(1) Marion C.: Wir haben noch nicht genug über die Helen-Keller-Frage gesprochen. Ich meine darüber, wieviel Disziplin und Zwang nötig und erlaubt sind, um anderen damit zu helfen. Wir waren etwa auf dem Stand stehen geblieben, dass in der Erziehung das Fingerspitzengefühl des Erziehers ausschlaggebend ist, und dass ein solches Fingerspitzengefühl am ehesten von einem friedlichen Menschen ausgeht. Das ist alles sehr abstrakt. Ich glaube, an der Basis liegt die Frage, was wir für eine Vorstellung von Erwachsensein haben.
Als dieser blöde Afghanistankrieg angefangen hatte, meinten ja einige Fernsehkommentatoren, dass die Deutschen nun schmerzvoll erwachsen werden würden, worauf Ozzy meinte: „schmerzvoll ja, aber nicht erwachsen“. Dann hatten wir noch das Zitat aus PETER'S FRIENDS: „Erwachsene sind Kinder, die Schulden haben.“ Was also ist nun Erwachsenwerden, und ist es erstrebenswert? Darauf haben wir noch keine Antwort, oder?
In meiner Vorstellung besteht ein Mensch aus verschiedenen Persönlichkeiten. Er hat verschiedene Anlagen. Ich kann das bei mir an meiner Malerei erkennen. Da sind ganz unterschiedliche Aussagen, die ich mache. Im Malprozess habe ich gelernt, mir diese Teile der Persönlichkeit bewusstzumachen. Ich habe sie klar vor mir gesehen und mich dann für bestimmte Teile entschieden, die ich weiterentwickeln wollte und andere, die ich in den Hintergrund treten lassen wollte. Auf diesem Weg habe ich auch verstanden, dass es ein Fehler ist, wenn man die unangenehmen Teile seiner Persönlichkeit leugnet. Man muss sie sehen und anerkennen, sonst wird der Charakter schwach. Sich die Teile seiner Persönlichkeit bewusstzumachen, sie zu bewerten und sich schließlich zu entscheiden, das ist für mich Erwachsenwerden. Dazu gehört Disziplin, und das muss man irgendwo lernen, siehe Helen Keller.
Was Erwachsenwerden dagegen für mich überhaupt nicht ist, ist der Verlust der Kindlichkeit. Im Gegenteil, wer das innere Kind nicht lebt, der kann gar nicht erwachsen werden, weil er wesentliche Teile seiner Persönlichkeit nicht akzeptiert. Faktisch führt das dazu, dass er in anderen Menschen genau das bekriegen wird, was er an sich selbst leugnet und damit den anderen Kindern fürchterlich auf die Nerven geht. Manche nennen das „Protestantische Arbeiterethik“, andere nennen es „die Realität“, der Teufel hat viele Namen. Genau wie der liebe Gott.
Das Problem mit dem Erziehungswesen beginnt ja hier. Die Verantwortlichen haben sich eine bestimmte Vorgabe gemacht, wie die Kinder zu Erwachsenen werden sollen, und das ist der falsche Weg.
(2) Hermann T.: Das meiste Unrecht geschieht heimlich. Und sei es heimlich in der Art, dass die Zeugen es nicht weitererzählen. Eine unserer wichtigsten Definitionen von „Establishment“ ist ja das Schweigen. Das Verschweigen von Handlungen und von Gefühlen. Es ist wirklich schwer, dagegen anzugehen, weil es sozusagen das Nichts ist: Dinge, die nicht diskutiert werden, ungesagte Worte, fehlende Solidarität. Das Schweigen kann nur funktionieren in einer Gesellschaft, die so abgestumpft ist, dass sie alle Dinge nimmt, wie sie kommen, ohne sich bewegen zu können, ohne ein Ziel finden zu können.
Nach Marcos Selbstversuch bekomme ich ein Bild davon, wie sich die Öffentlichkeit als Waffe gegen das undemokratische Schweigen verwenden lässt. Wenn zum Beispiel eine Person in einem Gefühl der Öffentlichkeit lebt, in der es nichts zu verheimlichen gibt, dann kommt sie sehr schnell und immer wieder an Punkte, wo sie mit den Verhältnissen auf der Straße in Konflikt kommt. Aber Öffentlichkeit ist das Prinzip der Demokratie! Wenn also jemand dauernd öffentlich ist und mit den Verhältnissen zusammenprallt, liegt es nicht an ihm. Jedenfalls nicht, wenn Öffentlichkeit das einzige ist, das man ihm anlasten kann. Das ist die Basis unserer pluralistischen Ordnung. Es führt dazu, dass er faktisch wegen seiner Öffentlichkeit abgelehnt wird, aber das Establishment darf das nicht zugeben und muss sich irgendwelche anderen Gründe ausdenken.
