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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Ozzy: Vorhin hatte ich ein längeres Telefongespräch mit Ole Seelenmeyer vom DEUTSCHEN ROCK- UND POPMUSIKERVERBAND, über den Robert in der vorigen Nachricht gewettert hat. In dem Telefonat hat Ole einige Dinge klar gestellt. Jetzt weiß ich, dass die GEMA sogar tatsächlich versucht hat, mit finanziellen Mitteln Einfluss auf Ole Seelenmeyer zu nehmen, und dass Ole das abgelehnt hat. Das hätten wohl nur wenige getan, das erkenne ich voll an. Insofern sind die Anschuldigungen von Robert haltlos. Ole hat auch erklärt, dass er aus dem Grund dazu aufruft, in die GEMA einzutreten, dass die Popmusiker dadurch eine personenmäßige Übermacht bekommen und damit die Macht. Das ist ein Argument, das ich nicht genug berücksichtigt habe.

Abgesehen von seinen Argumenten hat mir das Telefonat auch den Eindruck vermittelt, dass Ole ein aufrichtiger und engagierter Mensch ist. Ehrlichgesagt kenne ich ihn auch so von früher. Daher bin ich froh, ihn am Dienstag in Lüneburg sehen zu können, denn damit werden sich bestimmt ein paar Missverständnisse klären lassen. Es handelt sich allerdings nicht nur um Missverständnisse, sondern auch um kollidierende Wege.

Ich verstehe, dass Ole tut, was er kann, und Ole ist okay. Das Problem besteht darin, dass ich ungefähr so bin, wie ein vollbeladener schwerer Lastwagen mit Anhänger, der mit hundertdreißig Sachen eine abschüssige Landstraße herunterbrettert. So könnte man das etwa ausdrücken. In meinen früheren Beiträgen habe ich detailliert dargelegt, dass ich mich nicht mehr aufhalten lassen will. Es sind politische Gründe, und es sind persönliche Gründe. Es sind gute Gründe.

Politisch ist Ole auf dem jetzigen Stand mein Gegner, weil es mir nicht schnell genug geht mit den Veränderungen. Ich warte nicht. Es gibt keinen Grund zu warten. Persönlich fühlte ich mich von Ole nicht ernst genommen und unterschätzt. Meine These ist, dass Einzelpersonen als Träger politischer Handlungen flexibler und plastischer sind, um größere Veränderungen herbeizuführen und, jawohl, auch zu symbolisieren. Dass also Rock'n'Roller stärker in die Öffentlichkeit treten sollten, nein: müssen, mit der Macht ihrer Liebe und ihrer Wut. Das sehe ich als Pflicht des Rock'n'Rollers. Ich werde vielleicht nicht immer so politisch sein wollen, aber heute muss ich es, denn ich will Veränderungen. Und ich will mein Recht in Anspruch nehmen, meine Persönlichkeit frei entfalten zu können. Anders komme ich nicht durch.

Ich wäre froh, wenn sich Oles und meine Kraft in der GEMA-Frage verbinden könnten, denn wir haben dieselben Ziele und sind beide gläubige Menschen. Ich greife niemanden ohne Grund an und niemanden, mit dem ich nichts zu tun habe.

ON THE LONG RUN (Audio): MP3

(2) Maria: An dieser Stelle scheint es mir geboten, ein wenig kontrollierend einzuschreiten, was Ozzy angeht. Diese Männer! Immer mit dem Kopf gegen die Wand, richtig? Lassen wir doch bitte die Situation nicht außer Acht! Die ganze Geschichte geht zurück auf Ozzys Angenervtheit auf die GEMA. Einer der Gründe, warum wir BULLETS damals nicht richtig weiterkamen, war, dass Ozzy zunehmend aggressiv wurde, was das Thema der Unterhaltungsmusik angeht. Er sah und sieht sich degradiert, und er spürt eine Klassenschranke zwischen sich und den sogenannten „ernsten Musikern“, denn Ozzy meint es auch ziemlich ernst. Sonst hätte er nicht kürzlich den Song MY COLLAR IS NOT WHITE ENOUGH FOR YOU geschrieben, denke ich.

Die Sache hat sich jedenfalls so entwickelt, dass aus Protest heute keiner von Ozzys Songs bei der GEMA angemeldet ist. Das bringt Sekundärprobleme mit sich, weil zum Beispiel die Radiosender im Prinzip nur GEMA-Songs auf ihrer Playlist haben, und dass eine Platte ohne eine LC-Nummer (Label Code Nummer) keinen offiziellen Status hat. Das behindert faktisch Ozzys Karriere. Er möchte weiter. Seit ein paar Tagen spielt er wieder Gitarre ab und zu. Taqrib, sagt er. Er macht sich fit. Es existieren Pläne für eine CD mit neuem Material. Genau genommen – und wer Ozzy kennt, den wird das nicht besonders wundern – sind die Tracks für die CD bereits detailliert ausgewählt worden, und es gibt auch bereits erste Demos und Leadsheets für die Musiker. Es sind allerdings bisher nicht viele Musiker da, weil die Leute von füher ihre Jobs haben oder andere Bands. Ozzy braucht Leute, die konzentriert bei der Sache sind für dieses Projekt, am Besten hier in Hamburg. Ich kenne die Songs inzwischen, und sie sind cool genug. Ich bin gespannt auf die CD.

