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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Maja B.: Am letzten Freitag bei Maria und an den folgenden Tagen habe ich ausführliche Gespräche mit BLUESLAND-Leuten geführt. Dabei ging es mir im Wesentlichen um die Geschichte des BLUESLAND. Ich weiß nicht, ob es der richtige Weg ist, aber er ist zumindest interessant. Ich will auch nicht als Inspektorin dastehen. Es hatte ja damals vor neun Jahren genügend polizeiliche Befragungen gegeben. Aber sie haben zu nichts geführt. Daher bin ich die Sache von einer anderen Seite angegangen. Es ist auch eine bedeutend angenehmere Situation, wenn man die Leute nach ihren Einschätzungen und Gedanken über das BLUESLAND fragt, als wenn man sie wegen Informationen ausquetscht. Noch sind es zwar nicht viel mehr als ein paar Impressionen, aber sie passen jetzt ganz gut, denke ich.

Insgesamt habe ich bisher etwa zwanzig Leute interviewt. Darunter auch solche, die nicht in der Chronik geschrieben haben. Ich habe viele Informationen gesammelt, zum Teil ganz offen, so wie bei den Schreibern hier, zum Teil auch unter der Bedingung der Diskretion. Erstaunt hat mich, dass die meisten der Befragten angaben, dass es im Juni 1991 zu einem Klimawechsel im BLUESLAND kam, also ein gutes Jahr vor dem Anschlag. In den späten 80ern hatte der Club seine beste Zeit, und es kam fast jedem so vor, dass es bis zum Juni 91 ein Ort der Begegnung und der Freiheit war. In diesem Monat war die besagte Razzia, aber das war nicht der Auslöser der Krise, sondern bereits ihr Symptom.

Es gab in dieser Zeit viele gesellschaftliche Konflikte, die sich im BLUESLAND im Kleinen widerspiegelten. Allerdings war der Club eine Art geschützter Raum. Von ihm ging tatsächlich eine Atmosphäre des Friedens aus. Und in einer gewissen Weise kann man auch sagen, dass es eine Art Testgelände war, denn wenn die verschiedenen Gruppen im BLUESLAND trotz politischer oder subkultureller Unterschiede miteinander auskommen konnten, dann war das eine Hoffnung auch für draußen. Wie in jedem anderen sozialen System gab es auch im BLUESLAND solche, die Gewalt befürworten, und solche, die sie nicht befürworten. Unterschwellig vermittelte der Club die Hoffnung, dass ein Leben in Frieden möglich war. Wenn nun Gruppen aus den unterschiedlichsten Subkulturen so zusammenkommen, dann merken sie nach einer Weile zwangsläufig, dass viele ihrer stereotypen Vorstellungen über ‚die Anderen' nicht der Wirklichkeit entsprechen. An dieser Stelle gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, sie lernen Toleranz und verlieren ihr Feindbild, oder sie wollen gar nicht, dass ‚die Anderen' in Ordnung sind, weil sie ihre schwache Identität durch die Abgrenzung von einem erfundenen und projizierten Bild stützen müssen, dem Alter Ego.

Vielleicht ist es wirklich nur das Unterbewusstsein dieser Leute aus der zweiten Gruppe, die sie dazu bringt, ein tolerantes Miteinander zu verhindern. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass jemand billigt, dass ein solches Symbol wie das BLUESLAND einfach so untergeht. Doch es muss wohl so gewesen sein. Und es lässt sich kaum klären, wer damit angefangen hat, weil zu viele gesellschaftliche Gruppen daran beteiligt waren, und sie waren kaum definiert. Es war ja nicht wie die Parteien im Bundestag, es waren einfach nur Leute, und viele von denen, die politisch gehandelt haben, waren sich nicht darüber im Klaren. Im Juni 91 begann eine Art allgemeines Misstrauen. Das hat zu dieser Razzia geführt und zu verschiedenen unschönen Szenen, auch Prügeleien, und auch einer Menge Intrigen. So zog es sich bis zum September 92. Mit der Ruhe war es dahin. Es werden viele Geschichten erzählt, und es gibt viele Versionen, erschreckend aber fand ich, dass eine große Anzahl von Leuten meinte, der Brand des BLUESLAND würde ihnen im Nachhinein ein wenig wie ein reinigendes Gewitter vorkommen. Oder wie eine materielle Besiegelung des vorhergehenden psychologischen Niedergangs.

