home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap

ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
vorige DIE 56. NACHRICHT nächste

(1) Bertold M.: Vor ein paar Wochen hörte ich von der Chronik. Ozzy kenne ich flüchtig, ich habe damals ein oder zwei Konzerte der BULLETS gehört. Von dem ganzen politischen Hintergrund wusste ich aber nichts. Damals studierte ich Politik und Islamwissenschaft und war engagiert in der Palästina- und der Kurdenfrage. Ich schrieb auch einige Artikel zu diesen Themen und reiste öfter in den Orient. Vor Kurzem habe ich bei einem größeren Nachrichtenmagazin gearbeitet, und beim Recherchieren bin ich auf die Chronik gestoßen.

Nach der Lektüre hatte ich ein wenig den Eindruck, als wären meine Palästina-Analysen zum Teil nur eine Abstraktion oder Verschiebung der Probleme, die mich wirklich interessieren. Palästina ist weit weg, und es ist schon irgendwie typisch für Forscher wie mich, sich ein Thema zu suchen, das nicht unmittelbar mit dem eigenen Leben zu tun hat, zum Beispiel die unterdrückten Palästinenser. Im Grunde ist Ozzy ja auch ein Forscher, nur, dass er die Dinge erforscht, die direkt zu seinem Leben gehören und zu seiner Person. Anfangs hielt ich das für unwissenschaftlich und zu emotional, im Laufe der Chronik aber fand ich immer mehr Denkanstöße und neue Ideen, die mich seitdem beschäftigen.

Ich hatte nie darüber nachgedacht, politisch wirklich etwas zu bewegen. Ganz praktisch, meine ich. Ich hielt mich für einen Beobachter und Analysten, aber das ist zum Teil nur ein Alibi. Mir fiel auf, dass wir an der Uni nicht dazu ausgebildet wurden, etwas zu tun, sondern wir wurden tatsächlich – wenn überhaupt – für eben diese passive Beobachterrolle ausgebildet. Es wäre mir damals auch anmaßend vorgekommen, mich für konkrete politische Veränderungen einzusetzen, wir Studis hatten andere Probleme. Wir mussten uns einen Weg suchen, um später Geld zu verdienen und einen Job zu finden. Als Geisteswissenschaftler sahen wir darin unsere eigentliche kreative Aufgabe. Auch dieser ulkige Unistreik war nur eine Verschiebung der Probleme, denn die Professoren stimmten grinsend mit ein, und es war von vorneherein klar, dass er überhaupt nichts verändern konnte. Im Gegenteil, der Streik zeigte nur, dass die Studenten keinen Plan hatten und völlig harmlos waren.

Dabei hat Ozzy ziemlich Recht damit, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die unmittelbar mit dem Leben zu tun haben und an der Wurzel anfangen. Nach der Lektüre der Chronik fühle ich mich seltsam unfrei und in meinen Bahnen gefangen. Seit über zehn Jahren arbeite ich zur Palästinafrage, aber mein Leben hat sich kaum verändert, und ich bin nicht einmal so weit in die zentralen Fragen eingedrungen, wie ihr in drei Monaten. Das hat mir zu denken gegeben, und ich glaube heute, dass es schon an der Art des Unterrichts in der Uni liegt, dass ich mich nie richtig getraut habe, groß zu denken und selbst etwas zu bewegen. Aber woran genau hat das gelegen?

Bei den Islamwissenschaftlern meiner Uni lehrten damals zwei Professoren. Der Unterricht meines Professors war sehr gut aufgrund seines großen Wissens, aber er hat nie Kontakt zu den Studenten gefunden. Er sagte auch immer, dass er keine Schüler haben wollte, die seine Arbeit weiterführen. Sein Traum war eine Eliteuniversität. Es hatte mehrere sehr gute Studenten gegeben, aber er hat niemanden wirklich gefördert und hatte ein sehr distanziertes Verhältnis zum Institut insgesamt.

