalls kann ich es glauben. Ozzy hat mich am Freitag an den Schultern genommen und mich geschüttelt wie einen Cocktail. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, es wäre Ozzys Frau, mit der ich da rumrenne. Das war vielleicht sogar der Grund, warum Maria und ich nach drei Jahren wieder auseinandergingen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir uns unter neuen Umständen wieder kennen gelernt haben und dass es für eine Weile so aussah, als würden wir in die alten Muster fallen. Ich glaube, das haben wir diesmal besser gemacht.
(2) Dieter Z.: Über Weihnachten habe ich mir mal wieder die alten Bluesplatten angehört, die ich bei meinen Eltern deponiert habe. Dabei sind mir die Texte von Muddy Waters aufgefallen. In einem seiner Songs singt er darüber, wie er Alkohol und „reefer“, also Joints, zu sich genommen hat, aber auch Kokain. Das hat mich doch geschockt. Es war mir früher nie so aufgefallen. Stellt euch das mal vor: Ein bekannter Bluessänger, und alle wissen, dass originäre Bluessänger in vielen Songs sich selber singen, und der singt, dass er kokst. Das war der Blues in den 30ern und 40ern. Manchmal ist man erstaunt darüber, wie tolerant frühere Zeiten gewesen sein müssen, um so etwas auf Platte zu kriegen. Auch das berühmte „Tutti Frutti, All Rootie“ sang Little Richard in den Clubs damals anders: „Tutti frutti, good booty/ If it don't fit, don't force it / You can grease it, make it easy“ (nach Büttner S.47, s.o.).
(3) Lutfi M.: Das Schöne an der Chronik ist, dass ich sie von fast überall aus lesen und mich daran beteiligen kann. Gerade bin ich geschäftlich in Ägypten. Für die orientalischen Gesellschaften bedeutet das Internet eine besondere Herausforderung, denn so viel Demokratie – und das freie Netz ist Demokratie – ist neu für sie.
Interessant fand ich die Gedanken von Marco H. über die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem. Diese Begriffe sind auch in den orientalischen Kulturen wichtig. Hier liegen auch wesentliche Unterschiede zwischen dem Westen und dem Orient. Man sieht das bereits an der Architektur. In der klassischen arabischen Stadt sind die Häuser von Außen eher unscheinbar. Die wohnliche Privatsphäre liegt verborgen. Die heutigen arabischen Metropolen allerdings haben sich weitgehend an die international übliche Infrastruktur angeglichen. Auch Statussymbole gehören dazu.
Ich halte es für sehr wichtig, dass die orientalischen Gesellschaften jetzt lernen, sich zu öffnen, auch, sich innerlich dem Westen zu öffnen. Damit meine ich, dass man bei uns die Dinge, die aus dem Westen übernommen werden, auch bewusst und mit Dankbarkeit übernimmt. Seien es technische Errungenschaften oder bestimmte Handelswaren, Filmschauspieler oder Moden. Wir nehmen sie zwar an, weil wir sie mögen und brauchen, aber wir wollen deshalb nicht unser Feindbild vom gefräßigen und ungläubigen Westen aufgeben. Solange aber nur die Regierungen sich wirksam mit der Kulturverständigung beschäftigen, kommen lediglich solche Sachen wie Terrorbekämpfung heraus. Es ist daher notwendig, dass die gesellschaftlichen Kräfte geweckt werden, die lange ohnmächtig waren und die sich erst einmal wieder daran gewöhnen müssen, gesellschaftlich aktiv zu werden.