Wie es dann konkret zum Verbrechen kam, kann ich an dieser Stelle nicht sagen und auch nicht, aus welchen der Gruppen der oder die Täter stammen. Die Untersuchungen sind aber noch nicht zuende. Ich spreche weiterhin mit den Leuten, und es finden sich mit der Zeit auch neue Kontakte. Nachdem ich mich so lange mit theoretischen Fragen beschäftigt habe, ist dieser Job hier genau die richtige Abwechslung. Vielleicht bekomme ich auch nicht viel mehr heraus, aber es ist schon faszinierend zu hören, woran die Leute denken, wenn sie sich an diese Zeiten erinnern.

(2) Roger B.: Die PDS hat gestern ihren Anti-Kriegskurs bestätigt und dabei darauf hingewiesen, dass sie derzeit allerdings auch keine Alternative hätte. Das klang wie eine ganz seltsame Art von Zugeständnis. Es hat mich provoziert, weil ich selbst genug Zweifel habe. Ich frage mich, ob wir diese Alternative bieten können. Oder irgendetwas in dieser Richtung. Ich weiß, dass es nicht viel nützt, zu lamentieren, also habe ich versucht, eine produktive Idee zu entwickeln, um auf eine neue Art mit politischen Problemen umzugehen.

Weil es gerade virulent ist, habe ich mir über Israel/Palästina Gedanken gemacht. Die Zustände dort sind unzumutbar. Seit Jahren, ja Jahrzehnten schon. Es gibt etwas, dass die ganze Zeit und trotz aller gleichzeitigen Bemühungen den Frieden verhindert, ganz an der Basis. Ich bin, wie einige andere hier aus der Chronik, eher für die Palästinenser, weil sie offensichtlich die Entrechteten sind, und weil es viele UNO-Beschlüsse zu ihren Gunsten gibt, die nicht umgesetzt wurden. Aber für den Konflikt ist meine Meinung nicht zu wichtig. Es gibt Gegenmeinungen und Zwischenpositionen, und all das gab es auch schon vor dreißig, ja vor vierzig Jahren. Engagierte Frauen und Männer haben sich für den Frieden in Palästina eingesetzt mit ihrer ganzen Kraft, und es hat bis heute nicht viel bewirkt. Hier ist die Idee für den Beginn einer Alternative:

Das tödliche Hin und Her zwischen Israelis und Palästinensern begann früh im 20ten Jahrhundert. Rechnen wir nur die Kriege historisch zurück, haben wir mit dem Ausbruch der Intifada einen Kriegszustand gehabt, in den 80ern die Übergriffe im Libanon, es gab den Schwarzen September 1970 im Amman, und drei Jahre vorher den einschneidenden Sechs-Tage-Krieg, in dem Israel Jerusalem, Gaza und die Westbank annektierte. Dieses Ereignis hatte die gesamte arabische und islamische Welt bis ins Mark erschüttert. Doch wir müssen noch weiter zurück, denn es sind alles nur Wiederholungen. Bei Theodor Herzl müssen wir anfangen und dem Zionismus. Über die Weltkriege müssen wir sprechen und die Protektoratspolitik der damaligen Zeit. Wir müssen genau da anfangen, wo die Gewalt zwischen den späteren Israelis und den Palästinensern zum ersten Mal aufgebrochen ist. Dort wird der Kern des Problems zu finden sein.

Eine Möglichkeit, um die Meinungen der Welt gegenüberzustellen und damit eine große internationale Diskussion anzuregen, wäre eine Pressekampagne. Ein neutraler international akzeptierter Organisator bittet die internationale Presse darum, je einen Kommentar zu schreiben zu der Frage: ‚Wie war die Ausgangssituation, als es zum ersten Mal zu Gewalt in Palästina kam?' Je mehr Zeitungen sich daran beteiligen, um so besser. Es sollte möglichst kurz sein, eine viertel Zeitungsseite vielleicht. In den einzelnen Ländern wird es viele unterschiedliche Meinungen dazu geben. Man kann einen Stichtag festsetzen und dann die einzelnen Beiträge zusammenstellen und übersetzen. Angesichts der großen Öffentlichkeit werden die Zeitungen vielleicht darum konkurrieren, die Situation objektiv und konstruktiv darzustellen. Das scheint mir ein sinnvolles Projekt zu sein. Man könnte den Faden noch weiterspinnen, aber zu viel zu planen, ist nicht angemessen. Es ist ein erster möglicher Schritt in eine andere Richtung, um zu zeigen, dass es viele Möglichkeiten gibt, um zum Frieden zu kommen.

