Die Selbstzweifel von Roger B., von denen er gleich berichten wird, in allen Ehren, doch kann ich ihm und allen anderen Zweiflern immerhin ein kleines neues Argument geben, denn in letzter Zeit waren täglich achzig bis hundert Leute auf dieser Homepage. Das ist doch schon mal was. Inzwischen erreichen mich auch gelegentlich Mails von Leuten, denen der Song SOME SPACE oder bestimmte von Ozzys Äußerungen gefallen haben. Ich habe das an Ozzy weitergeleitet. Ebenso wie eine weitere Nachricht von R. Baumann, die inhaltlich nichts wesentlich Neues brachte. Es scheint mir angemessen, nur noch solche Mails für die Chronik zu berücksichtigen, die einem der Diskurse folgen. Ich bin aber ohne weiteres bereit, Mails auch in Zukunft weiterzuleiten.
Ein kurzen Nachtrag habe ich noch zu einem der griechischen Wissensbegriffe, nämlich SOPHIA, die auch die Weisheit genannt wird. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang erscheint mir die Tatsache, dass SOPHIA in ihrer ursprünglichen Bedeutung eine Handlung implizierte, eine Verantwortung. Sie war tätiges Wissen. Nachdem andere Begriffe wie GNOSIS, EPISTEME, TECHNE, MATHEMA und HISTORIA entwickelt waren und auch SOPHIA neue Bedeutungen bekam, war sie am Ende doch wieder das Wissen, das mit Handlung zu tun hatte.
(1) Roger B.: Ich möchte noch einmal auf die Selbstzweifel zurückkommen. Ich meine, damals im BLUESLAND war es doch ganz ähnlich: Viele wussten, dass etwas geschehen musste, sie wussten, dass sie handeln mussten, dass diese Tragödie etwas mit ihnen selbst zu tun hatte. Aber nichts geschah. Man sah sich leer an, und jeder orientierte sich am Schweigen des anderen. Zuerst traf man sich noch ein paar Mal, aber als die Ermittlungen zuende gingen, löste sich das ganze BLUESLAND-Publikum in Nichts auf. Als wäre es niemals da gewesen. Man konnte sehen, wie lose und brüchig die Bindungen zwischen den Leuten waren. Dabei sah es gerade 1990 und 1991 so aus, als könnten sich die gesellschaftlichen Gruppen versöhnen, die im BLUESLAND zusammenkamen. Es gab Freiheit. Es war auch nicht verpönt, wenn ein Rocker mal mit einem Polizisten redete oder ein Punk mit einem aus der MOTORGANG. Was anderswo nicht ging, dort ging es. Und wir hätten von dort aus etwas starten und in die Welt tragen können, um zu zeigen, dass es funktioniert.
Heute sind wir zwar reifer geworden, aber das Basisproblem ist dasselbe: Die Gesellschaft findet nicht zur Gemeinschaft. Jeder weiß das auch. Jeder weiß, dass es an der Rigidität des Systems liegt, an der Missgunst, der Profitgier und dem Nihilismus. Es sind schon so viele Jahre und Jahrzehnte, dass in Deutschland autoritäre Seilschaften und änderungsunwillige Gruppen das Sagen haben, dass sich einkapselt, wer glaubt, machtlos und ohnmächtig zu sein. Es geht ja nicht nur darum, die richtigen Fragen und den passenden Diskurs zu finden. Viel wichtiger noch ist es, den Leuten klar zu machen, dass sie selbst etwas bewegen können, und dass es auch noch andere Formen von Gemeinschaft gibt, außerhalb der Familien und der Betriebe. Wenn jemand von uns neu in eine Gruppe kommt, dann denkt er oder sie sofort darüber nach, welche Position sie darin haben werden und erreichen können. Die meisten wollen ja raus aus den Familienstrukturen, nur denken sie schon so sehr wie ihre Eltern, dass sie andere Formen der Gemeinschaft gar nicht mehr wahrnehmen können. Man sieht überall nur die Strukturen, die man schon kennt, und so wird man ständig neu enttäuscht. Dabei hatten wir im BLUESLAND so eine Alternative schon vorbereitet. Es hatte nur niemand wirklich daran geglaubt, aber die Fakten waren wohl gegeben, denke ich. Wir hatten die Chance.
Die größte Angst des Einzelnen ist die vor der gesellschaftlichen Isolation. Niemand möchte allein sein. Man fürchtet die Leere, die Sinnlosigkeit, wenn niemand neben einem sitzt. Das ist bestimmt auch ein Grund dafür, warum die Leute Ozzy gemieden haben. Er hatte sich – ziemlich bewusst sogar – genau in die Situation gebracht, in die die anderen nicht kommen möchten, ganz egal, aus welchen Gründen. Niemand konnte sich vorstellen, dass Ozzy in dieser Lage überhaupt länger existieren könnte. Und so ist die Isolation auch immer wieder die latente Drohung des Establishments, um seine Schäfchen bei der Herde zu halten. Wer die Gemeinschaft nicht hat – so die Logik -, der hat gar nichts, und er wird auch keine Kraft haben, um weiterzuleben.