Diesen Hintergrund muss man berücksichtigen, denn es geht hier nicht um Rivalitäten oder Antipathien gegen den DEUTSCHEN ROCK- UND POPMUSIKER-VERBAND. Mit seiner Platte kann Ozzy etwas Neues aufbauen. Er hat die Songs ausgesucht, die beim Publikum am besten angekommen sind. In dieser Atmosphäre ist das Problem GEMA für Ozzy sehr aktuell.

(3) Micki: Jetzt habe auch ich endlich von der Chronik gehört. Das hätte vielleicht auch schon früher passieren können, aber ich gehöre noch nicht zu der vernetzten Gesellschaft. Maja hat mich aufgestöbert. Ich benutze das Internet von einem Freund aus. Es kommt mir so vor wie die Zeit, als der Fernseher erfunden wurde und die Leute sich bei den Priviligierten zusammenfanden, um das neue Medium kennen zu lernen. Allerdings, wie gesagt, ich hänge da etwas hinterher, denn mir ist das Internet eigentlich zu abstrakt, und ich brauche es auch nicht wirklich. Es war aber lustig, von Silke in der 47. Nachricht zu lesen, wie es damals war, am letzten Abend des BLUESLAND. Ja, ich hatte tatsächlich eine Ahnung damals. Und es war mir auch klar, dass Silke und Diana mir das nicht abnehmen konnten. Darum ging es mir in dem Moment auch gar nicht. Sondern darum, dass ich eine Ahnung hatte.

Wie ihr euch vorstellen könnt, hat mich dieses Erlebnis nie wieder verlassen. Es hat euch ja auch nicht mehr verlassen, wie man an der Chronik sieht. Und zwar war es genau die Szene, die Silke beschrieben hat, wo wir zu viert im BLUESLAND an einem Tisch saßen, Silke, Diana, Torsten und ich, zwei Stunden, bevor das Teil abgefackelt ist. Es war wirklich ein schockierendes Ereignis. Ich habe noch Jahre später davon geträumt, und im Laufe der Jahre rückte die Person Torstens mehr in den Vordergrund. Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich kannte ihn aus dem BLUESLAND, und als es weg war, sahen wir uns fast nie mehr wieder. Meistens spielten wir Billard zusammen. Ich kenne nicht mal seinen Nachnamen.

Mir ist jedenfalls im Nachhinein eingefallen, dass da ein ganz feiner Geruch an ihm war an diesem Abend, und das war Benzin. Als ich das erst mal an der Oberfläche hatte, fand ich darin einen rationalen Grund, warum ich diese Ahnung hatte. Ich habe das Maja so erzählt, und sie meinte, ich sollte es in der Chronik schreiben. Ich möchte auch hier keine direkte Anschuldigung vorbringen, denn ich selbst benutzte in dieser Zeit ein Benzinfeuerzeug. Aber ich denke, ich kann das unterscheiden, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es ein anderes Benzin war. Torsten und ich hatten vorher Billard gespielt, ziemlich lange, da waren auch noch andere Leute dabei. Und auch, als wir den Abend zusammen verbrachten, merkte ich, wie nervös er war. Er selbst meinte, er hätte gerade eine schwierige Zeit. Ich würde diesen Verdacht nicht aussprechen, wenn er nicht während des Billardspielens für eine Stunde weg gewesen wäre. Ich weiß das genau, weil ich ihn gesucht hatte, wegen der Revanche-Partie. Ich würde ihn fragen, aber er ist nicht aufzufinden. Vielleicht liest dies hier jemand, der an dem betreffenden Abend mit uns Billard gespielt hat. Da waren bestimmt zwölf oder vierzehn Leute da. Ein paar von der MOTORGANG waren da. Vielleicht ist denen etwas anderes aufgefallen, wenn sie das hier lesen.

(4) Maja: Micki ist unsere erste heiße Spur im BLUESLAND-Fall. Wir haben gestern bei Maria mit ein paar Leuten zusammengesessen und überlegt, ob wir diesen Verdacht in dieser Öffentlichkeit präsentieren können, und wir tun es, denn sonst kommen wir nicht weiter. Jens hatte früher auch schon einen Benzingeruch erwähnt. Und er hatte an jenem Abend ebenfalls Billard gespielt. Leider war er gestern nicht bei Maria, sonst hätten wir ihn gleich fragen können, ob er sich an etwas erinnert.