(3) Samantha D.: Dies ist der Versuch einer Antwort auf Conan Bukowski. Es ist ziemlich erschütternd, was er schreibt. Ich habe früher erwähnt, dass auch ich meine Kräfte zu einer bestimmten Zeit verwendet habe, um andere damit auszunutzen. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass es nur Scheinerfolge waren. Nichts, was auf Druck geschieht, ist von Dauer. Vielleicht kann man sagen, dass ausgeglichene Situationen eine Art Erinnerung haben, analog zu ähnlichen Beobachtungen in der Physik. Es besteht ein permanenter Drang zur Ausgeglichenheit in der Welt.

Aus der Perspektive der Frauen dieses Conan Bukowski rechnet er sich fast ganz heraus, denn sie selbst haben sich in diese Situationen gebracht. Besonders Frauen, die wissen, dass sie der Gewalt des Augenblicks erliegen, müssen sich ehrlich die Frage beantworten, ob sie Gewalt wirklich möchten. Denn wenn sie sie möchten, ist es eine ausgewogene Situation, wenn sie mit Conan zusammenkommen. Nach meiner Moralvorstellung ist Sado-Maso in Ordnung, wenn alle Beteiligten damit zufrieden sind und Außenstehende nicht infligiert werden. Letzteres ist im Falle SM sehr wichtig, weil es oberflächlich gesehen Gewalt darstellt und damit leicht als schlechtes Vorbild missverstanden werden kann. Insofern scheint mir ein Film über SM wesentlich bedenklicher als SM.

Ein großes Problem haben diejenigen Frauen, die sich im Innersten Zärtlichkeit wünschen, die aber Zuwendung aus kindlicher Erfahrung mit Gewalt verbinden. Anders als Masochistinnen leiden solche Frauen tatsächlich an der Gewalt der Männer und wünschen sich etwas anderes als Gewalt. Es ist ein Problem der Artikulation und auch der Autorität. Nehmen wir ein plastisches Beispiel: Es ist eine unumstrittene Tatsache, dass viele Frauen eine sexuelle Faszination gegenüber dem männlichen Geschlechtsorgan (MGO) erleben. Selbstverständlich besteht umgekehrt beim Manne ein vergleichbares Interesse am WGO. So ist dann weiterhin anzunehmen, dass aufgrund dieses Urinteresses gelegentlich weibliche Fantasien entstehen, in denen das MGO aktiv oder passiv eine wichtige Rolle spielt. Wie aber lassen sich solche Wunschvorstellungen oder ähnliche kommunizieren? Naturgemäß gibt es da solche Leute, denen es leichter fällt und solche, denen es schwerer fällt. Das ist auch eine Frage des Selbstbewusstseins und der Erfahrung. Wer hier zu schüchtern ist, wird von seinem Unterbewusstsein für jedes Verlangen bestraft. Diese Frauen Conan B.s brauchen die Gewalt, um eine innere Sperre zu überwinden, die sie auch anders überwinden könnten. In ihrem Bewusstsein ist Sexualität so eng mit Schuld verknüpft, dass sie keinen unschuldigen Sex erreichen können. Da sie sich selbst nicht schuldig machen wollen, lassen sie zu, dass Conan sich schuldig macht. Ich weiß nicht, wie viele Frauen so sind, und wie viele Männer, aber ich habe da so meine Befürchtungen.

(4) Carl: Das amerikanische Verteidigungsministerium hat jetzt mit HOLLYWOOD zusammen den Film BLACK HAWK DOWN gemacht, in dem ein CHESTERFIELD- oder HAMILTON-FILTER-artiges süßliches Bild vom Somaliakrieg gemalt wird. Jetzt werde ich langsam doch politisiert. Der Trick des Films ist, dass die oberflächliche Botschaft „Krieg ist schlecht“ ist, dass die unterschwellige Botschaft den Krieg aber als Normalität untermauert und als Quelle von Action, Gefühl und Heldentum darstellt. Allein die Tatsache, dass HOLLYWOOD sich ganz offen als Propaganda-Schmiede zur Verfügung stellt, ist ein Skandal. Die Somalia-Veteranen bei der Kinopremiere lobten einhellig den Realismus des Films und gaben ihrer Genugtuung darüber Ausdruck, dass ihr Schicksal nun dokumentiert sei. Ich habe noch nicht viele deutsche Stimmen zu diesem Propagandamist gehört. Der eine Fernsehbericht, den ich bislang gesehen habe, war ziemlich unkritisch. Er beschränkte sich auf die offiziellen Quellen und hatte keine eigene Meinung. Ich hoffe aber, dass zu diesem Film noch Stimmen laut werden. Es gibt immerhin auch kritische Schauspieler wie Robert Redford, die sich den Mund nicht verbieten lassen.

Redaktion in Kiel, 23.01.02

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