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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Lutfi M.: Hier ist eine Antwort auf den ausgezeichneten Beitrag von Marwan J. in der 61. Nachricht. Die Trennung von Kirche und Staat. Und die Frage nach dem Dogma. Auch mir erscheint es so, als liege die tiefe Angst des Westens hier, beim Dogma. Die Angst vor dem Glauben. Gott, das war früher der, den die Obrigkeit angeführt hatte, um sich zu legitimieren, wenn sie keine Lösung wusste, und, schlimmer noch, um Unrecht und Not zu rechtfertigen. Gegen diese kirchliche Obrigkeit des Mittelalters bzw. vor der Aufklärung konnte man nichts tun, denn ihre Macht war auf Dogmen begründet, also auf Wahrheiten, die jenseits menschlicher Kritik und Beweisbarkeit standen.

Muss jeder Glaube auf Dogmen gegründet sein? Ich denke, dies ist eine richtige Frage. Ich selbst bin Muslim und gläubig im sozialen und im kulturellen Sinne, ich gebe aber ohne weiteres zu, dass ich nicht das Feuer eines tiefgläubigen Menschen habe. Ich zweifle. Der Freitagspredigt höre ich aufgeschlossen zu, und ich lese auch im Koran. Diese Dinge haben eine Wahrheit für mich, und wenn ich zweifle, dann sehe ich das als eine Sache in mir, nicht eine Sache im Koran, denn die Autorität des Propheten steht für mich nicht in Frage. Muhammad hat gelebt, und ihm ist der Koran offenbart worden als eine tiefe Weisheit für die Menschen. Was ich dann daraus mache in meinem Leben, ist eine andere Sache. Jedenfalls habe ich festgestellt, dass man bei den meisten religiösen Fragen gar keinen Gott braucht, um zu argumentieren. Darüber möchte ich heute schreiben:

Schon im ZARATHUSTRA braucht der Mensch keinen Gott. Nietzsche hat ja im ersten Satz schon gesagt: ‚Gott ist tot'. Damit meinte er, dass wir Gott nicht einmal brauchen, um gläubig und in Frieden zusammenzuleben. Wir finden die göttlichen Regeln des Friedens auch in uns selbst und in der Erde, auf der wir stehen. Nietzsche machte hier die Emanzipation des Glaubens vom Dogma vor. In dem, wie er schrieb, lebte er es vor. Wir sind vielleicht erst jetzt – nach Bin Laden – in der Lage, die revolutionäre Kraft dieses Buches zu erkennen.

Ich bin ein Mensch mit politischen Vorstellungen. Ich habe auch Wünsche für eine andere Politik hier und eine politische Reform dort. Alle meine politischen Vorstellungen basieren auf meiner Idee von Gerechtigkeit und Frieden. Man kann das nicht vom Glauben trennen, auch ich kann das nicht. Wenn ich nun eine aussagekräftige Stelle im Koran finde, die meine Position untermauert, dann nehme ich das Zitat vielleicht als Argument. Daran ist nichts Verwerfliches, denn ich glaube an meine politischen Überzeugungen, und ich gehe subjektiv davon aus, dass ich nicht allzu weit vom islamischen Gedanken weg sein kann, denn ich finde mich dort sehr oft bestätigt. In politischen Gesprächen argumentiere ich also auch mit Koran und Hadith, also den regulären Quellen muslimischer Rechtsfindung.

Gleichzeitig aber argumentiere ich rational, denn ich habe noch eine Quelle, mit der ich argumentiere, nämlich die Vernunft. Also erhalte und stütze ich meine politische Meinung durch Zeitungsartikel, durch Zahlen, durch historische Vergleiche, Zitate von Politikern, Analysen und so weiter, also den Dingen, die zum Beispiel in der Presse zum Standard gehören, um zu einer überzeugenden Situationsdarstellung und zu einer Meinung zu gelangen. Diese beiden Quellen der Argumentation, Religion und Information, gehören für mich zusammen. Es gibt Zweifelsfälle, wo ich nicht weiß, welcher Quelle ich mehr Gewicht geben soll, aber das ist selten. Meistens geht das sehr reibungslos.

