(1) Mo: Die Chronik hat eine Form angenommen. Es scheint so, als würde es fünf oder zehn zentrale Fragen geben, an die wir uns annähern. Fraktale Fragen. Das meiste, was hier zusammengetragen wird, ist nämlich auf verschiedenen Ebenen relevant. Die Gewaltfrage zum Beispiel ist zentral im Fall BLUESLAND, im Fall Ozzy, in der Gesellschaft und in der Weltpolitik. Wenn wir sehen, dass es in der Weltpolitik die Gewalt ist, die zu Veränderungen führt, dann brauchen wir uns eigentlich nicht zu wundern, wenn es innenpolitisch genauso läuft. Anders als die Weltpolitik betrifft uns aber der Fall Ozzy Balou unmittelbar, denn Ozzy ist einer von uns. Es gibt zweierlei Maß, einmal das Maß für Situationen, die weit weg sind, und dann das für die Situationen, an denen wir direkt beteiligt sind.
Wenn ich es richtig sehe, ist die Gegenüberstellung von Angstdenken und Wunschdenken der Kern unserer Überlegungen. Wenn wir feststellen, dass es in Deutschland und auch anderswo nur sehr schwer möglich ist, seine Persönlichkeit zu entfalten und einen starken Charakter zu entwickeln, dann finden wir die Antwort wohl im vorherrschenden Angstdenken.
Natürlich ist das Establishment nicht gegen Wünsche. Wünsche sind schon ein Wert. Nur ist der sehr relativiert. Die Logik des Establishments scheint zu sein: Bevor wir daran gehen können, unsere Wünsche zu formulieren und zu verwirklichen, müssen wir erst sicherstellen, dass wir keine Ängste mehr zu haben brauchen. Das konvergiert mit Bushs Denkschema: Erst müssen alle Terroristen ausgeräuchert sein. Safety first. Das klingt logisch. Aber dieses Denken verändert uns. Es macht uns misstrauisch, und unsere Ängste werden größer, selbst wenn alle paar Tage mal einige al-Qaida-Leute verhaftet werden. Man kann eben nicht sicherstellen, dass Ängste unnötig sind. Mit dem Mittel der Kontrolle jedenfalls geht es nicht, denn die Ursache der Angst ist nicht al-Qaida. Die ist nur die Manifestation der Angst. Ursache der Angst sind vielmehr Schuldgefühle, denn natürlich wissen die Amerikaner, dass viele darunter leiden mussten und müssen, dass die USA zunehmend und für jeden sichtbar die Welt dominieren und für ihre Zwecke benutzen.
(2) Klaus K.: Das Internet scheint mir eine der besten Voraussetzungen zu sein, um gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen. Nicht nur, weil Leute wie in dieser Chronik sich eine öffentliche Platform schaffen können, sondern auch, weil es das gesamte Pressewesen revolutioniert hat. Nachrichten sind jetzt zum Beispiel schneller verfügbar. In letzter Zeit surfe ich gerne gegen 23 Uhr im Netz und gehe die Zeitungen von morgen durch. Das ist ja völlig unkompliziert. Und das mache nicht nur ich so, es ist eine große und interessante Subkultur. Ich wähle zum Beispiel zehn Zeitungen aus und kann mir innerhalb von einer halben Stunde ein Bild davon machen, worüber man morgen sprechen wird. Ich muss nicht einmal in den Laden gehen dafür.
Es ist heute auch für Einzelpersonen viel leichter, am allgemeinen Diskurs teilzunehmen, ja, der allgemeine nationale Diskurs wird durch den Online-Journalismus viel greifbarer. Auch deshalb, weil man innerhalb des Mediums unmittelbar und zeitnah antworten kann. Wenn der Journalist eine Email-Nummer angibt, kann man ihn – und damit den Urheber des Textes – ohne Umwege erreichen. Das Verhältnis zwischen Autor und Leser konkretisiert sich. Das ist sogar einer der wichtigsten Vorzüge des Internet-Journalismus, denn es regt den Diskurs an. Es sollte zur Etikette gehören, dass man auf Internet-News mit dem Urheber direkt kommunizieren kann.
Ebenso bedeutend ist die epistemologische Bedeutung des Online-Journalismus. Eine Internetzeitung ist ja ein ganz anderes Medium als eine Tagezeitung. Eine Zeitung kann ich in die Hand nehmen, sie ist etwas Materielles, sie hat ein Gewicht und einen Handelspreis. Ein Exemplar ändert sich auch nicht, während ein Online-Journalist im Prinzip frei ist, einen Artikel nachträglich zu verändern. Eine Zeitung kann man aufbewahren und später für ein Zitat wieder hervorholen. Vor allem aber: Das Exemplar einer Zeitung hat eine bestimmte Autorität. Wenn etwas in der FAZ gestanden hat, dann ist der erwartete Wahrheitsgehalt größer, als wenn etwas auf einem einfachen Blatt Papier steht.
