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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Marwan J.: Es ist ungewohnt für mich, dass normale Deutsche sich mit Glaubensfragen befassen. Bei uns Orientalen kommt es in Alltagsgesprächen recht häufig vor, dass man über Gott spricht. Meistens bleibt es allerdings sehr weit an der Oberfläche und beschränkt sich auf Redewendungen. Aber der Islam gehört viel stärker zu unserer Kultur als das Christentum zum Westen. Das liegt zum einen daran, dass auch das Christentum aus dem Osten kommt. Wir sind im Orient näher am historischen Geschehen. Jeder Prophet von Rang und Namen ist zum Beispiel irgendwann in seinem Leben durch Palästina gelatscht. Es liegt aber auch daran, dass wir Glaubensfragen nicht so von den gesellschaftlichen Fragen abkoppeln.

Der Westen ist sehr stolz auf seine Aufklärung und die Trennung von Kirche und Staat. Wenn man mal nachfragt, merkt man auch, dass diese Trennung im Westen als eine wesentliche Komponente der Aufklärung verstanden wird. Europa hatte im Mittelalter einige Probleme, weil die Kirche sich – nach meiner Meinung – mehr und mehr vom Glauben Jesu entfernt hatte und als erstes nach Macht strebte. Die Hierarchie einer Kirche, die sich Land und Leute einverleibte und einen Papst als „Stellvertreter Gottes auf Erden“ einsetzte, war eigentlich von vornherein nicht kompatibel mit den Ideen Jesu. Jesus hat auch selbst keine Kirche oder so etwas begründet oder angestrebt, so weit ich weiß. Mit den konformistischen kirchlichen Strukturen war es schwer möglich, ein Gott gefälliges Leben vorzuleben. Das ist jedenfalls meine Meinung. Die Macht der Kirche war nicht die des Glaubens, sondern die einer starken politischen Partei. Einer Partei allerdings, die ihre eigenen Maßstäbe hatte, und die also nicht in einer gleichberechtigten Konkurrenz zu anderen Parteien stand. Die Kirche hatte Dogmen und damit einen Absolutheitsanspruch. Luther hat sie dann von diesem Ross geholt, indem er die Bibel aus dem Lateinischen übersetzte. Das war eine Aufklärung im wahren Sinne, denn Luther hat den Glauben entmystifiziert. Zwischen Gott und dem Gläubigen sollte keine Instanz stehen.

So etwas hat es im Islam nicht gegeben, denn dort gibt es keine Kirche in diesem Sinne. Es gibt die 90 %-Merheit der Sunniten, dann gibt es die Schiiten, und dann noch einige ganz kleine Gruppen. Die Schiiten hatten sich kurz nach dem Tod von Muhammad abgespalten, weil sie Ali und seine Familie als Kalifen wollten. Durch die lange Geschichte haben sich dann kulturelle Unterschiede zu den Sunniten herausgebildet, aber die Prinzipien des Glaubens und auch die der Rechtsprechung waren nicht grundverschieden. Auch im Islam aber wurden die politischen Entscheidungsträger nicht vom Volk gewählt, sondern aus dem System hervorgebracht, ähnlich wie in der christlichen Kirche. Dadurch wurde – ähnlich wie in der Kirche – der Pluralismus unterdrückt.

Es ist aber falsch, wie Herr Thierse für einen „Euro-Islam“ zu plädieren, der Staat und Religion trennt wie in Europa. Ich habe sehr lange über dieses Problem nachgedacht. Nach meiner Meinung müssen die Leitlinien in der Politik einer Moral folgen. Immerhin ist die Führung eines Staates eine der verantwortungsvollsten Berufe überhaupt. Wenn ich höre, dass ein Politiker religiös ist, oder ein Journalist, dann höre ich dem eher zu als anderen.

Der Westen hat große Angst davor, dass nun die Kirchen doch Recht gehabt haben könnten. Oder, dass der Wert dessen, was man „die Aufklärung“ nennt, gar nicht so groß ist, wie man gemeinhin annahm. Was steht denn hinter der Trennung von Staat und Kirche? Was genau wurde da getrennt? Auf der politischen Ebene wurde ein konkurrierendes System ausgeschaltet, das wegen seiner Starrheit notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen im Weg stand. Auf der gesellschaftspsychologischen Ebene dagegen wurde der Staat als Verkörperung des Menschen (und nicht mehr Gottes) erfunden. Das klang alles sehr gut und war damals auch progressiv, denn Gottes Name ist oft missbraucht worden, und das Volk wurde manipuliert und ausgenutzt. Dieser Mensch nun war – anders als Gott – kontrollierbar. Wenn der König einen Fehler machte, oder später der Präsident oder sogar das Parlament, dann konnten sie sich nicht mit Dingen herausreden, die das Volk nicht sehen konnte, Dinge, die mit Gott zu tun haben. Auch Luther wollte ja, dass die Leute nachvollziehen können, was auf Erden geschieht. Emanzipation.

