(1) Marco H.: Seit einer Woche bin ich jetzt in diesem Selbstversuch, bei dem eine imaginäre Kamera über meinem Kopf schwebt, die all meine Handlungen aufzeichnet, und ich möchte einen Zwischenbericht abliefern, denn ich bin zu erstaunlichen Wahrnehmungen gekommen. Zur Erinnerung: Es geht mir darum, die Grenzen zwischen privat und öffentlich zu erforschen. Privat heißt ja oft nichts anderes als unbeobachtet. Wenn man nun seine Privatsphäre Big-Brother-mäßig ausschaltet, dann fällt einem erst auf, was „privat“ eigentlich für einen bedeutet.
Zunächst sind es vielleicht die Handlungen der Sexualität und der Körperpflege, die man als privat bezeichnet. Das sind Dinge, bei denen man sich normalerweise nicht öffentlich zeigen würde. Es war zuerst ein ziemlich komisches Gefühl, mir vorzustellen, zum Beispiel unter der Dusche beobachtet zu werden oder beim Naseputzen. Ich fühlte mich verletzlich und unsicher. Auch genervt. Dann habe ich mir klar gemacht, dass dies völlig alltägliche und normale Handlungen sind, die jeder durchführt, und wegen denen man sich nicht schämen muss. Daraus entstand eine Art von trotziger Gleichgültigkeit gegenüber der imaginären Kamera. Dennoch: Der Selbstversuch hat dazu geführt, dass ich viel wacher bin als sonst und mich zusammenreiße, mich nicht gehen lasse.
Seit zwei Tagen nun spüre ich eine neue Art von Würde bei der Verrichtung privater Handlungen aus diesem Bereich, und mir wird deutlich, dass man eigentlich alles zeigen kann, wenn man diese Würde besitzt. Oh bitte, versteht mich nicht falsch! Am letzten Freitag beim Treffen sagte mir jemand grinsend, dass ich mich wohl auf dem Weg zum Exhibitionismus befinde. Nein, das ist überhaupt nicht der Fall. Ich tue diese Dinge ja nicht wirklich öffentlich, sondern stelle es mir nur vor, um daraus Wissen zu erhalten.
Kann ich diese neue Art von Würde beschreiben? Ich glaube, ja. Es ist eine Mischung aus königlichem und tierischem Verhalten. Tiere haben bekanntlich keine Privatsphäre. Sieht man sich Tierfilme an, bemerkt man eine gewisse Art von natürlicher Würde bei Tieren. Sie sind einfach, wie sie sind und tun, was sie tun, ohne verunsichert zu sein oder sich zu schämen. Königlich deshalb, weil ich ein besseres Bewusstsein über meinen Körper gefunden habe, und weil sich im Laufe der Tage eine Eleganz meiner Bewegungen ergeben hat, die sich am Beobachtetwerden ausgerichtet hat. Um ein ganz triviales Beispiel zu geben: Ich habe damit aufgehört, an den Fingernägeln zu kauen, was ich früher manchmal tat. Ich will ja „meinen Film“ nicht durch unschöne Szenen verderben. Daraus ergab sich aber erstaunlicherweise ein inneres Wohlgefühl, das ich so zuvor nicht kannte.
Als bisheriges Fazit kann ich deshalb festhalten, dass die Aufhebung des Unterschieds zwischen Privatem und Öffentlichem (die ich nur privat betreibe) mir Energie und ein neues Verständnis von Würde gebracht hat. Ich bin jetzt eine Art gläserner Mensch und fühle mich so, als hätte ich nichts zu verbergen. Nein, ich habe nichts zu verbergen, das ist es. Es ist ein gutes Gefühl, das viele Ängste verschwinden lässt. Ich bin gespannt darauf, wie es in der nächsten Woche sein wird.
(2) Hartmut R.: Mit zunehmender Begeisterung lese ich seit einigen Wochen die Chronik, und das nicht nur, weil ich selbst ein großer Elvis-Fan bin. Ihr macht hier wirklich etwas Neues und stellt Fragen, die schon lange überfällig sind.
Ich arbeite als Moderator und Redakteur bei Radio Dora, einem der wenigen Radiosender, die regelmäßig Elvismusik und Rock'n'Roll spielen, denn es ist zeitlose Musik, und die hat immer einen Markt. Ozzy kenne ich flüchtig von früher, noch aus den Zeiten, als er das Elvis-Magazin abonniert hatte, das ich mit ein paar Freunden in den 80ern aufgebaut hatte, und von ein zwei Songs. Begegnet bin ich ihm allerdings noch nicht.