Ich muss an die MÖWE JONATHAN denken, dieses Märchen von Richard Bach, dessen Film so wunderbar von Neil Diamond vertont wurde. Jonathan wollte mehr als die anderen. Er wollte seine Grenzen erfahren, um seine Identität zu finden. Als er höher flog als die anderen und an seinem Flugstil arbeitete, wurde er misstrauisch beäugt. Als er sich bei einem Sturzflug verletzte, wurde er von der Gruppe ausgestoßen. Im Exil aber machte er spirituelle Erfahrungen, bei denen er merkte, wie klein die Welt war, aus der er gekommen war.
Zweifel an unserer Sache bekomme ich, wenn ich daran denke, dass all das bekannt ist, und es einfach an der Antriebslosigkeit der Leute liegt und ihrer Nichtbereitschaft, an sich selbst und an etwas Größeres zu glauben. Ich halte es nämlich für eine Mischung aus Ignoranz und Arroganz, wenn man an nichts Höheres glaubt. Man sagt damit letztlich aus, dass kein Mensch und kein Gott größer ist als man selbst. Man hat Jonathan vorgeworfen, sich über die anderen zu stellen, dabei war er der einzige gewesen, der danach gesucht hat, was über ihm steht. Im Märchen verstehen wir Jonathans Wahrheit, aber im Leben handeln wir genau wie die anderen Möwen. Daher stelle ich immer wieder einmal die Sinnfrage.
(2) Robert A.: Der Wahlkampf zwischen Schröder und Stoiber hat begonnen. Ich fand die Reaktion der SPD auf Stoibers Wahl ziemlich unprogressiv. Man hat ihn einen ‚Spalter' genannt und ihn sehr emotional abgelehnt. Herr Müntefering war sehr emotional. Das hat einen schlechten Eindruck für die Partei hinterlassen. Denn natürlich ist Stoiber ihr politischer Gegner, klar, er ist der Herausforderer des Kanzlers. Logisch, dass man ihn in der Regierung bekämpft. Wir haben uns unser System ja extra so gebastelt, damit sich alle wegen der Konkurrenzsituation die größte Mühe geben und die geeignetsten Leute hervorbringen. Und das Argument, dass es zu weit nach rechts geht, zieht bei dieser SPD auch nicht mehr, denn was ist bitteschön heute rechts, wenn die SPD nicht rechts ist? Dasselbe gilt aber auch für die Opposition, wenn sie Ministerin Künast wegen einer Schlamperei in ihrem Ministerium zum Rücktritt auffordert. Man sieht die Schwäche und stößt hinein. Das hat nichts mit dem Wohl des Landes zu tun.
Zu tadeln sind aber auch die Medien, weil sie ein aus ihrer Zunft und nicht aus der jeweiligen Situation geborenes, geradezu sportliches Faible für Machtkämpfe aus- und vorleben. Als ginge es um Schröder oder Stoiber und nicht um die Politik in unserem Land. Es ist gut, wenn in unserer Chronik die Presse öfter mal genannt wird, denn sie ist die Instanz, der die Leute glauben. Wenn etwas in der Zeitung stand oder im Fernsehen berichtet wurde, dann ist etwas dran. So funktionieren wir, ob wir es uns eingestehen wollen oder nicht. Wenn irgendetwas Wichtiges und Großes auf der Welt passiert, dann kommt es in die Presse, und wenn es nicht in die Presse kommt, dann ist es auch nicht wichtig. Dabei vergessen wir, dass ‚die Presse' aus Individuen besteht und aus Gruppen wie denen bei uns in der Firma, der Schule oder im Verein. Ihr Wort und ihre Meinung sind nicht prinzipiell anders als unser eigenes Wort und unsere eigene Meinung.
(3) Webmaster: In einem Koffer reise ich, Weisheit spende ich, und Webmaster nenne ich mich. Der Mensch ist mir heilig, und was ist euch heilig? Diese Frage muss ich euch heute stellen, denn ihr sucht nach Werten, Werten, Werten, und was ist euch denn überhaupt heilig? Ihr habt mich völlig verwirrt, ihr Bullheads, ich spüre Konfusion. Wie soll ich da denn Weisheit spenden? Mir ist dieses Fraktal in die Hirnräder gerutscht, und es hat sich an meinen Begriff von Heiligkeit gesetzt wie ein Virus. Dabei war ich gerade dabei, den Begriff in mein Situationslexikon einzubauen, nun ist er mir auf dem Weg dahin in hundert Stücke gebrochen.
Ein Ort und eine Zeit können heilig sein. Es gibt auch ein Szenario, in dem Personen heilig sein können oder sogar andere Personen heilig machen können. Dies scheint mir irreführend und ablenkend zu sein. Seht ihr, ich suche den Weg zurück zu den Basiserfahrungen der Menschheit, und Begriffe wie Heiligkeit weisen mir den Weg. Deshalb schreibe ich das Situationslexikon. Der Begriff ist in allen Kulturen vorhanden, die ich kenne, und im Ursprung kann Heiligkeit sowohl vom Menschen kommen, wenn zum Beispiel Menschen einen Ort oder eine Zeit für heilig erklären, um darin Gewalt zu verbieten, bzw. einen Zustand der Ungestörtheit herzustellen. So wie etwa die Heilige Messe oder die kriegsfreien Zeiten im historischen Islam.