Nun war also der Mensch das Maß aller Dinge. Man konzentrierte sich auf die exakten Wissenschaften und warf all die lästigen Vormundschaften der Kirche nach und nach ab. Als dann Darwin und Freud kamen, sah man sich bestätigt darin, dass Gott nicht notwendig ist, um selbst die schwierigen und bis dato metaphysischen Fragen mit diesem neuen menschlich-wissenschaftlichen System zu beantworten. Eine Frage der Zeit, so dachte man, und so denken viele bis heute. Nietzsche hat den Westen ein bisschen in Verlegenheit gebracht, und damit meine ich im wesentlichen den „Zarathustra“. Für ihn war der Übermensch das Maß der Dinge. Seit langer Zeit hatte niemand mehr die Gottesfrage mit einer solchen Virulenz gestellt. Im Orient ist Nietzsche sehr bekannt. Er hat dort eine ähnliche Stimme wie der arabische Schriftsteller Gibran Khalil Gibran. Beide lebten vor etwa hundert Jahren.

Während der Orient sich heute meiner Ansicht nach einem ähnlichen emanzipatorischen Prozess stellen muss wie der Westen in der Aufklärung – also die Frage nach dem Dogma klären muss -, muss der Westen heute darüber nachdenken, was die Trennung von Kirche und Staat psychologisch in den Menschen ausgelöst hat, und wo es zu weit ging. Abgetrennt wurde nämlich der Glaube als politischer Wert. Man hat nicht nur die Kirche aus dem Politischen weit herausgebracht (was angemessen war), sondern fast alles Spirituelle. Es muss einen psychologischen Grund haben, dass der Westen gerade im Glauben des Islam solch eine Gefahr sieht. Er sieht sich dort selbst, einen Teil von sich, den er verleugnet, sonst würde er nicht so heftig darauf reagieren. Es scheint mir immer mehr so, dass Orient und Okzident jeweils sehr viele Antworten für den anderen bereit halten, dass man sich aber nicht zuzuhören gewillt ist, weil man sich nicht mag.

(2) Sandra S.: Ich möchte mich entschuldigen für das, was mein Vater in der letzten Nachricht gesagt hat. Er hat mit Ozzy seine Erfahrungen gemacht, und deshalb reagiert er so. Aber ich habe ihm gesagt, dass er das nicht machen kann. Dass solche Reaktionen genau das zeigen, wogegen Ozzy kämpft. Ich habe deshalb gestern lange mit meinem Vater geredet und ihm gesagt, dass ich heute für die Chronik schreiben werde. Ich muss mich hier klar auf Ozzys Seite stellen. Ozzy hat die Gewalt nur gezeigt, er hat sie nicht verübt. Ich habe meinem Vater gesagt, dass er in Ozzys Beitrag keine Gewalt entdeckt hat, sondern dass er in den Spiegel gesehen hat.

(3) Marco H.: Das Privat-Öffentlich-Spiel hat mich sehr viel weitergebracht. Ich habe inzwischen aber damit aufgehört. Es ist tatsächlich etwas gefährlich. Auf einer Hippy-Insel wäre es sicher denkbar ungefährlich, auch bei den BLUESLAND-Leuten, die sich freitags bei Maria treffen, aber im Dschungel der Großstadt sieht das etwas anders aus.

Aber ich will vorne anfangen: Den Selbstversuch mit der imaginären Kamera hatte ich also fortgeführt. Seit letzter Woche befand ich mich in einem Zustand von großer Wachsamkeit und auch einer neuen Lebensfreude. An einem bestimmten Punkt schien sich etwas in mir zu öffnen. Eine Art von Energie, die in mir gefangen war, schien gegen eine Tür zu drücken, gegen einen Damm, und je weiter das Gläserne-Mensch-Experiment ging, desto vehementer wurde dieser Druck, den ich als gewaltig erkannte, ohne ihn recht einschätzen zu können. Ich bekam Angst. Ich rationalisierte diese Angst, und sie hatte keinen Bestand. Also machte ich weiter.

