(1) Hanna G.: Wie ich letztens gelesen habe, soll hier nach der 96. Nachricht Schluss sein. Ich habe noch einige Gedanken zum Thema „Geben und Nehmen“, die ich dann am besten gleich rausschreibe, bevor sie mir wieder entgleiten und zerfasern.
Ich glaube, die meisten Menschen wollen geben, haben aber eine Hemmschwelle. Daher geben sie nur, wenn sie müssen. Vielleicht liegt das am Motiv des Geben-Wollens. Will ich geben, weil ich die andere Person feiern möchte, oder weil ich eine geheime Schuld abtragen möchte? Unbewusst streben doch alle Menschen nach Erlösung von ihrer Schuld. Die Kirche hat das damals für ihre Zwecke genutzt und ein Vergebungsmonopol geschaffen. Das Vergebungsmonopol hat heute schon lange nicht mehr so viel Autorität, aber der Wunsch nach Vergebung der Sünden ist eine anthropologische Konstante, wie ich denke. Wenn nun die Kirche ihre gesellschaftliche Bedeutung und damit einen guten Teil ihrer Autorität eingebüßt hat, wer erfüllt die Funktion der Vergebung?
Nehmen wir an, ich habe eine Person aus Egoismus verletzt. Später sitze ich da mit Schuldgefühlen. Schuld führt zu Schuldgefühlen. Was mache ich nun damit? In die Kirche gehe ich nicht, zu irgendeinem Fremden. Ich kann mit meinen Freunden darüber sprechen, die hören mir auch zu, aber helfen können sie mir auch nicht. Die Schuldgefühle werden stärker, ich spüre Reue und möchte die Dinge wiedergutmachen. Aber es geht nicht, die Situation ist vorbei, die Person nicht erreichbar. Ich könnte zum Psychiater gehen, aber es hilft nichts. Ich will nicht darüber reden, ich will die Schuldgefühle loswerden. Ich möchte dienen, um damit meine Schuld abzuarbeiten. Damit ich wieder zum Zustand der Unschuld zurückfinde.
Wenn dieser Prozess bewusst geschieht, kann man ihn steuern und seinen Drang, zu geben, konstruktiv nutzen. Geschieht er unbewusst, weil das Schuldgefühl verdrängt ist, gelangt man sehr schnell in Abhängigkeits- und Machtsituationen. Man gerät zum Beispiel immer wieder an aggressive und dominante Menschen, die einen herumkommandieren und einem auf der Nase herumtanzen. Das Unterbewusstsein erkennt eine Schuldentilgung darin, und das Bewusstsein rationalisiert die Situation durch Scheinargumente wie: „Er/Sie ist nun mal so“, „Ich brauche das Geld“ oder „Ich liebe ihn/sie nun einmal“.
Ich denke, wir brauchen neue Mechanismen, die dafür sorgen, dass Vergebung wieder zu einem gesellschaftlichen Wert wird. Denken wir an die Millionen Menschen, die keinen Weg finden, ihre Schuld zu tilgen, obwohl sie danach suchen. Sie kommen nicht weiter. Sie leiden. Es fehlen die sozialen Voraussetzungen. Schuldeingeständnisse und Selbstkritik werden bei uns prinzipiell von der eigenen In-Group und den Out-Groups als Schwäche gewertet. Den Möglichkeiten des Vertrauens wird so der Boden entzogen, und eine entfremdete Kultur der Geheimniskrämerei entsteht.
(2) Chong: Das Kastenwesen besteht darin, dass man nur die höher Gestellten gut behandelt. Hanna und ich haben uns gestern bei Maria über dieses Thema unterhalten. Es gibt eben bei uns in der Gesellschaft Leute, die musst du gut behandeln, sonst kriegst du Ärger. Zum Beispiel den Chef, den Lehrer, die Tante, den Feldwebel etc. Wenn du nun diese Nettigkeit an einen Fremden weitergeben würdest oder selbst an einen Bekannten, dann würde der ja praktisch ein Verhalten umsonst bekommen, das man eigentlich nur für die höher Gestellten zu geben bereit ist. Oder man hat seine Energie bereits an die Oberen weggegeben und hat nichts mehr übrig für die Freizeit.
Das hat auch nichts mehr mit Marktwirtschaft oder Demokratie zu tun, deshalb habe ich es oben „Kastenwesen“ genannt. Es gibt ein seltsames Verständnis von Loyalität in unserer Gesellschaft, das in die Nähe von Gehorsam geht. Gehorsam ist bei uns ein hoher Wert. Die Eltern loben die Kinder, wenn sie gehorchen, die Arbeitgeber erwarten, dass ihre „Untergebenen“ ihnen gehorchen. Dieses System funktioniert insofern, als es unsere Realität strukturiert. Wir können uns nichts anderes vorstellen, ohne um unsere materielle Sicherheit zu fürchten, die bei uns der höchste Wert von allen ist, weil wir uns darüber als Gemeinschaft definieren.
Ich denke, das ist der Grund, warum Leute verdächtig wirken, wenn sie andere mit viel Respekt und freundlich behandeln, ohne einen sichtbaren Grund, also einen Vorteil, zu haben. Man wird es sogar in vielen Fällen als Kastenverhalten identifizieren und zu dem Schluss kommen, dass die freundliche Person zur dienenden Kaste gehört und dann automatisch die komplementäre Rolle einnehmen und die Situation in eine Machtsituation kippen lassen.