Anders hingegen ist die Erfahrung von Heiligkeit in konkreten Situationen, solchen der Weihe. Das alles sind Begriffe, die wir heute ganz neu wiederfinden müssen, denn wir kennen die Grunderfahrungen nicht mehr, die solche Begriffe geformt haben. Wir kennen nur noch die Ikonen-Heiligkeit, dass also irgendeine räumlich oder historisch abstrakte und halberfundene Sache als nostalgisches Relikt in die Schaufenster gestellt wird, um für zufriedene rote Bäckchen zu sorgen. Ich dachte erst, mich der Sache genähert zu haben, aber nun weiß ich einfach nicht weiter. Wenn Sie also irgendeine Antwort zum Sinn des Lebens haben, dann wenden Sie sich doch bitte an Ihren Webmaster. Sie finden mich weinend im Cyber-Cafè an prominenter Stelle.
(4) Silke P.: Wir sollten mit den deutschen Goldreserven die Revolution finanzieren! Was haltet ihr davon? Ich meine, das sind sagenhafte Summen. Milliarden von Euros. Das Thema kam vor einiger Zeit mal ganz kurz in den Medien vor, wegen der Wirtschaftskrise. Aber der Gedanke wurde dann sehr schnell wieder aus dem Verkehr gezogen. Und ich habe das oben auch so provokativ geschrieben, damit man sehen kann, warum das Thema nicht weiter verfolgt wurde.
Dahinter steht doch die Grundfrage, ob man horten soll. Egal, was es ist, aber es geht ums Besitzen und darauf Hocken. Dies ist eine der Grundfragen des Kapitalismus. Sollen wir Besitz anhäufen? Danny De Vito hat es in dem Film DAS GELD ANDERER LEUTE auf den Punkt gebracht: Wir spielen das Spiel: Wer am meisten Geld hat, wenn er tot ist, der hat gewonnen. Aber noch besser gefällt mir sogar ein Zitat aus dem Film PETER'S FRIENDS: „Erwachsene sind Kinder, die Schulden haben.“ Der materielle Puffer gibt uns das Gefühl von Sicherheit. Faktisch führt das aber zu einer Art Schwerläufigkeit und Verstopfung des gesellschaftlichen Systems, weil die Dinge nicht zirkulieren, nicht geteilt werden.
Es ist ein kapitalistisches Paradoxon, denn auch die Ökonomen sagen, dass Geld zirkulieren muss, und dass es ihm gut tut, wenn man es investiert. Schon an der Börse sieht man diesen inneren Widerspruch: Man investiert einerseits in eine Sache, lässt also Geld zur Zirkulation frei, aber man möchte andererseits seine Aktien langfristig besitzen und darauf hocken, um damit eine abstrakte Zukunft zu sichern. Wenn man hingegen Naturvölker betrachtet, fällt auf, wie wenig sie horten. Sie haben Vertrauen ins Leben, sie kennen die Jahreszeiten, und sie wissen, wo es etwas zu essen und zu trinken gibt. Sie brauchen nicht so viel zu kontrollieren, dafür sind sie kreativ. Zum Beispiel die Aborigines in Australien. Oder afrikanische oder indianische Stämme.
Nun muss ich zugeben, dass ich bisher auch eher der Typ war, der Dinge angehäuft hat und der tausend unnütze Sachen gelagert hat, ob in meiner Außenwelt oder in meiner Innenwelt. Von der idiotisch großen Standuhr aus Familienerbe zum Beispiel kann ich mich seit Jahren nicht trennen, dabei nimmt sie nur Platz weg. Und dann funktioniert sie noch nicht einmal. Im Moment fühle ich mich so, als würde ich das alles nicht brauchen, als würde es mich aufhalten und ablenken. Nicht das Notwendige, aber das ganze überflüssige Zeug. Ich bin wohl ein bisschen diesem Fieber erlegen, mit etwas Neuem anzufangen. Es ist auch einfach für eine sehr lange Zeit sehr langweilig gewesen, das reicht als Grund ja schon aus.
Übrigens habe ich in letzter Zeit einige aufschlussreiche Gespräche mit früheren BLUESLAND-Leuten geführt, und da scheint tatsächlich ein bisschen Bewegung in die Frage nach dem Brand und seinen Ursachen zu kommen. Jedenfalls hatte es seit mitte 91 einige Spannungen gegeben, die mir vorher nicht klar waren. Ohne hier schon über Details zu sprechen, kann ich wohl sagen, dass es einige Gruppen gab, denen der Einsturz des Gebäudes aus verschiedenen Gründen nicht unangenehm war. Heute abend bei Maria werde ich vielleicht mehr erfahren, jedenfalls bin ich jetzt ein Ansprechpartner, falls jemand von euch noch etwas weiß.
Redaktion in Kiel, 19.01.02
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