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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Es sei kurz darauf hingewiesen, dass seit gestern ein Register zur Chronik zur Verfügung steht. Es sind mit der Zeit doch unübersichtlich viele Themen angeschnitten worden, und wir brauchen dafür jetzt eine neue Ordnung. Hier sind die Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Maria: Mir geht manchmal im Kopf herum, was Sibylle am Anfang der 58. Nachricht als Reaktion auf Marcos Selbstversuch gesagt hat: Wie wäre es, wenn wir so offen leben würden, dass wir sogar alle Gedanken und Gefühle von anderen Leuten lesen könnten? Ähnlich wie die Engel in DER HIMMEL ÜBER BERLIN oder auch bei Deanna Troi aus dem Raumschiff Enterprise. Wenn man Marco so enthusiastisch davon reden hört, wie gut es ist, den Spielraum zwischen Privatem und Öffentlichem so klein wie möglich zu halten, könnte man meinen, es sei für die Gesellschaft nur eine Sache der Übung, mit einer solchen völligen Offenheit zu leben. Ich will das auch nicht prinzipiell bestreiten, aber ich habe doch große Zweifel daran, dass es ideal oder auch nur sinnvoll ist. Es hat natürlich etwas von kindlicher Unschuld, wenn man nichts dabei findet, seine momentanen Gefühle zu zeigen. Das ist ein weiterer doppelgesichtiger Begriff, wie Chong sie mag, nämlich die Schamlosigkeit, die in ihrer positiven Variante Unschuld heißt.

Das macht diese Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem aber erst interessant. Wir haben unsere Gesetze, die geschriebenen und die ungeschriebenen wie etwa die Etikette, nur damit kommen wir nicht weiter. Es ist ja kaum bestritten, dass unsere Gesellschaft zu verschlossen und zu muffelig ist. In einer von Offenheit geprägten Gesellschaft wäre viel mehr Gefühl, viel mehr Aufregung an der Tagesordnung. Wenn wir jeweils wüssten, was der Andere wirklich über uns denkt oder für uns fühlt, dann wäre das ein riesiges Durcheinander. Allerdings ein sehr heilsames, wie ich befürchte.

Projizieren wir das Phänomen auf die Ebene der progressiven In-Group, also einer Gruppe, die nach der Wissenschaft der Situation lebt und dem Prinzip des Feierns und des Vertrauens, nicht nach dem Egofraktal und dem Prinzip der Abgrenzung. Kleinere Geheimnisse wird es geben, auch Affektkontrolle ist bis zu einem bestimmten Maß sehr hilfreich und notwendig. Der Begriff ‚Affektkontrolle' ist aus Norbert Elias' Buch: ‚Über den Prozess der Zivilisation', ein Standardwerk der Soziologie. Der Affekt ist die unmittelbare Äußerung des momentanen Gemütszustands. Kontrolle. Wir hatten ja schon bei Helen Keller gesehen, dass eine gewisse Disziplin und Kontrolle notwendig war, damit sich das Mädchen entwickeln konnte. Es ist schwer, diese Grenze zu bestimmen.

Insgesamt bin ich der Ansicht, dass uns das Leben schlicht überanstrengen würde, wenn es gar keine Geheimnisse und keine kleinen Lügen gäbe. Wichtig für den Fortschritt der Gesellschaft ist aber, dass jeder Orte hat, wo er oder sie sich ausleben kann. Hemmungen, die dadurch entstehen, dass man aufgestaute Gefühle hat, sind destruktiv, Hemmungen, die dafür sorgen, dass niemand sich unberechtigt angegriffen fühlt, sind konstruktiv.

(2) Sibylle J.: Ich möchte euch auf ATTAC aufmerksam machen. Ich war am Wochenende auf einem ihrer Treffen in Frankfurt, das mir gut gefallen hat. Und ich denke, dass ATTAC für Ozzy und einige von euch sehr interessant sein könnte. Für die von euch, die ATTAC noch nicht kennen: Es ist eine internationale gesellschaftlich-politische Organisation, vielleicht auf dem Weg zu einer großen gesellschaftlichen Bewegung. Gegründet wurde ATTAC, glaube ich, 1998 in Frankreich. Hier in Deutschland sind sie bekannter geworden (zumindest bei mir) durch die Krawalle in Genua (anlässlich des G7-Treffens). Friedliche Demonstranten wurden von der italienischen Polizei niedergeprügelt. Unter den friedlichen Protestlern waren auch Leute von ATTAC.