Schlimm finde ich, wenn solche Professoren, die eigentlich gar keine Studenten haben wollen, vom universitären Mittelbau kritiklos unterstützt werden. So bleibt alles im Rahmen der Normalität. Man hatte doch als Student auch alle Freiheiten und musste sich zudem um die Magisterarbeit kümmern, alles andere gehörte nicht zur Institutswelt.

Ich bin deshalb froh, wenn Professoren nun nach ihrer Leistung bezahlt werden, wenngleich ich die Befürchtung habe, dass die Studenten gar nicht richtig wissen, wie sie die Leistungen einschätzen sollen. Denn ein guter Professor, der die Studenten fördert und etwas von ihnen erwartet, ist vielleicht auch nicht das, was sie sich wünschen. Das wäre ja Arbeit. Studenten wollen in der Regel Scheine, nicht Wissen. Wenn man sich klar macht, wie Professoren mit ihren eigenen Konflikten die Studenten negativ prägen können, dann scheint das Thema der Familienprobleme plötzlich gar nicht mehr so privat und diskret, sondern sehr handfest. Ja, es war eine kleine destruktive Scheinwelt in der Universität und eigentlich wusste das auch jeder. Aber es hat nie jemand laut darüber gesprochen.

(2) Lisa: Hallo Ozzy, hallo Leute, ja, der Song SOME SPACE gefällt mir ganz gut, und ich hoffe wirklich, dass du bald wieder eine Platte machen kannst. Ich würde gerne wissen, was du damit meinst, wenn du sagst, du müsstest die „andere Seite“ zeigen, „das Nichts“. Ich habe eine Ahnung, was das bedeuten könnte, aber ich bin nicht sicher.

(3) Simon: Ein bemerkenswertes soziologisches Phänomen ergab sich bei der Einführung des Euro. Zunächst waren die Deutschen skeptisch, weil es eben etwas Neues war. Wir wissen ja schon, dass unsere Landsleute nicht so für das Neue sind. Schon am ersten Tag der Euro-Einführung änderte sich aber das Bild. Plötzlich sprach man von „Europhorie“ statt von „Europhobie“. Uli Wickert erklärte das in den Tagesthemen so: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Mit diesem von Karl Marx übernommenen Wort meinte Wickert, dass die Tatsache der Euroeinführung dazu führt, dass man ihn nicht weiter ablehnt. Der Börsenkommentator stimmte mit ein und sprach von der „Einsicht in das Unvermeidliche“.

Ich selbst habe nichts gegen den Euro, ich will hier nicht die Euro-Akzeptanz kritisieren. Was ich kritisiere, ist der Hintergrund dieser Akzeptanz. Natürlich ist es nicht für alle die „Einsicht in das Unvermeidliche“, das ist klar, aber ein bisschen wird es schon so sein, sonst hätte die Presse das gar nicht so formuliert. Aber was für ein böses Wort ist das! Einsicht in das Unvermeidliche. Du kannst es nicht ändern, also mach eine gute Miene, und mach das Beste aus der gegebenen Situation. Beim Euro mag das gehen, bei Naturkatastrophen auch. Und bei der Vertrauensfrage? Auch? Bei der sogenannten Terrorbekämpfung auch? Was ist unvermeidlich, das, was die Regierungschefs sagen? Ja, leben wir denn nicht in einer Demokratie? Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Ein gefährlicher Satz. Und werden wir die Wirtschaftskrise auch als etwas Unvermeidliches behandeln? Und was war bei der Einführung des Nationalsozialismus 1933, war das auch das Sein, dass das Bewusstsein bestimmt?

