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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Heute präsentiere ich unter anderem zwei Antworten zu den Aussagen von Micki über den Fall BLUESLAND. Es ist schon nicht so leicht, diese Situation objektiv zu erfassen. Wie soll ein Subjekt objektiv sein? Und wenn ich zum Objekt werde, bin ich zwar objektiv, aber ich kann nichts mehr darüber aussagen, denn Objekte machen keine Aussagen. Für einen Historiker wie mich, der darüber hinaus dazu aufruft, eine Weltgeschichte zu schreiben, mit der alle Weltbürger zufrieden sein können, ist das eine knifflige Angelegenheit. Vielleicht hat sich der Webmaster so ähnlich gefühlt, als ihm das Fraktal in die Räder kam. Wie sagte John Coltrane doch so schön: „Es gibt so vieles, das wir nicht verstehen, und trotzdem machen wir mit dem Leben weiter.“ Hier sind die Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Jens K.: Da habe ich wohl etwas verpasst in den letzten Tagen. Es geht ja ziemlich rund im Moment. Ich war für eine Weile beschäftigt und konnte erst heute in Ruhe die letzten Nachrichten lesen. Am Interessantesten fand ich natürlich Mickis Beitrag, und ich kann ein paar Sachen ergänzen. Ich erinnere mich daran, dass an dem besagten Tag das BLUESLAND relativ leer war. Der Billardraum war der einzige Ort, wo etwas los war. Es waren etwa 12 oder 15 Leute dort. Ich erinnere mich auch an Micki und Torsten und daran, dass Torsten irgendwann verschwunden war. Schraube war da, Guido war da, Enno, Michael und ein paar andere Leute. Ich war ziemlich konzentriert wegen des Spiels, aber insgesamt herrschte eine eher ausgelassene Stimmung. Die meisten Leute, die an diesem Abend im Billardraum waren, waren aus dem Verein. 1989 hatten wir ihn gegründet. Ich spielte mit Enno, und wir hörten gleichzeitig mit Micki und Torsten auf und gaben die Tische weiter an die Leute, die schon darauf gewartet hatten.

Wie ich in meinem ersten Statement bereits gesagt habe, und wie ich damals auch zu Protokoll gegeben hatte, war ich etwa eine halbe Stunde oder zwanzig Minuten vor dem Brand im Keller, und ich bemerkte einen Benzingeruch. Aber ich glaube nicht, dass Torsten etwas mit der Sache zu tun hat, denn als Sara und ich wieder nach oben gingen und oben auf der Treppe angekommen waren, kamen uns Micki und Torsten entgegen, die das BLUESLAND gerade verließen. Micki sagte etwas wie: „Irgendwas stimmt hier nicht“, als er an uns vorbeiging, aber ich habe ehrlichgesagt nicht viel dabei gedacht, denn ich hatte einen völlig anderen Eindruck von diesem Abend, und Sara eigentlich auch. Ich hätte nicht gedacht, dass da irgendetwas dran ist, was Micki gesagt hat, das muss ich zugeben. Die Indizien scheinen mir jedenfalls eher schwach zu sein. Ich würde auch gerne wissen, ob Micki diesen Benzingeruch schon im Billardraum wahrgenommen hat, denn ich habe nichts gerochen. Doch! Moment mal. Gerade war mir, als ... ich bin nicht sicher. Jemand hat ... jemand hat die Kugeln poliert! Guido hat die Kugeln poliert, jetzt fällt es mir wieder ein. Das war, als Torsten draußen war. Das Mittel, mit dem wir die Bälle behandelten, roch ziemlich scharf. Ich fürchte, wir sind noch nicht viel weitergekommen.

(2) Mark R.: Ich möchte direkt auf Micki antworten, der Torsten verdächtigt hat, etwas mit dem Brand zu tun zu haben. Ich glaube nicht, dass das gerechtfertigt ist. Ich kannte Torsten damals sehr gut, und wir hingen oft ab zusammen. Er hatte überhaupt keinen Grund, so etwas zu tun. Auch ich war an dem besagten Abend im Billardraum. Es kann sein, dass er für eine Stunde mal weg war, natürlich, es war sowieso ein Kommen und Gehen im Billardraum. Ich hatte auch nach meinem Spiel eine Weile bei Mo gesessen und bin später wieder reingegangen. Und wenn ich ein Feuer legen will, dann werde ich mich auch eher nicht den ganzen Abend in dem Laden rumtreiben. Micki gibt den Anschein, als hätte Torsten eine Art Aura des Bösen um sich gehabt. Also das kann ich wirklich nicht nachvollziehen.