Bemerkenswert fand ich bei der Lektüre der Chronik unter anderem den Gedanken, dass Elvis eine Antithese zu Hitler bildet, indem er die Wünsche der Menschen aktiviert hat, so wie Hitler die Ängste aktiviert hat. Ob allerdings eine neue Ära des Rock'n'Roll bevorsteht, wie Bob Dylan in SUMMER DAYS andeutet und wie Ozzy sagt, weiß ich nicht so genau. Die Möglichkeit besteht aber. Natürlich wäre es nicht so wie 1956, als Elvis und Little Richard, Chuck Berry und Buddy Holly, Eddie Cochran und Gene Vincent, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis die Welt verändert haben, es wäre sicher eine zeitgemäße Form. Dass die Idee des Rock'n'Roll aber bei uns in Deutschland nie richtig angekommen ist, würde ich auch so sehen, und das hat sicher etwas mit dem Thema Personenkult zu tun, das Jürgen H. in der 25. Nachricht erwähnt hat. Es ist ja auch kein Zufall, dass Elvis Amerikaner war.
Das Paradoxe ist, dass es bei uns eigentlich eher die Konservativen sind, die Leute richtig pushen können. Die Linken haben eine Art natürliche Abneigung gegen große Personen, eben wegen Hitler, und sie sind meiner Ansicht nach auch prinzipiell misstrauischer. Die Konservativen werden allerdings den Teufel tun. Sie würden niemals den Rock'n'Roll pushen, denn sie stehen auf der Seite des Establishments. Insofern sehe ich da wenig Bewegung. Wenn ihr nun aber ohnehin sagt, dass die Unterscheidung zwischen Links und Rechts überholt ist, ihr stattdessen die Progressiven gegen die Konservativen stellt und auch noch sagt, dass jeder von uns Elemente dieser beiden Mentalitäten in sich hat, dann sieht das schon wieder anders aus. Ich jedenfalls wäre froh darüber, wenn etwas vom Lebensgefühl der 50er und der 60er wiederkehren würde, vor allem bei uns in Deutschland. Dann wäre endlich mal was los hier! Morgen ist übrigens Elvis' Geburtstag, und da werden wir wieder ein paar seiner Hits auf Radio Dora spielen. Die ganz langen Elvissendungen bringen wir jeweils an seinem Todestag am 16.08.
(3) Claudia A.: Nach längerer Abwesenheit habe ich mal wieder in diese komische Chronik gesehen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich in der Personenliste eine „nörglerische Pazifistin“ genannt werde. Was soll das eigentlich heißen? Wollt ihr mir vielleicht auf die Nerven gehen? Außerdem hatte ich euch doch viel Glück gewünscht, ist das vielleicht nörgeln? Das ist doch wieder typisch! Nur, weil ich keine hundertprozentige Unterstützung für dieses Projekt zeige, werde ich niedergemacht. Daran kann man sehr gut sehen, dass ihr genauso eine Doppelmoral habt, wie die Leute, die ihr kritisiert. Denn ihr selbst lasst euch auch nicht kritisieren. Blöde Chronik!
(4) Klaus K.: Langsam gewinne ich den Eindruck, dass bei uns das Nazitum immer noch tabu ist. Zwar wird dauernd darüber geredet, und das Fernsehen zeigt oft Dokumentarfilme über Hitlers Helfer und die große Flucht und all diese Dinge, aber wenn man mal genauer hinsieht, dann fallen einem doch ein paar Sachen auf. Wenn nämlich über den Nationalsozialismus gesprochen wird, dann gibt es drei Varianten:
Entweder bleibt es auf der historischen Ebene stehen. In diesem Fall wird klar gemacht, wie böse Hitler war und die Nazis damals. Das ist bestimmt nicht verkehrt, denn es gibt durchaus ein historisches Wissensdefizit im Volk. So ist zum Beispiel die Wehrmachtsausstellung wichtig, denn selbst einige Wehrmachtssoldaten hatten nicht gewusst, welche Untaten von der Wehrmacht ausgegangen sind, und nicht nur von der SS. Insgesamt hat es aber nur mit faktischer Geschichte zu tun, das heißt, dass es die allermeisten Deutschen gar nicht in ihrem Leben betrifft. Die Kritik zielt auf verstorbene Personen und eine kleine Minderheit von Alten.
Oder man bezieht den Nationalsozialismus auf die sogenannte Rechte Szene, die Neonazis und die Extremen also. Dadurch schiebt die Gesellschaft die Problematik auf eine Minderheit, die sich am Rand der Gesellschaft aufhält. Auch das hat seine Berechtigung, denn Rechtsradikalismus ist natürlich ein Problem, besonders in den Neuen Bundesländern. Eine Aufarbeitung würde ich das aber bestimmt nicht nennen, auch keine Aufklärung. Für viele Politiker sind die Neonazis auch ein bequemes Alibi, mit dem sie ihre Anti-Nazi-Gesinnung zur Schau stellen und damit Punkte bei den Wählern gewinnen können.
