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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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An dieser Stelle möchte ich ankündigen, dass die Chronik mit der 96. Nachricht erst einmal beendet sein wird. Bestimmt könnte man noch einige Jahre so weiter machen, aber ich glaube nicht, dass das sinnvoll ist. Außerdem werde ich dann auch genug haben, denn ich muss ja ständig bei der Sache sein. Richtet euch also auf diese Zeitbegrenzung ein und denkt daran, bis Ende März alles gesagt zu haben, was ihr sagen wollt. Hier sind die Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Silke P.: Ich habe den Eindruck, als würden wir dem Geheimnis des BLUESLAND-Brandes auf der Spur sein, dabei haben wir gar keine Spur. Ich bin immer noch Ansprechpartnerin für dieses Thema, auch wenn sich herausgestellt hat, dass Maja die Leitung übernehmen sollte. Sie kennt einfach mehr der betreffenden Leute. Als wir am Freitag bei Maria saßen und über das BLUESLAND sprachen, wurde das klar. Maja hat mich gefragt, ob es mir wichtig sei, die Situation zu leiten, aber es war mir nicht wichtig. Ich möchte wissen, was damals passiert ist, das ist alles. Deshalb habe ich den Faden aufgenommen, den die BULLETS bereits auf den Tisch gebracht hatten. Im Gegenteil, die Tatsache, dass Maja sich da so reinhängt, ist mir sehr recht.

Ich musste unwillkürlich an den Machtkampf zwischen Herrn Stoiber und Frau Merkel denken, denn einige der Anwesenden bei Maria hatten offensichtlich in diesen Bahnen gedacht. Aber es ist der völlig falsche Rahmen. Ich hatte mich kaputt gelacht über die Leute, die annahmen, ich wäre gekränkt. Was für ein Blödsinn! Aber bis zuletzt konnten einige der Anwesenden, die sich jetzt wiedererkennen werden, während sie dies lesen, nicht davon ablassen, in diesem Rahmen zu denken. Um etwas zu Frau Merkel zu sagen: Herr Merz hatte ganz Recht mit seiner Bewertung der Situation. Sie zeigte, dass sie eine starke Frau ist, die den Überblick hat und sich selbst zurückstellt, wenn es der Situation dienlich ist, bzw. der Partei. Es war die Opposition, die aus ihr eine Verliererin machen wollte, die sie gar nicht war. Und die Presse natürlich. Selbst Herr Deggerich von SPIEGEL-ONLINE, einer der fähigsten Journalisten unseres Landes, konnte sich den Spott nicht verkneifen. Ich will jetzt mal nicht wiederholen, was er da getitelt hat, und wie er zu diesem Titel gekommen ist. Wichtig erscheint mir, in welchen Rahmen oder Szenarien da gedacht wird. Natürlich, wenn man jemanden als Verlierer sehen möchte, passt ein solcher Rahmen ganz gut, ob er auch zu der gegebenen Situation passt, ist eine ganz andere Frage.

Ich muss dazu sagen, dass ich wesentliche politische Entscheidungen der Angela Merkel für falsch halte, dass ich sie also nicht wählen würde, aber als Persönlichkeit liegt sie für mich Längen vor Herrn Stoiber, der mir populistisch erscheint.

Was nun das BLUESLAND angeht, so gibt es eine angeregte Diskussion hinter den Kulissen, und derzeit mailt mir Maja täglich ihren Bericht. So kommen wir beide auf unsere Kosten. Im Moment bilden die Spannungen im BLUESLAND mitte 91 für uns den Ausgangspunkt der Tat. Vorher konnte niemand ein Interesse an der Zerstörung gehabt haben. Eine politisch motivierte Tat schließen wir nicht aus. Auch private Motive könnten eine Rolle gespielt haben. Es ist klar, dass wir keine Verdächtigungen aussprechen, aber wir haben ohnehin kaum welche.

(2) Mo: Über die Geschichte mit Helen Keller habe ich lange nachgedacht. Natürlich steht sie hier nur sinnbildlich für ein bestimmtes Phänomen, nämlich die Frage, inwieweit Kontrolle, und vor allem Disziplinierung, notwendig sind. Im Grunde ist es die Frage, wie wir Kinder überhaupt erziehen sollen. Erziehung bedeutet eigentlich immer, sich über den anderen zu stellen und ihn zu manipulieren. Das muss auch nichts Schlechtes sein. Wir haben ja bereits gesagt, dass viele Situationen geleitet werden müssen. Wenn ich mit dem Bus nach London fahre, leitet der Busfahrer die Situation. Der manipuliert mich zwar nicht, weil er keine didaktische Aufgabe zu erfüllen hat, aber er steht in der Reisesituation über mir. Er fährt den Bus und entscheidet, wo der Bus hält usw. Didaktische Situationen sind von besonderer Art. Eine Person A leitet die Situation, in der eine Person B lernt. Ich wäre dankbar, wenn Herr Webmaster aus seiner Depression erwachen und uns darüber berichten könnte, was in seinem Situationslexikon zum Eintrag „Didaktik“ steht.