(4) Guido A.: Hier ist eine Anmerkung zum Thema „Innenwelt“, das Herr Hofstaedter in der 54. Nachricht erwähnt hat. Und zwar gab es eine Zeit, in der ich mir vorgestellt habe, ich sei die einzige reale Person in der Welt. Ich ging durch die Straßen, und die ganzen Passanten kamen mir vor wie Statisten in meinem persönlichen Film. Ich fühlte mich dadurch ziemlich stark. Vielleicht hat das etwas mit der gesellschaftlichen Entfremdung zu tun. Als Schüler war ich politisch aktiv, ich bin auch als Schulsprecher und ein paar Mal wegen zivilen Ungehorsams aufgefallen. Aber es ging irgendwann nicht mehr weiter. Das lag weniger am Establishment, als daran, dass meine Mitstreiter irgendwann genug hatten, und ich nicht mehr wusste, für wen oder was ich mich eigentlich aus dem Fenster hänge, denn es bewegte sich nicht wirklich etwas. Ich habe daraus die Lehre gezogen, dass es besser ist, die Finger von gesellschaftlichen Fragen zu lassen, denn man bekommt dadurch viele Nachteile in der eigenen Umgebung. Es ist ja nicht das Establishment, sondern es sind die eigenen Freunde, mit denen man es sich verscherzt. Und wenn man dann allein ist, kann man erst recht nichts mehr verändern. Besser erscheint es mir daher, das System von Innen zu bekämpfen, nicht von Außen.

(5) Alexandra M.: Also, Alexandra M. ist nicht mein richtiger Name. Ich könnte sogar ein Mann sein und mir nur einen weiblichen Namen zugelegt haben. Zur Sache: Ein Freund hat mich auf die Beiträge von Tom Sawyer aufmerksam gemacht. In seinem zweiten Beitrag schrieb Tom, dass er mit seinem Bruder eine große PR-Agentur hat. Nun, zufällig arbeite ich in einer großen PR-Agentur, und der gute Tom Sawyer könnte daher zusammen mit Huckleberry Finn mein Chef sein, wer weiß das schon? Da bei uns etwa 50 Leute arbeiten, dürfte er eigentlich nicht herauskriegen können, wer ich bin. Das ist sicher ein lustiges Spiel.

Es handelt sich bei uns um eine moderne und erfolgreiche Agentur, und das Betriebsklima ist eigentlich ziemlich gut. Es wird viel gearbeitet, aber auch viel gelacht. Die Erfolgsgeschichte meines Chefs und der Firma ist wirklich beeindruckend. Vieles von dem, was Tom Sawyer gesagt hat, hat mir zwar nicht gefallen, aber ich respektiere seine Offenheit und will mich gar nicht damit aufhalten. Mein Beitrag betrifft ein kleines Detail, das Tom nicht erwähnt hat.

Und zwar arbeiten wir jeden Freitag eine Stunde länger, als wir bezahlt werden. Als ich anfangs die Anderen fragte, was es denn damit auf sich hat, antworteten sie, dass das einfach so sei, und dass es alle betrifft. Da ich einen vollen Job bekommen habe, der mir auch sehr gut gefällt, habe ich mich nicht weiter darüber aufgeregt. Was solls? In anderen Firmen soll es auch so sein. Allerdings merke ich, dass diese Angelegenheit dazu geführt hat, dass ich mit der Zeit misstrauisch geworden bin, denn um in der Firma akzeptiert zu sein, muss man dieses kleine Unrecht hinnehmen. Dadurch arbeiten bei uns nur solche Leute, mit denen man „kleine Unrechte“ machen kann. Denn wer die unbezahlte Stunde hinnimmt, von dem ist kaum zu erwarten, dass er größere Kritik am Chef üben wird. Wir sind also alle geeicht worden. Heute erinnert mich das an die Streubomben-Geschichte: Die Amerikaner haben damit ihre Verbündeten geeicht. Ein Verbündeter, der international geächtete Waffen einsetzt und damit durchkommt, hat eine sehr starke Position. Was sagt Tom Sawyer denn dazu?

Redaktion in Kiel, 05.01.02

Nächste Nachricht >>


+++ ROCK'N'ROLL +++ NACHRICHT VON OZZY BALOU +++ EINE REKONSTRUKTION +++
hoch
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)