So ähnlich muss sich John Lennon damals gefühlt haben, als er sang: „Everybody's got something to hide except for me and my monkey“. Die BEATLES hatten ja manchmal betont, wie schwierig die Öffentlichkeit sein kann. Bei dem großen Auftritt im SHEA STADIUM hatten sie das Gefühl, die einzig Normalen inmitten einer völlig verrückten Menge zu sein. Bei dem obigen Song steckt aber mehr dahinter: John schrieb ihn während seiner spirituellen Begegnung mit dem Maharishi. Ich glaube, er spricht hier genau von diesem Phänomen, das ich oben beschrieben habe. Bob Dylan hat in ABANDONED LOVE etwas Ähnliches gesagt: „Everybody's wearing a disguise to hide what they've got left behind their eyes, but me I can't cover what I am, wherever the children go I'll follow them.“ Bei John Lennon verstehe ich den Vers, denn er hat so gelebt. Er hat beschrieben, wie er sich fühlt, und man kann ihm den Satz abnehmen. ABANDONED LOVE hat dagegen als Song eine sehr starke Autorität, denn die Lyrics sind aus einer sehr tiefen Trance, und der musikalische Teil sehr originell. Es wird viel Kraft transportiert über den Song, und das rechtfertigt letztlich auch die tiefen Lyrics. Man kann aber nicht sagen, dass Bob in der Zeit (1975) so gelebt hat. Vielleicht irre ich mich.
Es scheint jedenfalls ein besonderes Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit und Popkünstlern wie John, Bob und Marco zu geben. In einer gesunden Öffentlichkeit passiert nicht so viel Unrecht wie in einer autoritären Schweigegesellschaft. John, Bob und Marco machen diese Aussagen, nachdem sie sich selbst gut kennen gelernt haben. Das wollen seltsamerweise nur wenige.
(3) Mister Sunbird: „Shake, rattle and roll. I said: shake, rattle and roll. Shake, rattle and roll, shake, rattle and roll. Well you won't do right to save your doggone soul.“
(4) Sibylle: Bertold schreibt in der 73. Nachricht: „ ... Es hieße doch letztlich, dass wir uns alle Gefängnisse sparen könnten.“ Das hält er für naiv und romantisch. Vielleicht können wir das aber tatsächlich! Vielleicht auch nicht alle, aber doch die meisten, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich stimme Bertold zu, dass es Verblendete gibt, Menschen die Böses tun, ohne dabei oder danach Schuld zu empfinden. Widersprechen möchte ich ihm, wenn er sagt, dass es naiv ist, davon auszugehen, dass jeder Mensch im Innersten gut ist. Warum scheint das naiv? Vermutlich, weil es so viel Böses auf der Welt gibt. Aber Bertold benutzt das Wort „Verblendete“ und widerspricht damit diesem Argument wieder. Wenn diese Menschen verblendet sind, bedeutet das ja, dass sie, wenn das blendende Licht weg ist, ganz anders sind – also vielleicht gut.
Ich wundere mich manchmal selbst, dass ich an das Gute im Menschen glaube – bei all dem, was täglich an Gewalt passiert. Dieser Glaube kommt aus mir selbst heraus. Mich kenne ich am besten. Sicherlich ist da noch vieles in meinem Unterbewusstsein, was ich (noch) nicht oder nur schemenhaft kenne, aber ich weiß von vielen meiner Träume und Wünsche. Bestimmt habe ich auch schon viele Fehler gemacht und Formen der Gewalt ausgeübt, aber ich weiß, dass ich mir Gewalt nicht wünsche, und dass ich keine Macht über andere suche, sondern Liebe und Vertrauen. Ich war nicht immer in der Lage, diese Wünsche in entsprechenden Situationen deutlich zu machen. Aufgrund von Hemmungen und Ängsten. Daraus habe ich gelernt, dass Menschen nicht immer nach ihren Wünschen handeln. Die Leute halten auch vieles für einen Wunsch, was eigentlich aus ihren Ängsten erwachsen ist. Der Wunsch nach Macht über andere zum Beispiel. Ich vermute, dass er aus der Angst vor Isolation entsteht, oder der Angst, selbst unterdrückt zu werden, oder etwas ähnlichem.