So ähnlich hat auch Ghazali gedacht, nur dass Ghazali ein charismatischer Gläubiger war, ein Jahrhundertmensch. Er hat um das Jahr 1100 herum die gesamte muslimische Kultur grundlegend verändert. Seine Leistung war es, die muslimische Orthodoxie mit den Rationalisten zu versöhnen. In einem seiner Hauptwerke, ‚Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften', beschäftigt er sich mit allen wichtigen Fragen der Zeit. Es ist ein Welterklärungsbuch, es gibt Antworten. Bei Ghazalis Argumentationsweise gibt es ein hervorstechendes Element: Er argumentiert doppelt, einmal nach muslimischen Quellen, und einmal rational. So ähnlich, wie ich es oben geschildert habe.

Ghazalis Punkt war, dass man keine Dogmen braucht, um das Wesen der Religion zu leben, weil man mit Mitteln der Vernunft – das heißt für Ghazali vor allem: die aristotelische Logik – zu denselben Lösungen kommt. Anders gesagt: Im Vordergrund stehen die Sachfragen, die Situationen, nicht der Wettkampf der Beweisfindung.

Ich komme auf dieses Thema nicht zuletzt wegen Ozzy. Der Glaube an Gott ist für ihn ein wichtiges Motiv seiner Handlungen. Man kann seine Handlungen und Entscheidungen alle mit Argumenten des Glaubens erklären oder rechtfertigen, auch seine pazifistische politische Einstellung. Man muss es aber nicht, weil ebenfalls auf der Ebene der Presse und der Politik argumentiert wird. Wenn man bei all dem Gott herausrechnet, bleibt also immer noch eine fundierte politische Meinung. Es wäre seltsam, wenn jemand wie Ozzy als politischer Mensch nicht ernst genommen würde, weil er an Gott glaubt.

(2) Ozzy: Liebe Leute, heute habe ich mal etwas ganz anderes. Es heißt Taqrib. Das spricht sich mit langem „i“ und reimt sich auf „verliebt“. Es gibt dazu noch ein Verb „taqribieren“. Nun werden vielleicht einige denken: Okay, aber was soll das überhaupt heißen? Da kommen wir der Sache schon näher. Taqribieren heißt nämlich „näher heranbringen“. Das ist aus dem Verbalnomen des zweiten Stammes von der arabischen Wurzel q-r-b abgeleitet, die „nah“ bedeutet.

Dieses Fremdwort ist mein persönlicher Beitrag an die deutsche Sprache. Ich benutze dieses Wort seit Jahren mit einigem Erfolg. Der Begriff ist getestet. Er ist zum Beispiel hilfreich beim Abbau von Hemmschwellen. Ein einfaches Beispiel: Wenn du jemandem einen Brief schicken willst, aber zu faul bist, kannst du die Sache taqribieren: Du frankierst schon mal den Umschlag und schreibst die Adresse drauf. Das sind technische Routinesachen, dabei muss man nicht nachdenken. Die Realisierung des Wunsches, einen Brief zu verschicken, ist näher gerückt. Jetzt musst du nur noch den Brief schreiben, die Hemmschwelle „Umschlag vorbereiten“ ist weg. Weil es nun näher liegt, bekommst du wieder mehr Energie für die Sache. Das Feuer geht nicht aus, sozusagen.

Es gibt auch eine schamanische Seite des Taqrib. So wie in dem Buch DEMIAN von Hermann Hesse. Ich glaube, es war im DEMIAN. Wo er sich wünscht, dass eine bestimmte Person in der Schule neben sitzen ihm soll, aber er sitzt ganz vorne und sie ganz hinten oder so. Sie kam dann auf unerklärliche Weise im Laufe der Zeit immer näher, und das hatte etwas mit diesem Wunsch zu tun. Wir hatten ja über Wunschvorstellungen gesagt, dass wir sie uns möglichst detailliert klar machen müssen, um vorbereitet zu sein. Auch das ist Taqrib. Es hat zu tun mit der Programmierung des Unterbewusstseins. Das Unterbewusstsein ist wie ein schnüffelnder Hund, es sucht für dich.