In dieser Zeit war Micki auch in Diana verliebt, die an besagtem Abend am selben Tisch saß. Mickis Nervosität kann also auch ganz andere Ursachen gehabt haben. Was den Benzingeruch angeht: Wenn Micki selbst zugibt, dass es auch aus seinem Feuerzeug gekommen sein könnte, bleibt von dem Verdacht nichts mehr übrig. Von Torsten weiß ich nur, dass er nach Frankfurt gezogen ist. Eine Weile nach der Katastrophe. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.

(3) Ozzy: Nun bin ich wieder etwas schlauer geworden. (Noch schlauer?) Ich hätte auch sagen können, dass ich vorher blöd war. Okay, wenn es euch lieber ist ... Jedenfalls brauche ich die GEMA nicht, um eine Platte zu produzieren und zu vertreiben, bzw. das Publikum zu vertreiben, wie Oliver sagt. Ich frage mich übrigens, warum Oliver immer dasselbe schreibt. Naja egal. Für meine Platte brauche ich nur die LC-Nummer, und die gibts von der GVL in Hamburg (Gesellschaft für Verwertung von Leistungsschutzrechten). Früher hat der Colonel sich um all diese Dinge gekümmert, seufz. Aber wegen der GEMA-Problematik waren wir auch damals schon aneinandergeraten. Die LC-Nummern – um zum Thema zurückzukommen – brauchen dann zum Beispiel die Radiojournalisten, um sie in ihre Playlist einzutragen. Aber selbst das ist nicht notwendig, sagt Ole Seelenmeyer, sie könnten auch ein eigenes Schriftstück produzieren, nur ist das sehr umständlich, und so macht es keiner. Insofern hat, was meine nächste Platte angeht, die GEMA nichts mit mir zu tun. Sie soll dafür sorgen, dass die Urheber ihre Tantiemen bekommen. Ich werde daher erst einmal meine Platte machen. Auf das Problem mit der Unterhaltungsmusik komme ich später zurück, das wird wohl unvermeidlich sein. Es ist ein grundsätzliches Problem.

Das Treffen mit Ole zeigte mir auch noch einmal deutlich auf, wofür ich eigentlich kämpfe. Ole Seelenmeyer war so gefangen in seinem Alltag, dass er mir gar nicht zuhören konnte und mich trotz aller schönen Worte eher loswerden wollte. Das ist auch Establishment. Establishment sind ja nicht die Reichen. Die gehören meistens dazu, aber es geht beim Establishment ja um die Mentalität der Abstraktion und der Konfliktscheu, des Materialismus und des Leidens. Um Ängste.

So, jetzt brauche ich nur noch Leute, die mich verstehen und ernst nehmen, und mit denen ich arbeiten kann. Ich habe eine Auswahl aus den neuesten und den besten der alten Songs vorgesehen. Seit kurzem schreibe ich nämlich wieder Musik. Am liebsten würde ich die Platte NEWS nennen, aber den Titel hatte ich schon mal. Also nenne ich sie wohl MY COLLAR IS NOT WHITE ENOUGH FOR YOU. Manchmal glaube ich, so ein Schriftsteller wie Marco hat es doch leichter als ein Musiker. Er braucht nur einen Stift und ein Papier, schon kann er arbeiten. Er kann es auch sofort jemandem vorlesen und damit auf die Bühne, oder in kurzer Zeit Audioaufnahmen machen. Er braucht niemanden sonst. Da haben wir Songwriter es wirklich schwerer. Du brauchst Musiker, dann einen Übungsraum, du brauchst ein Studio, einen Techniker, ein Budget und tausend Sachen. Außerdem berührt Musik direkter, unmittelbar. Das Publikum ist näher. Das wäre sehr schön und vorteilhaft, würden wir nicht in einer Welt der Berührungsängste und Hemmschwellen leben. Die große Band und der fette Sound werden heute erwartet. Das Publikum braucht diesen Protz paradoxerweise, um sich distanzieren zu können. Aber natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, wie immer. Melissa Etheridge macht gerade eine Tournee allein mit der Gitarre, und es scheint zu funktionieren. Bei Bob hat es ja auch funktioniert. Oder bei Neil Young. Vielleicht probiere ich das mal. Auf einen Musiker muss man sich wohl mehr einlassen, wenn er auftritt, als auf einen Schriftsteller. Der Musiker ist als Person sehr präsent. Aber das ist eigentlich auch sein Job.

