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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Simon: Ozzy und ich sind gestern lange an der Elbe spazieren gegangen. Wir haben Nina zu ihrer Oma nach Blankenese gebracht und sind dann bis zu den Landungsbrücken zurückgelaufen. Früher hatten wir das manchmal gemacht, vor zehn Jahren. Das war immer ein Riesenspaß, denn Ozzy wurde öfter erkannt. Wenn man durch Eppendorf läuft und bekannt ist, ist das eher anstrengend, weil die Leute in ihrem Alltag sind und Ozzy für die meisten Leute für eine Art Welt stand, die nicht wirklich existierte. Es verwirrte sie. Am Elbufer ist das etwas anderes. Die Leute verbringen dort ihre Freizeit und sind entspannter. Im Sommer wurden wir manchmal spontan zu Lagerfeuern am Strand eingeladen. Als Ozzy sich mit Brian Wilson's Vokalarrangements beschäftigt hatte und die BULLETS ihre a-capella-Phase hatten, gingen Ozzy, Maria, Carl, Olli und Michael auch manchmal am Elbufer entlang, um zu üben. Sie sangen Sachen wie MISTER SANDMAN, THE LION SLEEPS TONIGHT und ein paar Lieder aus der PET SOUNDS-LP von den BEACH BOYS. Eine zeitlang sangen sie überall, beim Spazieren Gehen, in U-Bahn-Hallen oder im BLUESLAND.

Kein Wunder also, dass wir gestern an die Zeiten zurückgedacht und sie mit heute verglichen haben. Es hatte früher Barrieren zwischen Ozzy und mir gegeben, und ich wusste nie so recht, warum. Nach dem, was seit Oktober alles passiert ist, wird mir einiges klarer. Es steckt einfach viel mehr hinter dieser ganzen Sache, und Ozzy hat sich immer schon damit beschäftigt gehabt. Er hat nie akzeptiert, dass man bestimmte Teile von ihm oder anderen einfach ausgeblendet hat, weil sie nicht mit dem übereinstimmten, was die Masse als normal empfunden hat. Er sagte auch damals schon, dass es bei uns ein verbrieftes Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gibt, und dass er dieses Recht voll in Anspruch nimmt.

John Coltrane, der berühmte Jazzsaxophonist, hat gesagt, dass der Mensch danach strebt, in das Größte und Beste hineinzuwachsen, das ihm möglich ist. Ich habe eine 90-minütige Radiosendung über ihn auf Kassette, wo er das sagt. Wenn wir uns über Alternativen zum System Gedanken machen, dann finden wir in solchen Aussprüchen wertvolle Hinweise, denn Künstler wie Coltrane und leben nach ihren eigenen Maßstäben. Sie sind frei, und was sie sagen, sagen sie nicht aus Zwang. Sie sind vielmehr auf einem Weg. Das ist genau der Grund, warum Künstler wichtig sind für die Gesellschaft. Sie sind unabhängig, und sie entwickeln ihre eigenen Werte aus der Realität ihres Lebens heraus. Sie hinterfragen alles, um an Wahrheit zu gelangen.

Ich denke, Ozzys Wut ist sekundär. Primär ist der kreative Drang, der sich in Songs äußert und anderen Dingen. Zum Streit mit dem Establishment und mit der Gesellschaft kam es erst, nachdem Ozzy gemerkt hatte, dass man seine Arbeit und seine Lebensphilosophie nicht anerkennt. Dass es so etwas wie innere Größe gibt, gilt in der Gesellschaft als obszön. Die meisten Leute haben keine Energie, um zu wachsen, sie verstehen auch nicht, was es bedeutet. Sie leben nach dem Liebe-ist-Schwäche-Prinzip, das Samantha D. in der 45. Nachricht erwähnt hat. So jemand wie Ozzy stellt für sie alles in Frage. Wer Ozzy glaubt, wird zwangsläufig aus seiner Welt herausgezogen und gelangt anderswohin. Kaum jemand ist aber bereit, seine eigene Welt in Frage zu stellen. In Worten vielleicht noch, in Taten aber nicht. Wenn man so nah an Ozzy dran ist wie ich, spürt man das sehr deutlich und konkret. Man spürt allerdings auch, dass Teile seiner Konflikte auch ihn in Zwänge bringen und unfrei machen können.