Oder aber man projiziert den Nazi-Faschismus in andere Länder und Kulturen. So wie Enzensbergers „Saddam ist Hitler“ oder jetzt naürlich „Bin Laden ist Hitler“ oder „die Taliban nach dem Elften September sind Hitler“. Dann kann man noch ein „Arafat ist Bin Laden“ dazustellen und so weiter. Das machen nicht nur Deutsche, aber auch Deutsche. Selbst das berühmte „Nie wieder Auschwitz“ von Außenminister Joseph Fischer gehört in diese Kategorie. Ich denke, diese dritte Art ist die perfideste, weil zum Beispiel Fischer damit neue Kriege und Gewalt legitimiert.
Ein Bezug zur heutigen Gesellschaft aber fehlt. Die Mechanismen des Faschismus, die zum Erfolg des Nationalsozialismus geführt haben, kamen ja aus der breiten Masse des Volkes und nicht von irgendwelchen Extremen. Der normale Deutsche war damals ein Nazi. Warum das so war, und ob davon noch Reste bei uns selbst, mitten im Alltag, zu spüren sind, wird nicht gefragt. Insofern ist Hitler bei uns tabu. Niemand würde im Entferntesten auf die Idee kommen, dass unser tägliches Unrecht und die tägliche Gewalt in einem Zusammenhang mit der deutschen Vergangenheit stehen könnte. 1933-1945 wird vielmehr als eine Ausnahmeperiode angesehen. Mit anderen Worten: WIR würden so etwas nie tun. Bei UNS kommt so etwas nicht vor. ICH habe keine Juden umgebracht.
Schön und gut, aber vor den Konzentrationslagern stand die Gleichschaltung und die strenge Hierarchie, die Überheblichkeit und die Zucht und Ordnung. Viele der Prä-Gewalt-Faktoren, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, und die für sich genommen einigermaßen harmlos sind, bestehen aber auch heute. Eine Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit muss also bedeuten, diese Prä-Gewalt-Faktoren zu bestimmen und unsere Gesellschaft systematisch danach zu durchsuchen. Dabei würden aber bestimmt einige Leute belastet, die sich heute noch zum Beispiel hinter dem Schutzmantel der Neonazi-Bekämpfung verstecken können. Wahrscheinlich bedarf es eines neuen Geschichtsbildes, denn es ist bekannt, dass die Maßstäbe setzenden deutschen Historiker – ebenso wie die Juristen – konservativ bis sehr konservativ sind und ein Interesse daran haben, das Establishment zu stützen, also Deutschland nicht durch Kritik zu beschmutzen.
(5) Marion C.: Nach dem, was Zoltan in der 55. Nachricht zum Thema Kreativität und Wahn gesagt hat, frage ich mich, ob die Angst vor dem Wahn in der Gesellschaft so groß ist, dass die Kreativen, bzw. das Kreative in uns selbst, systematisch unterdrückt werden. Was Kreativität und Wahn gemein haben, ist die Kontrolllosigkeit oder Unkontrolliertheit. Wir hatten ja bereits festgestellt, dass Inspirationen meist aus einer Trance geboren werden, die nur durch Kontrollverlust zu Stande kommt. Kontrolle vermittelt aber, wie wir ebenfalls gesehen haben, bei den meisten Leuten ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Motto: Was ich kontrolliere, kann mir nicht gefährlich werden. Dieser Gedanke liegt ja auch der „Terrorbekämpfung“ zu Grunde. Man kann das bestimmt das Kontroll-Fraktal nennen, denn es ist auf allen Ebenen zu finden, sogar auf der individuellen. Wenn sich jemand von den gewohnten Handlungsmustern entfernt, bekommt er Angst, es entsteht eine Unsicherheit.
Kontrolle schafft Sicherheit. Stimmt das? Und was ist Sicherheit? Ist es die körperliche und psychische Unversehrtheit, ist es Geld, ist es die Gemeinschaft? In meiner Welt hat Sicherheit keinen so hohen Stellenwert. Sie kommt auch für mich eher nicht durch Kontrolle zu Stande, sondern sie kommt von Innen. Oder aber, sie entsteht durch Vertrauen. Bei meinen Freunden fühle ich mich sicher, weil ich ihnen vertraue. Ich kenne sie. Ich habe Erfahrungen mit ihnen gemacht. Kontrollverlust ist jedenfalls nicht gleichbedeutend mit Sicherheitsverlust, außer beim Autofahren und bei vergleichbaren Dingen. Ich denke, hier liegt der Knackpunkt unseres Diskurses. Ich glaube, wir kämpfen hier für ein Kontrollminimum, welches zu beschreiben uns dazu führt, die größtmögliche Freiheit zu erreichen – individuell und gesellschaftlich – und die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie uns konstruieren, um in einer trügerischen Sicherheit zu leben.
Redaktion in Kiel, 07.01.02
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