Jemand hat hier einmal scherzhaft gesagt, dass das Argument als Mittel der Rhetorik heute an Wert gewinnt. Ich denke, man kann das an den Online-Journalisten ganz gut sehen. Noch immer gelten sie in der Szene ein bisschen als Schmuddelkinder, weil die Online-Zeitung noch nicht die Respektabilität einer traditionellen Zeitung hat. Sie gilt als flüchtig und fahrig, während die Zeitung schwarz auf weiß druckt und ein klares materielles Archiv (Gedächtnis) hat. Die Online-Zeitungen haben dagegen den großen Vorteil, dass sie durch ihre Aktualität schneller sind als die Zeitungen und daher auch schneller zitiert werden können. Sie sitzen am Herzschlag der Nachrichten, da, wo sie noch warm sind. Auch, wo sie noch formbar sind. Der Ehrgeiz des Online-Journalisten liegt darin, zitiert zu werden und vor allem: die öffentliche Meinung mitzugestalten. Da ist ein hohes progressives Potenzial im Online-Journalismus.
Um sich zu etablieren, bedarf es für diese neue Form im Informationswesen nur noch einer abgeschlossenen Dokumentationsform. Die Wahrheitserwartung der Leser kann erst eingelöst werden, wenn die Zitierfähigkeit des Materials außer Zweifel steht. Aus meiner Sicht braucht es dazu zweierlei: Erstens ein übersichtliches, erschöpfendes und leicht zu erreichendes Archiv im selben Medium, also im Netz. Bei einer traditionellen Zeitung ist das gegeben, denn die Exemplare sind materiell da. Ich kann eine alte Zeitung nehmen, daraus zitieren, und ich behalte die Quelle des Zitats als Wahrheitsbeweis bei mir. Bei der Online-Zeitung kann ich mir zwar auch den entsprechenden Artikel ausdrucken, aber es ist etwas anderes. Schon gefühlsmäßig. Als Dokument reicht es aus, aber es ist zu abstrakt. Daher kommt ein bisschen auch dieser Schmuddelkindeffekt. Zweitens muss es einen Kodex darüber geben, inwiefern man an einzelnen Artikeln nachträgliche Veränderungen vornehmen darf, denn solche Veränderungen schaden natürlich der Glaubwürdigkeit des Genres „Internet-Text“. Er wird zu etwas nicht fassbarem, zu einer wabernden Masse. Das ist die Kehrseite der Top-Aktualität. Für eine traditionelle Zeitung gilt: Geschrieben ist geschrieben, eine Online-Zeitung kann dagegen nachträglich Druckfehler beseitigen und auch inhaltliche Veränderungen vornehmen. Weil das der Verbesserung des Texts dient, also letztlich dem Leser, ist das zu bedenken. Die Absolutheit des Textes ist prinzipiell im Netz jedenfalls nicht so sehr gewährleistet, wie bei einer traditionellen Zeitung. Es sei denn natürlich, dass alle Texte in der Print-Version des Mediums ebenfalls erscheinen und sei es mit einer gewissen Zeitverzögerung.
(3) Chong: Ein gutes Beispiel für den kulturvergleichenden Teil unserer Chronik ist die derzeit aktuelle Problematik mit dem islamischen Schächten von Tieren in Deutschland. Ich möchte das mit dem verbinden, was wir über die Situation gesagt haben, also dass wir uns an der Situation orientieren sollen und nicht am Ego. Der Fall war so: Ein muslimischer Metzger hat vor dem Verfassungsgericht Recht bekommen, er darf schächten. Begründung: Zwingend vorgeschriebene religiöse Riten stehen höher als der Tierschutz. Einwand: Die Azhar und andere muslimische Autoritäten erlauben die Betäubung vor der Schächtung. Metzger: Die Autoritäten sagen, dies gelte nur in Notsituationen. Er sei aber in keiner Notsituation. Yassin Musharbash hat am Sechszehnten in der TAZ einen Hintergrund dazu geschrieben. Bestimmt gibt es weitere Dimensionen des Falles, aber dies reicht aus, um zu zeigen, wo Situation und Ego in Konflikt kommen.
Die Kernfrage ist doch: Ist Schächten eine Tierquälerei? Man muss bei dieser Frage zunächst die Schuldgefühle herausrechnen, die ein europäischer Mensch normalerweise Tieren gegenüber hat, denn die allermeisten Fleischesser würden es nicht über das Herz bringen, ein Tier selbst zu schlachten. Wir sind hier mitten im Diskurs von Norbert Elias' ‚Prozess der Zivilisation': Zivilisation geht einher mit zunehmender Affektkontrolle, welche wiederum – und das geht jetzt wohl über Elias hinaus – als Kehrseite die Entfremdung hat. Gewalt wird in diesem Zusammenhang immer weiter monopolisiert und aus den Schaufenstern verbannt. Wo früher Hühner auf dem Markt geschlachtet wurden, sieht man heute den Tod des Tieres nicht. Wo früher sichtbare Gewalt als Abschreckung verwendet wurde, reichen heute Andeutungen von Gewalt, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Auch das ist Zivilisation.