Nach den Kriterien der Gesellschaft gibt es immer Gründe, Leute wie Ozzy abzulehnen oder nicht wahrzunehmen. Wenn er mega-reich wäre, würde man ihm eher glauben, denn Geld ist bei uns Erfolg. Wenn er sich mit seiner Kunst abmühen würde und unter seiner Kunst leiden würde, würde man ihn auch eher akzeptieren, denn in unserer Gesellschaft ist es ein hoher Wert zu leiden. Leiden wird nämlich gerne mit Bescheidenheit verwechselt. Wer leidet, kann nicht arrogant sein. Wer leidet, dem geht es irgendwie schlecht, und so muss niemand neidisch sein. Wir reden ja dauernd davon, dass die Werte schief hängen, und dies sind wohl die Werte, um die es geht. Werte sind die Dinge, an die wir glauben und nach denen wir handeln.

Vielleicht sollten wir die Idee des ‚Frame Restructuring' hier aufnehmen, die Zoltan in der letzten Nachricht aufgebracht hat. Ozzys Rahmen ist, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist, und dass wir die wunderbare Möglichkeit haben, uns endlos weiterzuentwickeln, immer weiter zu wachsen, in das Beste, das uns möglich ist. Man braucht keinen Gegner, um so zu leben, keine Abgrenzung zu anderen, keine Konkurrenz und keinen Zwang. Das ist eine Perspektive für eine neue Zeit.

(2) Dieter Z.: Immer wieder kommen wir zu den Problemen von Kontrolle und Kontrollverlust und von Öffentlichkeit und Privatheit. Was öffentlich geschieht, muss kontrolliert sein, sonst wird man abgelehnt. Kontrollverlust dagegen steht für Schwäche. Ich sehe in diesen Zuordnungen den Kern unserer Fragen. Wir haben uns hier darauf geeinigt, dass gesellschaftlich das Mindestmaß an Kontrolle anzustreben ist, damit sich alle Leute möglichst frei entwickeln können.

Aber was bedeutet das konkret? Ich denke, wir verlassen hier bereits den gesellschaftlichen Rahmen und sind auf der individuellen Ebene. Denn um einen Kontrollverlust nicht als Verunsicherung zu verstehen, bedarf es eines individuellen Selbstbewusstseins, und man braucht Vertrauen. Vertrauen ist nichts anderes als Glauben. Selbstbewusstsein ist auch nichts anderes als Glauben, der Glaube an sich selbst. Dadurch nun, dass Kontrolle in unseren Köpfen für Sicherheit steht, verlieren wir mehr und mehr unsere Fähigkeit, an Dinge zu glauben, die nicht kontrolliert sind. Wir können auch deshalb nicht an uns selbst glauben, weil wir unkontrollierte Seiten in uns haben, die wir nicht akzeptieren können. Wir erwarten dort auch keine Wahrheit, obwohl unsere Träume uns etwas anderes sagen. Man kann nicht praktisch gegen Kontrolle sein, weil wir eine Ordnung zum Leben brauchen, sei es auf der individuellen oder der gesellschaftlichen Ebene. Man kann aber praktisch gegen den Kontrollverlust sein. Wir müssen zeigen, dass der Kontrollverlust etwas Bereicherndes ist, zeigen, dass die besten Popsongs unter Kontrollverlust entstanden sind, dass alle Visionen und Inspirationen aus Kontrollverlust entstehen. Woher sonst soll das Neue kommen? Aus kontrollierten Situationen kann es nicht wachsen.

(3) Marco H.: Als Schriftsteller erkenne ich, dass ich Möglichkeiten habe, mich durchzusetzen, ohne zu Gewalt zu greifen. Ozzy hat irgendwo gesagt, dass wir den Krieg auf die Worte verlagern sollen, um so Blutvergießen zu verhindern (Nachricht 50.1.6, der Red.). Das scheint mir der richtige Ansatz zu sein. Die Worte sollen unsere Schwerter sein. Dass das Argument aber wieder mehr zählt in unserer Gesellschaft, kann ich leider nicht bestätigen. Im Gegenteil, ich finde, dass man gerade in den heutigen Kriegszeiten deutlich sieht, wie wenig Gewicht ein gutes Argument hat, wenn die Mächtigen es nicht akzeptieren wollen. Sie hören einfach weg. Und das sind nicht nur die Politiker, sonder auch die Journalisten, die Eltern und die Lehrer.