Das Treffen, bei dem ich war, war eigentlich zum Austausch der ATTAC-Ortsgruppen gedacht. Aber es war auch für mich als außenstehende Sympathisantin interessant. Es gab verschiedene Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen. Neben organisatorischen, gruppenbezogenen (Wie mache ich Aktionen? Wie löse ich Konflikte? etc.) auch inhaltliche, z. B. zur WTO (World Trade Organisation) oder zu sozialen Sicherungssystemen. Der Schwerpunkt von ATTAC liegt darauf, die verschiedensten Themen in einen Bezug zur Globalisierung zu setzen und die Gefahren aufzuzeigen, die sich ergeben können. Und das zu kritisieren, was jetzt schon falsch läuft, dabei aber auch Alternativen aufzuzeigen. Es geht dabei, so wie ich es verstehe, nicht darum, die Globalisierung in Allem abzulehnen. Im Gegenteil, ATTAC als internationale Organisation, die neben Demonstrationen vor Allem auch das Internet für ihre Zwecke nutzt, ist selbst ein Beispiel für Globalisierung. Was ATTAC kritisiert, ist vor allem die Markthörigkeit. Ziel internationaler Politik ist es seit langem, möglichst alle Handelsschranken abzubauen – nicht nur für Waren, sondern auch für Dienstleistungen aller Art. Damit einhergehend ist die Privatisierung aller heute noch staatlichen Versorgungssysteme, wie Krankenkassen etc.. Das kritisiert ATTAC, weil dabei das Wohl der Menschen nicht mehr genügend berücksichtigt wird, sondern sich alles danach richtet, wie möglichst viel Gewinn gemacht werden kann – von einigen Wenigen, die das Kapital haben. Ein sehr wichtiger Punkt für ATTAC ist die Gerechtigkeit zwischen den armen und reichen Regionen der Welt.

Was ATTAC neben den inhaltlichen Schwerpunkten für mich – und ich denke auch für die Chronik – interessant macht, ist, dass hier Leute unterschiedlichster Weltanschauungen zusammentreffen und konstruktiv miteinander arbeiten. Dabei entstehen neben politischen Inhalten mit Sicherheit auch Mechanismen, um einen fairen Diskurs zu führen, und um Konflikte zu bearbeiten und zu lösen. Es werden Möglichkeiten gefunden, mit Differenzen umzugehen, diese auf Dauer auszuhalten. Diese Aspekte sind gesellschaftlich von großer Bedeutung. Und wenn ATTAC weiter besteht und sogar noch wächst und dabei seine offene basisdemokratische tolerante Struktur behält, sehe ich darin ein sehr großes gesellschaftliches Potential für Veränderung, zu einer Entwicklung weg von den üblichen hierarchischen Herrschaftsstrukturen, hin zu einer offeneren Gesellschaft, in der es Respekt jedem und jeder Einzelnen gegenüber gibt, und in der es um Argumente und nicht um Macht geht.

Auf dem Treffen am Wochenende habe ich gespürt, dass ich unter Menschen war, die diese gesellschaftlichen Veränderungen wollen. Auch der Organisation hat man das angemerkt. Es war alles sehr gut organisiert und man hatte trotzdem nie das Gefühl, dass irgendetwas von oben aufgedrückt war oder dass es den OrganisatorInnen um Macht ging. Durch dieses Treffen glaube ich wieder mehr daran, dass es viele gibt, die Veränderungen wollen, und die bereit sind, sich für etwas einzusetzen.

(3) Enno: Ich fühle mich irgendwie genötigt, Charles Bukowski in Schutz zu nehmen, dessen Name von diesem Conan-Typen missbraucht worden ist. Bukowski war ja kein Gewalttäter. Gut, er hat versaute Sachen geschrieben, aber da ist wohl noch ein Unterschied. Oder war er doch? Charles Bukowski steht jedenfalls nicht für gewalttätigen Sex, höchstens für provozierend offenen Sex. Er gehörte zu den Leuten, die ohne Hemmungen darüber schreiben, was los ist. Hier liegt auch der Ursprung von Bukowskis Literatur. Er wird leicht verlacht, weil er vor Obszönitäten nicht zurückschreckt, aber er ist dennoch ein guter Literat gewesen. So hat er zum Beispiel einige Gedichte geschrieben, die man von ihm nicht erwarten würde, wenn man ihn in eine Schublade zwängt. Sachen wie ‚The Peacock'.