Ein weiterer Hintergrundaspekt ist die Historizität der islamischen Sendung. Eine der gesellschaftlichen Kernfragen im Orient ist, inwiefern die islamischen Mittel zur Rechtsfindung in einem historischen Kontext stehen, und inwiefern sie absolute Bedeutung haben. Für beides gibt es gute Argumente. In dieser Frage wird niemand das Gesicht verlieren. Beides gehört auch zum System von Koran und Sunna. So gibt es zum Beispiel eine Rubrik: „Hintergrund der Offenbarung“ (Asbaab an-Nuzuul), in der bereits im achten Jahrhundert der historische Kontext etwa einer Koransure als Sekundärmaterial mitgeliefert wurde. Hier kann man danach fragen, ob der Gewaltgrad in Muhammads Zeit, dem siebten Jahrhundert, auf den Gewaltgrad unserer heutigen Zeit umgerechnet werden darf, so wie man im sunnitischen Islam auch anderswo den Vergleich, den Qiyaas, zulässt.
Beim Verfassungsgericht ging es aber um ganz andere Dinge. Es ging um die Abwägung der Rechte von Tieren und der von Religionsgruppen. Denn Bezugspunkt ist der praktische gesellschaftliche Frieden, und nicht die Verarbeitung des Mittelalters. Auch die muslimische Seite blieb auf dieser Ebene und verquickte den Fall noch mit einer (allerdings gerechtfertigten) Emanzipationspolitik gegenüber den türkischen und ägyptischen Gelehrten. Gerade in der Auswandererproblematik zeigen sich die versteckten Verständigungsschwierigkeiten der Kulturen Orient und Okzident. Für progressive Leute sind das Anhaltspunkte. Sie geben ihnen die Möglichkeit, die Problematik praktisch zu erfassen und zu erfahren, wer die einzelnen Akteure hinter theoretischen Begriffen wie „Kulturkampf“ oder „Kulturdialog“ oder „Toleranz“ sind, und wie sie agieren. Im Falle des Metzgers blieb die Problembehandlung auf allen Seiten oberflächlich und egobezogen. Das bedeutet, dass das Problem nicht vom Tisch ist.
(4) Hanna G.: Es gibt wohl so etwas wie eine Urangst vor dem Glück. Das hat wohl damit zu tun, dass Enttäuschungen am meisten Weh tun. „Hardest part is when dreams die“ sangen TRIO auf ihrer sagenhaften ersten Platte. Meine Mutter hatte früher auch so einen Spruch drauf. Sie sagte immer: „Verspitz dich nicht darauf!“, wenn ich mich auf etwas (zu) sehr gefreut hatte. Ich musste später öfter mal daran denken. Ich hatte nie richtig verstanden, was sie eigentlich meinte. Klar, manchmal klappt es nicht so, wie man will, und manchmal müssen Pläne ausfallen und so weiter, aber andererseits ist die Vorfreude, wie man sagt, auch die größte Freude. Und auf die größte Freude möchte doch wohl keiner verzichten.
Die Angst vor Enttäuschung ist gerade in unserer Gesellschaft sehr groß, denn tief im Gedächtnis der Presse und der Politiker und all der Leute, tief in uns ist die Geschichte einer welthistorisch einmaligen Enttäuschung. Wunden sind in die Volkspsyche gerissen worden, und richtig heilen konnten sie nie. Die Amerikaner und die Alliierten wurden zu unseren Role-Models. Jene Staaten also, die dem Faschismus ein Ende gesetzt hatten, die Anderen. Betrachten wir aber diese Staaten, so sehen wir heute, dass sie im Grunde ebenfalls eine Menge Leichen im Keller haben, wie man so sagt. Und obwohl sie einen schweren Stand haben werden, ist es gerade an den Deutschen, mit etwas Neuem anzufangen. Auch gegen Widerstände. Eben weil die Deutschen den totalitären Wahn nie vergessen werden. Damit haben sie eine Erfahrung, die andere Staaten nicht durchlebt haben, und dieses Wissen bringt eine Verantwortung mit sich. Dafür brauchen wir auch Kritikfähigkeit. Wir können nicht mehr leben nach dem Motto: Bevor ich dich oder mich selbst enttäusche, sage ich lieber gar nichts.
Redaktion in Kiel, 17.01.02
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