Als Bush mit diesen fürchterlichen Vokabeln anfing und vom „Ausrotten“ und „dem Bösen“ und dem „langen Krieg“ sprach, da fragte die TAGESTHEMEN-Moderatorin Anne Will ihren Interview-Partner, ob es denn wohl bei diesen Worten bleiben würde. In solchen Fällen zeigt sich, dass das Wort bei uns kein so hoher Wert ist. Die Leute reden eben viel. Im Bewusstsein von Frau Will hat die Handlung mehr Autorität als das Wort. Genauer: Das Wort wird nicht als Handlung erkannt. Erst wenn Bush wirklich bombt, ist das Argument da. Ohne es zu merken oder zu wollen, hat die Journalistin gezeigt, dass sie an Gewalt glaubt. Das heißt nicht, dass sie Gewalt befürwortet, das würde ich ihr nicht unterstellen, aber die Gewalt hat ungleich mehr Autorität als Worte. ‚Wird es bei Worten bleiben,' oder werden Taten folgen? So die Logik. Es ist wichtig, dass das Wort wieder als Tat erkannt wird und nicht als bloßer Sprechakt.

Die gesellschaftliche Ablehnung engagierten Künstlern gegenüber ist ähnlich zu begründen. Wenn das Wort für jemanden nicht als Autorität zählt, wird er auf eine Handlung warten. Ein Song ist dabei auch keine Handlung, denn es sind wieder nur Worte. Wann wird der Künstler etwas tun? fragen sich manche, und sie merken nicht, dass er die ganze Zeit über etwas tut. Worte und Musik sind gewaltige Argumente. Im Grunde heißt politisch handeln bei uns, Gewalt auszuüben und Leute zu kontrollieren. Das ist, woran wir glauben. Es ist nicht unbedingt etwas Schönes oder Gutes, aber es sind Fakten, die wir verstehen können.

Wir leben in einer Gesellschaft von Menschen, die das Eine sagen und das Andere tun. Das offizielle Deutschland und das familiäre Deutschland liegen sehr weit auseinander. Weil die Anderen das Wort bei offiziellen Anlässen missbrauchen, tut man es selbst auch. Man erzählt irgendetwas, und wenn es nicht stimmt, braucht man kaum zu fürchten, dass die eigene Autorität dadurch untergraben wird. Schröder und Berlusconi und solche Leute machen es vor. Es zählt schließlich, was hinten dabei rauskommt, sagen sie, und nicht, was einer sagt oder nicht sagt. Auch für das geschriebene Wort gilt das. Will man zum Beispiel Parteien auf ihr Parteiprogramm festnageln, wird man vielleicht hören: ‚Ja gut, so steht es da offiziell, aber die Wirklichkeit sieht doch etwas anders aus.' Diesen Satz kann man heute auf eigentlich jeden Text anwenden. Die Großen machen es ja vor. Nehmen wir nur die UNO-Resolutionen gegen Israel, die seit Jahrzehnten nicht umgesetzt werden. Oder die Missstände in anderen Ländern. Solche Dinge führen uns dazu, dem Wort keinerlei Bedeutung mehr zuzumessen, da es andere Dinge gibt, an denen sich das Weltgeschehen orientiert, vor allem Gewalt.

Das muss auch der Grund dafür sein, dass Bücher wie die Bibel heute einen eher privaten Charakter haben. Die ganze Säkularismusdebatte basiert darauf, den Glauben und das Wort aus der Politik und damit der Gesellschaft zu entfernen. Wenn man die Bibel aber lebt und sich von ihr sogar zu Handlung motivieren lässt, holt man den Glauben aus der Privatheit in die Öffentlichkeit. Deshalb ist die Bibel subversiv. Weil man das aber so nicht sagen möchte, sagt man lieber, dass der Koran und der islamische Glaube subversiv und gefährlich sind. In einem Gedicht habe ich das einmal so ausgedrückt:

„Die Verschleierten
im Raps, mitten darin, sie sagten:
Wir stehen im Olivenhain.“ "

(4) Claudia A.: Ich kann immer noch nicht genau verstehen, was ihr da eigentlich tut. Ihr scheint so entschlossen auf einem Weg zu sein. Glaubt ihr denn wirklich, etwas verändern zu können? Ich meine, das haben schon so viele gedacht. Außerdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, warum Ozzy sich so fühlt, als würde ihn keiner akzeptieren. Ich denke, ich akzeptiere ihn schon. Und ich bin ganz normal. Es sieht seltsam aus, wenn jemand damit hausieren geht, dass er ausgegrenzt wird. Es fällt mir schwer, die Autorität von so jemandem anzuerkennen. Aber seine Gedanken und seine Musik akzeptiere ich bestimmt.

Redaktion in Kiel, 27.01.02

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