(4) Zoltan: Mit dem Schamanismus beschäftige ich mich wissenschaftlich seit etwa zehn Jahren. Ihre Chronik ist für mich eine Gelegenheit, über verschiedene Dinge außerhalb des akademischen Rahmens zu sprechen. Möglicherweise kann ich etwas aus dem linguistischen und ethnologischen Bereich beitragen. Wobei es anscheinend einige Linguisten hier gibt, denn die Art der Begriffsanalyse etwa von Herrn Webmaster, ist durchaus mit linguistischen Theorien kompatibel, zum Beispiel aus der Kasustheorie, mit der ich mich ebenfalls beschäftigt habe. Ich möchte mich daher hier vorstellen:
Mein Arbeitsgebiet war am Anfang die Metapherntheorie, Lakoff und Turner. George Lakoff ist Linguist in Berkeley. Sehr engagiert übrigens. Im Kuwaitkrieg vor zehn Jahren verbreitete er über das Netz eine Metaphern-Analyse der amerikanischen Propaganda, mit dem medizinischen Szenario der „chirurgischen Einschnitte“ und dem Märchenszenario vom Bösewicht Saddam, der die Prinzessin Kuwait bedroht, die vom amerikanischen Helden gerettet werden muss. Auch das Clausewitz-Szenario vom Krieg als Mittel der Politik, das ja in der Chronik bereits angesprochen wurde, wird von Lakoff analysiert. Die Hauptthese der Metapherntheoretiker ist, dass wir in Metaphern denken und dass die Metapher kein rhetorisches Mittel ist. Das erste wichtige Buch von 1980 hieß deshalb auch: METAPHORS WE LIVE BY. Es zeigt, dass wir ohne Metaphern zum Beispiel keinen Begriff von Zeit bilden können, weil Zeit für uns immer „vergehen“ oder „kommen“ oder „reifen“ muss, um einen Sinn zu ergeben, und das sind Begriffe, die meistens aus dem räumlichen Denken stammen. Kurz gesagt: Abstrakte Begriffe brauchen als Basis konkrete Vorstellungen. Anhand der Präpositionen sieht man, wie sehr unsere Sprache aus Metaphern besteht. Elemente einer (konkreten) Quelldomäne, z.B. Raum, werden übertragen auf eine (abstrakte, nicht sichtbare) Zieldomäne, z.B. Zeit.
Zum Schamanismus nun kam ich durch zwei Erlebnisse. Das erste war eine linguistische Konferenz, bei der es um Sprachverarbeitung und neurologische Aspekte menschlicher Assoziationsfähigkeit ging. Ein Teilnehmer aus der Psycho-Linguistik hielt dabei einen Vortrag über Kreativität und Wahn. Zufällig schrieb die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vor Kurzem einen Bericht zu diesem Thema (29./30./12.01, S. 57: „Das paranormale Gehirn“ von Peter Brugger). Kurz gesagt geht es darum, dass Menschen, die an außersinnliche Wahrnehmungen (ASW) glauben, anders assoziieren als solche, die nicht an ASW glauben. Diese assoziieren mit der (bei Rechtshändern) sprachdominanten linken Gehirnhälfte, die ASW-Gläubigen auch mit der rechten. Damit ist das Assoziationspotenzial der ASW-Gläubigen deutlich größer, sodass versteckte Bezüge deutlich werden können, es können dadurch aber auch faktische Irrtümer entstehen. Dieses Phänomen betrifft die Kreativen, und es zeigt ebenfalls die Grenze zwischen Kreativität und Wahn, wobei „Wahn“ meist einfach nur Irrtum heißt und nicht einmal pathologisch sein muss.
Fasziniert von diesem Vortrag fand ich durch private Kontakte Zugang zu indianischem Schamanismus. Ein Freund nahm mich mit zu einer rituellen Visionssuche, bei der ich dieses Assoziationspotenzial bei mir selbst erleben konnte. Mein linguistisches Wissen wurde zu einer Art Hintergrundwissen und Sprungbrett, ich verinnerlichte die Fragen und Rituale, die wir in der Gruppe durchführten und entwickelte am Ende der Reise ein reales Verständnis für den Schamanismus. So entdeckte ich die Ethnologie für mich. Doch ist die Akzeptanz dieser Forschungen noch immer viel zu gering. Man denkt dabei oft an Parapsychologie und Tischerücken. Aber das ist Unsinn. Wir befinden uns in der frühen Blütezeit der kognitiven Wissenschaften. Derer also, die sich mit dem Verhältnis zwischen Sprache, Denken und Bewusstsein beschäftigen. Die wesentlichen Fragen des 21. Jahrhunderts sind kognitiver Natur.
Redaktion in Kiel, 03.01.02
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