Aber ich schreibe heute eigentlich aus einem ganz anderen Grund. Ich habe mir diese Zeitschrift gekauft: „G /GESCHICHTE“. Ich mag diese Zeitschrift, weil sie Geschichte leicht verständlich und plastisch vermittelt, ohne das übliche konservative Geschnörkel. Von der Februar-Ausgabe bekam ich zuerst einen schlechten Eindruck, weil das Titelblatt einen betenden Muslim zeigt, und einen Panzer im Hintergrund. Titel: „Der unheilige Krieg. 3000 Jahre Glaubenskampf und Terrorismus“, und ich dachte zuerst: „Aha, Kulturkampf und die These, dass der Islam Dinge durchmacht, die wir nach dem Mittelalter überwunden haben, weil wir die Aufklärung hatten etc.“, aber ganz so war es dann auch nicht. Es ist schon doch eine gute Zeitschrift. Dann ist da nämlich wiederum eine Clausewitzkritik drinnen, die nicht zu meinen Verdächtigungen passt. Ich habe aber auch noch nicht alles durchgelesen, weil ich grad so viel mit dem BLUESLAND-Fall zu tun habe.

Nur ein Artikel hat mir regelrecht den Atem genommen, auf Seite 37-39, über die RAF: „Kampf dem ‚System'“. Die Verfasserin des Artikels, Frau Karin Feuerstein-Praßer, fasst darin die Geschichte der Systemgegner der 70er zusammen, an deren extremen Ende die RAF stand. Mir ist deshalb ein Schauer über den Rücken gelaufen, weil die Extremisten der 70er in einigen wesentlichen Punkten mit dem zusammengehen, was wir hier ‚progressiv' nennen. Und solche Sätze wie: „Und weil die ‚proletarischen Massen' auch in den 1970-Jahren keineswegs von den Errungenschaften der Wohlstandsgesellschaft ‚befreit' werden wollten, galt es zunächst, den Boden für einen revolutionären Umsturz zu bereiten.“ Und dann ging das mit der RAF langsam los, 1971. Außerdem sagt sie, dass Lenin gesagt hat, in Deutschland könne es keine Revolution geben, weil die Deutschen beim Sturm auf einen Bahnhof zuerst eine Bahnsteigkarte lösen würden.

Ich habe das Gefühl, dass wir genau hier ansetzen. Nein, nicht bei Lenin, sondern 1971. Die RAF hat wahrscheinlich gegen das gleiche Establishment gekämpft wie einige von uns, aber sie haben fürchterliche Gewalt verübt. Sie sahen keinen anderen Weg. Wir sehen durchaus einen anderen Weg. Wir fühlen uns selbst in bestimmten Situationen als Establishment, wir kennen den Gegner irgendwie von Innen her. Wie gesagt, für uns sind diese Gegnerschaften sportlicher Natur. Mir fällt zwar immer wieder mal auf, dass Ozzy eine eher militärische Metaphorik hat, aber was spricht schon dagegen, die Worte als Schwerter anzusehen, wie Marco es ausgedrückt hat, wenn man physische und strukturelle Gewalt damit überwinden und ersetzen kann? Immerhin wird es bestimmt ein paar Konservative geben, die unsere Forderungen nach Veränderung für radikal halten, und die dann an die 70er-Jahre denken. Dazu kann ich nur sagen, dass wir uns eher an Pippi Langstrumpf orientieren, deren Fantasie der Gewalt ihrer Umgebung überlegen war.

(5) Thomas G.: Ich frage mich, was an Roger überhaupt noch ein Punker ist, wenn er Iggy Pop so fertigmacht. Iggy wollte die 60er zerstören, und das ist ihm ganz gut gelungen. Insofern hat er sein Ziel erreicht. Kann man das von Bob Dylan zum Beispiel auch behaupten? Meiner Ansicht nach steht seine Persönlichkeit in krassem Widerspruch zu seinen Songtexten. Er singt offensichtlich politische Sachen, und dann sagt er in einem Interview, Politik würde ihn gar nicht interessieren. Das ist doch Quatschkram. Und wie soll man ihm diese bessere Welt abkaufen, die er in seiner Musik deutlich beschreibt, wenn er immer so muffelig durch die Gegend rennt! Ist doch wahr! Was gibt denn Bob Dylan damit für eine Botschaft aus? Ich lese daraus: Ich bin zwar Bob Dylan und supernett, aber wenn du dich mit mir identifizierst, dann wirst du genauso ein vermuffelter Griesgram wie ich.

Redaktion in Kiel, 10.02.02

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