Die Imagisten, eine Gruppe von Dichtern in den 1910ern um Ezra Pound, D.H. Lawrence, Amy Lowell, F.S. Flint und anderen, denen auch der große T.S.Eliot nahestand, lehnte Didaktik in der Dichtung rundheraus ab. Damit sagten sie aus, dass sie nicht daran glaubten, dass man gezielte Veränderungen am Rezipienten des Textes erreichen kann bzw. soll. Im Grunde stellten sie den traditionellen Begriff der Lehre damit in Frage.

Im Falle der Helen Keller ist es zentral zu beachten, dass ihre Lehrerin darum bemüht war, die individuellen Fähigkeiten des Kindes ans Tageslicht zu bringen. Sie wollte ihr nicht etwas aufpfropfen oder eingeben, sondern sie wollte die Entwicklung des Kindes fördern. Deshalb ist aus dem Kind auch etwas geworden. Wenn Anne Sullivan, die Lehrerin, zu Gewalt gegriffen hat als letztes Mittel, dann war es keine permanente Gewalt, sondern eine des Augenblicks. Es war keine unterdrückende Gewalt. Das Problem ist, dass man diese Art von Gewalt überhaupt nicht von der anderen Art wegdefinieren kann. Oder doch? Also, ich kann es nicht.

(3) D. Hofstaedter: Wenn unsere Handlungen und unsere Gefühle allein vom Bewusstsein gesteuert wären, wäre es durchaus leichter, individuelle und gesellschaftliche Situationen zu analysieren. Aber der Mensch ist kein Roboter. Wir haben ein Unterbewusstsein, und dieses Unterbewusstsein steuert uns in wesentlichem Maße. Wir tun viele Dinge, von denen wir nicht verstehen, warum wir sie tun. Und dabei meine ich nicht die Zwänge, die uns durch unser Umfeld vorgegeben werden, sondern Dinge wie unsere Träume und die Wahl unserer Freunde und solche Dinge. Das Unterbewusste lässt sich nicht auf die gleiche Art analysieren, wie das Bewusste. Es entzieht sich gewissermaßen der Wissenschaft. Auch die Psychologie kann nur bestimmte Hinweise geben, so wie es seit der Zeit von Siegmund Freud geschieht.

In der Trance tritt das Unterbewusste in den Vordergrund. Ich kann leider nicht viel aus eigener Erfahrung dazu sagen, und das ist auch ein Grund dafür, warum mich diese Chronik so interessiert, denn einige der hier Schreibenden sind offensichtlich in der Lage, tiefe Trancen zu erreichen. Zumindest bei Ozzy, Marco H., Hanna G., Marion C. und Samantha D. kann man das deutlich erkennen. Natürlich ist das Phänomen der Trance etwas, das jeder von uns kennt, etwa, wenn man beim Tanzen im Rhythmus der Musik versinkt, auch wenn man Liebe macht oder beim Sport, es gibt Hunderte von Beispielen.

Auch Drogen gehören zu Trance-induzierenden Mitteln. Einige Schamanen bei Naturvölkern nehmen rituell Drogen wie Marihuana oder Pilze, um zu anderen Orten zu gelangen, von denen aus sie dann sprechen. Die Einnahme solcher Drogen zu bestimmten Zwecken ist nicht in allen Gesellschaften oder zu allen Zeiten tabuisiert. Ich stimme auch durchaus Chong zu, der darauf hinwies, dass Cannabis aus gesellschaftlichen Gründen tabu ist und nicht aus Gründen der Situation, also der Gesundheit oder ähnlichem. Es hat wohl eher mit der Entfremdung zu tun und der Verkrustung der Gesellschaft. Man braucht nur an den Weihrauch in der Kirche zu denken. Weihrauch ist auch eine Droge. In orientalischen Kirchen und – so weit ich weiß – auch in südeuropäischen Kirchen ist das Verbrennen und Schwenken von Weihrauch ein Mittel, um die Gläubigen zu stimulieren, damit sie ihrem Unterbewusstsein Raum geben und die spirituellen Erlebnisse in der Kirche besser aufnehmen können. Es gibt hin und wieder sogar Forderungen, mit dem Weihrauch aufzuhören, damit die Gläubigen, die mit dem Auto zur Kirche fahren, nüchtern bleiben. Oder nehmen wir das Orakel von Delphi. Aus einer Erdspalte entströmte ein berauschendes Gas, welches das Medium zu ihren Weissagungen stimulierte. Vor kurzem erst hat man dieses Gas identifizieren können, aber ich habe den Namen vergessen.