Ach so, noch kurz ein Nachtrag zum Thema Gewalt: Es ist durchaus richtig, dass man darüber sprechen muss, wenn man Gewalt empfindet. Ohne Opfer keine Tat. Da die Leute manchmal nicht alles so genau verstehen, muss man es oft mehrmals sagen, bis man erkennt, dass da auch jemand zuhört. Sonst kann man es sich ganz sparen. Das ist auch der Grund, warum ich selbst hier und da wiederhole, dass ich Gewalt spüre, die ich nicht toleriere.

(4) Lutfi M.: Ich habe mich gefragt, ob es im Orient eigentlich eher so etwas gibt wie Stars als in Europa. Und ich denke, dass das prinzipiell auch der Fall ist. Das Klischee, dass die Orientalen gefühlsoffener sind als die Leute aus den kälteren Ländern, hat durchaus eine Berechtigung. In der Musik hat es große Stars gegeben, wie etwa die berühmte ägyptische Sängerin Umm Kulthum oder der Sänger Farid al-Atrasch. Das ist allerdings auch schon eine ganze Weile her, das war noch vor Elvis. Es gibt schon große Namen, auch heute noch, aber der Orient hat auch nie eine wirkliche Revolution in der Popmusik erlebt. Ich glaube, der marokkanische Rai kommt dem noch am nächsten. Elvis Presley hat im Orient sehr viele Fans, aber ein arabischer Elvis ist noch nicht vorstellbar. Siehe den türkischen Musiker Tarkan. Er war wirklich gut, und er war sexy. Eines der wichtigsten Merkmale des Rock'n'Roll – so wie ich ihn jetzt verstanden habe – ist doch, dass damit Lebensfreude und auch Sex transportiert werden. Für so etwas hat der Orient noch keine gesellschaftlichen Voraussetzungen. Tarkan hat ein Bild von Freiheit vorgezeichnet, das das Establishment bislang verhindern will: die sexuelle Aufklärung. Und das im Orient noch mehr als in Ländern wie Deutschland, das ja immerhin einen Udo Lindenberg hervorbringen konnte.

Im letzten Frühjahr kam uns mein Neffe Karim in Abu Dhabi besuchen, der in London studiert, wo er auch geboren ist. Er nennt sich selbst auch einen Rock'n'Roller, und er hat mir einiges erzählt. Ein Publikum hat er bei uns recht leicht gefunden. Natürlich gibt es auch bei uns Hemmungen, wenn jemand einfach so zur Gitarre singt, aber uns hat es sehr gefallen. Obwohl die meisten nicht einmal die Wörter verstanden haben, die Karim sang. Darum ging es gar nicht. Es war eine Attraktion. Ich muss sagen, ich unterstütze so etwas auch, denn in den arabischen Ländern werden solche Gefühle von Gemeinschaft leider meistens auf Staatsmänner gerichtet. Es gibt in den orientalischen Ländern leider oft eine Art von Personenkult, der sich auf die Staatsoberhäupter richtet, deren Gesichter in Leinwandgröße in den Straßen zu sehen sind. Und so sehen auch einige Leute Bin Laden als Verkörperung ihrer eigenen Rebellion, was ein Fehler ist, denn Bin Laden ist ein Gewalttäter. Dennoch gibt es außer den Politikern – und ich zähle die politischen Glaubensführer dazu – nur sehr wenige Vorbilder, an denen sich die Leute orientieren können, um ihre Gefühle der Liebe, der Freiheit und der Gemeinschaft zu kanalisieren.

Elvis kommt da der Sache schon ziemlich nah. Am meisten beeindruckt aber ist die Arabische Welt von Muhammad Ali Clay, dem Boxweltmeister. Im Orient sagen wir seinen Namen so, weil es in unserem Kollektivgedächtnis mehrere Muhammad Alis gibt. Dabei war es nicht einmal seine pazifistische Haltung im Vietnamkrieg, die uns bewegt, sondern die Tatsache, dass ein Mann des Friedens über sich gesagt hat: „Ich bin der Größte“, und dass er damit zum Idol für Millionen Menschen in aller Welt wurde. Es hat viele Gewaltpolitiker gegeben, die es sagen, Bin Laden hat es durch die Terrortat gesagt (wenn er es denn war), Bush sagt es stellvertretend für die Amerikaner, aber Muhammad Ali sagt es mit der Legitimation seiner reinen Persönlichkeit, nicht durch die Legitimation von tödlichen Waffen. Damit erreichte er, was andere nur mit Gewalt erreichten, um danach zu merken, dass sie zu korrupt geworden sind, um es überhaupt noch wert zu sein. Muhammad Ali Clay spricht über das Recht des Individuums in einer abstrakten Welt, und er spricht über die Gerechtigkeit zwischen den Ländern der Welt.

Redaktion in Kiel, 14.02.02

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