Heute scheint es sehr lange her zu sein, dass er gewirkt hat. Er wird kaum noch beachtet. Das hat bestimmt mit der Gesellschaft zu tun: Leute wie Bukowski hatten es in den 60ern und 70ern leichter. Die Gesellschaft hat an Offenheit verloren. Dafür gibt es Annie Sprinkle, die kabarettistische Masturbationskünstlerin. Es ist ein verwässerter, kommerzialisierter und unaufgeklärter Umgang mit dem Thema Sex, den man beobachten kann. Ach so, noch kurz auf die Frage, warum ich Conan nicht auch in Schutz nehme: Nun, der ist ein Barbar, oder vielleicht nicht? Er heißt ja schon so, was soll man also anderes erwarten?

(4) Hermann T.: Ich frage mich, ob unsere Chronik auch so eine Art Taqrib ist. Mir gefällt der Begriff, weil er Raum lässt für eigene Assoziationen. Die Dinge näherbringen. Vielleicht spricht mich der Begriff deshalb an, weil ich diese Angewohnheit habe, Dinge, die ich nicht wirklich brauche, auszusortierten. Das gehört für mich auch zum Taqrib. Ich musste daran denken, als ich Silke P.s Beitrag in der 63 gelesen hatte. Zum Beispiel gehe ich manchmal durch meinen Garderobenschrank, und was ich zwei Jahre lang nicht getragen habe, kommt raus. Und so mache ich es regelmäßig mit meinem ganzen Besitz: Was ich offensichtlich nie benutze, bewahre ich nicht auf.

Dadurch bin ich mir nicht nur bewusst darüber, was ich eigentlich besitze, sondern ich umgebe mich automatisch mit den Dingen, für die ich auch Verwendung habe. An den Taqrib musste ich denken, weil es mir so vorkommt, als würden durch meine Art der Selektion die Dinge näher an mich herankommen, die ich brauche, weil die überflüssigen Dinge nicht mehr den Weg versperrren.

(5) Zoltan: Wenn ich es richtig verstanden habe, meint die Wissenschaft der Situation hier also ein handelndes Wissen, das auf eine Ausgeglichenheit jeder Situation bedacht ist. Nun sind die für die Analyse interessanten Situationen die Konfliktsituationen, denn wo kein Konflikt besteht, ist die Frage nach dem Recht beispielsweise uninteressant. Und Recht ist hier in der Chronik einer der zentralen Begriffe.

Für diesen Zusammenhang möchte ich einen Begriff des Linguisten Donald Schön beisteuern, nämlich ‚Frame Restructuring', also ‚Rahmenrekonstruktion'. In einem Aufsatz, den ich nicht mehr habe (Ich glaube, aus Ortony: ‚The Ubiquity of Metaphor'), schreibt Schön über den linguistischen Aspekt der Konfliktregelung. Er nennt das Beispiel eines Slums in der Großstadt. Das Problem ist, dass die Großstädter sich den Slum vorstellen als einen Schandfleck der Stadt, als Quelle von Störungen und einen Fremdkörper, während die Slumbewohner eine völlig andere Vorstellung hatten, denn die verbanden ihn mit Konzepten wie Heimat und Nachbarschaft. In solchen Fällen ist es schwierig, die Wissenschaft der Situation anzuwenden, weil die Situation für den einen so aussieht, und für den anderen anders. ‚Frame Restructuring' bedeutet, einen Rahmen zu finden, der übergeordnet ist und beide Sichtweisen integriert. Dass man also die Fakten sammelt, auf die sich beide Seiten verständigen können. Dann erst ist die Situation definiert und man kann sie analysieren und verhandeln.

Letztlich ist es die Frage nach der Objektivität, die hier berührt wird. Ludwig Wittgenstein war noch der Ansicht, dass es so etwas auf begrifflicher Ebene gäbe, in seinem TRACTATUS LOGICO-PHILOSOPHICUS. Das war ja bereits eine Art Wissenschaft der Situation. Nur war sie zu mathematisch. Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, von einer objektiv bestehenden Welt auszugehen. Es spielt auch keine Rolle, ob etwas unabhängig vom Betrachter existiert, denn erst durch das Betrachten bekommt die Sache einen Sinn, und erst durch diesen Sinn ist einem die Sache im Bewusstsein. Was nicht bewusst oder unbewusst ist, hat keine Bedeutung, würde ich sagen. Auch unsere gemeinsame Realität beruht auf Übereinkunft und ‚Frame Restructuring', nicht auf objektiven Gegebenheiten.

Redaktion in Kiel, 25.01.02

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