Doch zurück zum Bewusstein und Unterbewusstsein. Einige meiner Probanden berichten übereinstimmend, dass sie in der Trance das Gefühl hatten, ihr Bewusstsein würde mit dem Unterbewusstsein verschmelzen. Anderen kam es eher so vor, als wäre das Bewusstsein ganz gewichen. Die gesellschaftlichen Ängste, von denen hier oft die Rede ist, haben damit zu tun, dass die Menschen ihr Unterbewusstsein nicht gut kennen. Sie fürchten den Kontrollverlust, der mit der Trance einhergeht, weil sie ihrem Unterbewusstsein nicht über den Weg trauen. Künstler hingegen fürchten den Kontrollverlust nicht, weil sie ihn erforscht haben. Als etwa Ozzy den Song EVERYBODY TO BE FREE geschrieben hatte – der für mich zweifellos aus einer Tieftrance stammt -, muss es für ihn ein Gefühl gewesen sein, als wäre er aus einem Traum erwacht. Wenn solche Kunstwerke das Produkt von Kontrollverlust sind, dann ist es klar, warum Künstler ein völlig anderes Verhältnis zu ihrem Unterbewussten haben. Sie leisten eine Art Traumarbeit, aber eine solche, die analysierbar und reproduzierbar ist. Man kann sich den Song mehrmals anhören, einen Traum jedoch vergisst man schnell wieder. Ich frage mich, ob jemand aus der Chronik etwas über Träume schreiben möchte.

Ein letzter Punkt: Ich will nicht ausschließen, dass es in der Trance Einflüsse von Außen geben könnte. Immerhin nehmen viele Schamanen und Medien für sich in Anspruch, dass durch ihren Mund eine Stimme spricht, die nicht ihr Unterbewusstsein widerspiegelt, sondern von Außen kommt. Oft wird es die Geisterwelt genannt, wobei man hier nicht zu sehr romantisieren sollte, denn ‚Geist' ist nur ein Begriff, um über die Sache sprechen zu können. Im orientalischen Kontext sind es – so weit ich weiß – die Dschinnen. Es gibt sehr glaubwürdige wissenschaftliche Studien über Phänomene wie erfolgreiche Exorzismen und Stimmen aus der Geisterwelt, die nahelegen, dass die Rätsel dieser Welt noch lange nicht erschöpft sind. Und es spielt dabei nicht einmal eine Rolle, ob diese Dinge rein psychologischer Natur sind, oder ob es tatsächlich so etwas wie eine Geisterwelt gibt.

(4) Robert A.: Bei dem Selbstversuch von Marco ist mir ein Satz ganz besonders aufgefallen, nämlich der mit dem Gewissen. Er sagte, dass er sich vorgestellt hat, er sei selbst die Kamera, die über seinem Kopf schwebt, und dass er sich also selbst beobachten würde. Dadurch hätte er ein neues Verständnis vom Gewissen entwickeln können. Vorher schrieb er, er hätte sich vorgestellt, Gott wäre diese Kamera, und das hätte nicht viel verändert. Ich frage mich, welche Beziehung zwischen Gott und dem Gewissen besteht. Ist Gott vielleicht das Gewissen? Für einen Menschen, der nicht an Gott glaubt, klingt das wie eine plausible Erklärung.

Ich muss daran denken, was Herr Lutfi über Ghazali gesagt hat. Dass der doppelt argumentiert hat. Ist das so etwas Ähnliches? Wenn man seine ethischen Normen aus der Bibel oder dem Koran zieht, dann beruft man sich darauf, dass es Gottes Wort ist, man beruft sich also auf Gott. Wenn man sie aus dem Gewissen zieht, ist man selbst die Quelle, der Mensch. Die ganze Säkularisierungskritik in beiden Richtungen, Okzident zu Orient und umgekehrt, wäre bedeutungslos, wenn man herausfinden würde, dass man letztlich sowieso zu den gleichen Ergebnissen kommt! Es könnte ja immerhin sein, dass die tiefer liegenden Werte in beiden Kulturen gleich sind, dass sie sich nur an der Oberfläche unterschiedlich ausgebildet haben. Es bleibt die Frage, was das Gewissen eigentlich ist, und wie man aus ihm die richtigen Normen ableitet.

Redaktion in Kiel, 29.01.02

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