Wieviel gesellschaftliches Potential stünde uns zur Verfügung, wenn wir diese Mechanismen erkennen und uns mit ihnen auseinander setzten würden! Wir könnten dadurch herausfinden, was wir uns eigentlich wüschen. Die Energie, die wir heute in Machtkämpfe, Kontrollversuche, das Anhäufen von Geld usw. investieren, könnten wir daraufhin nutzen, um uns diese Wünsche zu erfüllen. Vielleicht ist es dann auch möglich, die Gesellschaft nach unseren wahren Bedürfnissen zu organisieren, um gemeinsam Lebensformen zu finden, die nicht auf Herrschaft beruhen sondern auf solidarischer Zusammenarbeit. Bereiche, die heute als die größten Probleme angesehen werden, würden dann relativiert. Die Arbeitslosigkeit z.B.: In einer Gesellschaft, in der akzeptiert wird, dass jeder Mensch bestimmte Bedürfnisse hat und jeder das Recht hat, diese zu erfüllen, und die Pflicht, mit dem ihm Möglichen zum Wohl der Gesellschaft beizutragen, ist Arbeitslosigkeit kein Thema. Das, was an Arbeit notwendig ist, wird verteilt. Da einiges an Arbeit für ganz unnötiges Zeug (wie übertriebene Luxusartikel) wegfallen würde, hätten die Leute eine Menge Zeit, das zu tun, was ihnen Spaß macht. Wichtig bei der Arbeitsverteilung ist, dass die Fähigkeiten der Leute berücksichtigt werden, und dass die unangenehme Arbeit nicht dauerhaft an ein paar Leuten hängen bleibt. Und wichtig ist, dass jeder Mensch unterschiedliche Bedürfnisse hat, was ebenfalls akzeptiert werden muss.
Das mag sich für einige utopisch anhören. Aber ich denke, dass es funktionieren kann, wenn die Gemeinschaften nicht zu groß sind. Die Leute müssen sich untereinander kennen und über Probleme miteinander reden. Unter diesen Umständen wären dann auch Gefängnisse unnötig. Zu vielen Verbrechen, die dadurch entstehen, dass Leute „verwahrlosen“, keine Chance bekommen etc., würde es nicht mehr kommen. Die Menschen würden keine Heiligen werden, doch es würden sich innerhalb der Gruppe Mechanismen entwickeln, mit Fehlverhalten umzugehen. Und ich denke schon, dass es in vielen Fällen reicht, wenn den Leuten ihre eigene Schuld klar wird. Es kann dann immer noch sein, dass es Einzelne gibt, die anderen Schlimmes zufügen und ihre Schuld nicht erkennen können oder wollen. Dann mag man zu dem Entschluss kommen, diese Leute einzusperren – um die Gemeinschaft vor ihnen zu schützen. Auch damit sie die Zeit haben, ihre Schuld zu erkennen. Doch dazu sind keine großen Gefängniskomplexe notwendig, die ja nicht nur für die Gefangenen eine Strafe sind, sondern auch die Wärter belasten und oft verrohen lassen.
Das alles und noch vieles mehr nennt sich übrigens Anarchie. (Dieser Begriff ist hier schon ein-, zweimal gefallen, allerdings fälschlicherweise als Synonym für Gewalt und Chaos.) Es gab einige Philosophen, die sich dazu Gedanken gemacht haben, und es gibt verschiedene anarchistische Strömungen. Ich habe mich damit nicht im Detail beschäftigt. Aber ich denke, das Grundprinzip habe ich verstanden. Die Umsetzung ist ohnehin von der gesellschaftlichen Entwicklung und den beteiligten Menschen abhängig und deshalb schwer in Theorien zu fassen.
Ein Grund dafür, dass viele von uns sich das Funktionieren solcher Gemeinschaften nicht vorstellen können, ist, dass wir natürlich stark von der jetzt existierenden Gesellschaft geprägt sind. Diese basiert u. a. darauf, dass die Bürger ihre politische und damit auch meist ihre gesellschaftliche Verantwortung alle vier Jahre durch ein Kreuz an eine Regierung abgeben. Mit so geprägten Menschen ist Anarchie schwer vorstellbar. Aber wir alle sind entwicklungsfähig! Es liegt an uns, ein Klima zu schaffen, in dem Veränderung nicht als Bedrohung aufgefasst wird, Verantwortung nicht als Last und Liebe nicht als Schwäche.
Redaktion in Kiel, 16.02.02
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