Sibylle J. hat mich gefragt, ob ich es mir tatsächlich so gut vorstellen kann, von einer Kamera beobachtet zu werden, oder ob es doch anders wäre, wenn ich wirklich im Big-Brother-Container säße. Nun, in der meisten Zeit kann ich es mir wirklich so gut vorstellen. Vielleicht kann das nicht jeder, ich weiß es nicht. Im Grunde fühlte ich mich wie ein Schauspieler. Ich inszenierte zunehmend meine Handlungen, das war eine Folge der Bewusstmachung. Inszenierung ist so etwas wie Veredelung, Sinngebung, aber auch Vereinfachung. Sie führt zu weiterer Bewusstmachung. Ich habe mir auch vorgestellt, dass Gott diese Kamera ist, um zu sehen, wie ich darauf reagiere. Es hat aber wenig verändert. Ich habe irgendwie gedacht: Warum sollte ich mich ausgerechnet vor Gott verstecken müssen, wenn ich mich sogar den Menschen zeige? Gegen Ende des Experiments, das mein Leben verändert hat, war ich aber selbst die Kamera. Ich habe mich selbst beobachtet. Seitdem verstehe ich, was das Gewissen ist.

Was nun aber die Erfahrungen mit der Außenwelt angeht: Mein Versuch hatte zur Folge, dass meine Sinne enorm geschärft wurden. Mein Alltag war (und ist) angefüllt mit Ereignissen und Sinn, es ist nie langweilig. Mein Unterbewusstsein und mein Bewusstsein haben sich weit angeglichen, es ist schwer, das zu erklären. Es hat jedenfalls dazu geführt, dass ich mit großen Energiemengen umgehe. Wenn ich so unter Leute gehe, falle ich auf. Man kann mich nicht verstehen. Ich musste einige Gänge herunterfahren, um mich gesellschaftlich nicht zu isolieren.

(4) Jens K.: Es wurde gesagt, dass es wichtig ist, die Begriffe zu untersuchen, die mit dem Gewaltbegriff verbunden sind, und ich habe über den Begriff „Opfer“ nachgedacht. Vielleicht ist es einfach schwer, Opfer ernst zu nehmen. Wenn du ein Opfer bist, dann haben die Leute Mitleid mit dir, oder sie glauben dir nicht. Aber sie stellen sich auf jeden Fall über dich. Als Opfer hat man dir ja etwas weggenommen, du kannst dann nicht stark sein. Du bist von der Gunst der herrschenden Nichtopfer abhängig. Herrschende sind niemals Opfer. Nehmen wir die Zwangsarbeiter aus der Nazizeit. Natürlich sind wir alle auf ihrer Seite. Aber wie stellen wir sie uns vor? Als arme kaputte Leute. Man will nicht ihr Freund sein, denn sie stehen für Schwäche. Sie wurden ja von anderen unterdrückt. Also sind die Anderen stärker gewesen. Die Zwangsarbeiterentschädigung wurde daher auch von vielen als nervig betrachtet. (Wann hört das endlich auf mit diesen ewigen Zwangsarbeitern!)

Wenn ein starker selbstbewusster gesunder Mensch daherkommt, einer mit Energie, und der sagt, er sei ein Opfer, dann ist er automatisch unglaubwürdig. Opfer haben klein und winselnd zu sein. Sie lachen nicht. Sie müssen traurig sein, weil sie Opfer sind. Sie müssen dankbar sein, wenn sie angehört werden. Sie mucken nicht auf, sondern müssen von der Gesellschaft als Opfer erst entdeckt werden. Wer Gewalt erfährt, wird somit doppelt bestraft, einmal von der Tat, und dann von der Gesellschaft, die ihn oder sie in eine Rolle presst. Für Täter gilt das übrigens nicht. Die Richter und Lehrer und Führungskräfte aus der Nazizeit zum Beispiel konnten hinterher weiter in ihren Berufen bleiben. Oder der Täter Scharon, er hat es bis an die Spitze eines Staates gebracht.

(5) Christine B.: Ich frage mich schon so zwischendurch, wer eigentlich öffentlich Leute kritisieren darf. Klar, Politiker machen das, die vertreten ja auch das Gewaltmonopol, oder Journalisten, denn jemand muss die Politiker kontrollieren, aber Einzelpersonen? Eigentlich müsste Ozzy eher zur Polizei gehen, aber strukturelle Gewalt kann man nicht zur Anzeige bringen, das sehe ich ein. Es ist verzwickt. Und soll das aber nun die Idee des Rock'n'Roll sein, dass man auf diese wütende Weise sein Recht auf strukturellen Frieden einklagt?

Redaktion in Kiel, 15.01.02

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