So mache ich es mit allem. Was mir gefällt, das hole ich näher heran, auf allen fraktalen Ebenen. Wenn du nicht genau weißt, wie deine Wünsche sind, kannst du den Taqrib anwenden, immer wenn du denkst: „Man könnte ja schon mal dieses oder jenes tun, als Vorbereitung“. Denn man kann immer nur bis zum Horizont sehen, und das ist nicht weit. Das gilt auch für Wünsche und Träume. Es ist eine Frage der Selektion. Ich selektiere nach dem Motto: Was mir gut tut, wähle ich, das andere nicht. Wenn ich Hundescheiße auf der Straße sehe, dann kuck ich nicht drauf, denn ich will es nicht sehen. Anders ist es bei Konflikten, da kucke ich nicht weg, die will ich sehen, wenn sie mich betreffen.

(3) Hannibal L.: Es ist sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass Marion C. in der 23. Nachricht ganz falsch liegt. Sie sagt dort, dass Gewalt immer die Ästhetik zerstört. Das ist unwahr. Gewalt hat natürlich eine Ästhetik. Nehmen Sie meinen Film als Beispiel: Da hat jemand einem Menschen das gesamte Blut abgezapft und säuberlich neben dem Körper in Gefäße gefüllt, ohne einen einzigen Tropfen dabei zu verschütten. Alles war ganz sauber. Natürlich, es war Mord, und doch ist diese Tat gleichzeitig ein Kunstwerk allerhöchster Güte. Wenn du vor der Installation eines Künstlers stehst, vor einer Kollage oder einer Skulptur oder etwas Verwandtem, dann lässt du dich verzaubern von dem, was der Künstler in seinem kreativen Rausch getan hat, vor allem dann, wenn das Werk dich anspricht, wenn du merkst, dass der Künstler oder die Künstlerin einen direkten Kontakt zu dir aufnehmen will oder aufgenommen hat. Wenn der Betrachter eine Botschaft erkennt, durch den Überraschungseffekt. So definiere ich Kunst. Und daher hat der Einsturz des WTC einen hohen künstlerischen Wert für mich. Der ist allein schon durch die geniale Simplizität und die unbedingte Faszination des Ereignisses gerechtfertigt. Was für ein kreatives Potenzial, das dahintergestanden hat!

Die Tatsache, dass so viele Menschen dabei gestorben sind, macht das Ereignis ja nur noch eindringlicher, genau wie ein Kunstwerk. Deshalb kann ich trotzdem Mitleid mit den Opfern haben, auf einer anderen Ebene. Dann sollte man lieber zwischen schwarzer und weißer Kunst unterscheiden, so wie zwischen schwarzer und weißer Magie. Auch bei Kunstwerken finden wir eben beide Elemente. Sie gehören zusammen. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn man die schwarze Kunst unter den Teppich kehrt und tabuisiert. Den künstlerischen Aspekt des Attentats kann man nicht bestrafen, den Gewaltaspekt natürlich schon. Insofern hat ja alles seine Ordnung.

Der Einsturz des WTC lag noch keine vier Monate zurück, da wurde im deutschen Fernsehen schon wieder der Film INDEPENDENCE DAY gesendet, wo genau solche Szenen vorkommen, dass die Hochhäuser in New York in sich zusammenstürzen. Man sieht daran, dass ein großer Bedarf nach diesen Horror-Szenarien besteht, selbst jetzt noch. Das liegt an der kreativen, an der künstlerischen Magie, die darin liegt.

Kunst basiert doch auf Fantasie und Ästhetik. Sie kommuniziert Welten, die von der Vernunft nicht erreicht werden können. Nicht alle dieser Welten sind gut, aber alle sind möglich. Ästhetik ist daher nicht zu verwechseln mit dem Guten. Das Schöne ist nicht unbedingt das Gute. Die Sadisten empfinden es als schön, wenn sie andere Leute quälen, das halte ich für das gleiche Prinzip wie das der schwarzen Kunst. Es ist eine Frage des Betrachters. Insofern ist auch das Argument sehr richtig, dass Opfer sich wehren müssen, denn sonst sind sie nur halbe Opfer. Sie wissen von der schwarzen Kunst, aber sie nennen sie nicht beim Namen. Am Elegantesten ist es, mit weißer Kunst gegen schwarze Kunst anzutreten, oder umgekehrt. Das wäre doch mal ein Kulturkampf, der sich lohnt.

Redaktion in Kiel, 21.01.02

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