An der Oberfläche sieht man davon nicht viel, denn natürlich behandelt auch die herrschende Kaste die Diener gut. Wenn sie gut dienen, dann werden sie auch gut behandelt. Dass die Diener dafür ihre Freiheit verlieren, wird von beiden Seiten wegrationalisiert, denn auch die Herrscher stellen sich als Diener dar. Es läuft nicht überall so, aber an vielen Orten läuft es so.
(3) R. Baumann: He Sibylle J., warum nennst du dich nicht gleich „Engelchen“, dann wird bestimmt sofort alles wieder gut in der Welt. Übrigens sehr freundlich, dass meine letzten beiden Beiträge der Zensur zum Opfer gefallen sind. Das hat bestimmt damit zu tun, dass ich mich darin über Ozzys Satz lustig gemacht habe, dass er beim Bäcker nicht auffallen darf. Zum Totlachen war das. Nicht mal beim Bäcker darf er auffallen, der Arme. Ich frage mich, welcher gesunder Mensch Wert darauf legt, aufzufallen, wenn er sich seine Brötchen kauft. Ha ha. So! Und diesmal schmeißt Ihr meinen Beitrag bitte nicht wieder raus. Wenn Ozzy hier schon so viel Raum kriegt, um Werbung für seine neue CD zu machen, dann muss er sich das auch gefallen lassen.
Ihr habt euch mit der Chronik ja inzwischen als Anarchisten und Sozialisten enttarnt. Erst wolltet ihr den Staatsschatz für eure Revolution auf den Kopf hauen, und jetzt propagiert Sibylle J. offen die Anarchie, das muss man sich mal vorstellen! Es handelt sich dabei um eine Staatsform, die die Macht des Parlamentes nicht anerkennt und um eine Bewegung, die vor etwa 100 Jahren mehrere Attentate verübt hat, denen unter anderen Kaiserin Sissi zum Opfer fiel. Das hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern es ist das genaue Gegenteil. Deshalb ist es strafbar, dazu aufzurufen.
Im übrigen zeigt Sibylles Beitrag, dass es nichts als Träumereien sind, denen ihr hinterherhängt, mit wenn und könnte und sollte und müsste. Und dann die Gefängnisse abschaffen, weil man ja alles ausdiskutieren kann. Wo lebt ihr eigentlich? Und zum Erwachsenwerden kann ich auch noch etwas beisteuern: Erwachsenwerden ist, wenn man merkt, dass die anderen Arschlöcher sind.
(4) Zoltan: Marion C.'s Gedanken zum Erwachsenwerden haben mich als Linguisten veranlasst, mir über den kognitiven Rahmen Gedanken zu machen, der uns unser Handeln vorgibt. Seit dem letzten Beitrag des Webmasters stehe ich zu ihm in Email-Kontakt, und wir haben unser Wissen zusammengelegt, um einen Beitrag für die Chronik herzustellen. Was hier folgt, ist zum Teil eine Zusammenfassung und zum Teil die Analyse vom Webmaster und mir.
Der traditionelle kognitive Rahmen für didaktische Prozesse, also Lehr- und Lernprozesse, ist durch den im Jargon CONDUIT METAPHOR genannten Begriff abgesteckt, wobei „conduit“ eine Pipeline meint, durch die eine Information oder eine Botschaft oder ein Thema oder ein Stoff oder ein Pensum etc. von einem Sender (z.B. Lehrer) zu einem Empfänger (z.B. Schüler) transportiert wird. Erweitert wird dieses Szenario häufig durch eine Präzision von „Sender“ und „Empfänger“ dahingehend, dass der Sender die Information codiert – zum Beispiel, indem er sie „in Worte fasst“ –, und dass der Empfänger die Information danach decodiert, um sie schließlich zu verstehen. Gelingt dies, ist der didaktische Prozess erfolgreich.
In diesem Rahmen denken wir über Lehr- und Lernprozesse. Um das zu illustrieren, verweisen wir auf einige Begriffe aus der Umgangssprache. Das „Eintrichtern“ wurde bereits erwähnt, dazu kommt die „Aufnahmefähigkeit“ und das „Sich-Reinziehen oder -Reintun“ von Informationen. Aber es gehört auch die simple Vorstellung von der „Weitergabe des Wissens“ dazu, denn diese Metapher beinhaltet bereits eine Wertung: Wissen ist hier etwas Strukturiertes, eine Einheit, eine Entität, die man fassen und weitergeben kann. Um die Begrenztheit dieser Metapher zu erläutern, reicht es, zu erwähnen, dass der Lehrer sein Wissen nicht verliert, wenn er es an den Schüler weitergibt. Wie kann man etwas weitergeben, das man hinterher noch hat? Mit solchen Beispielen wollen wir zeigen, dass unsere Vorstellung von abstrakten Dingen wie Didaktik immer nur einen Ausschnitt oder eine Möglichkeit darstellt und daher ständig neu durchdacht werden kann.
Es geht uns darum, die CONDUIT METAPHOR zu ergänzen, nicht darum, sie zu widerlegen. Sie ist ein Modell, mit dem man vieles erklären kann. Und sie hat sich bewährt: Die gesamte Computerindustrie ist daraus entstanden. Sie hat also auf jeden Fall ihren Platz. Ihre Realität kann ohnehin nicht bestritten werden, da sie in unserer Alltagssprache nicht so häufig vorkommen würde, wenn sie keine Realität hätte. Unsere Frage ist also: Wie kann man Lehr- und Lernprozesse sonst noch sehen?
Es gibt bereits Ansätze für alternative Frameworks bzw. Rahmen in der Chronik, an die wir hier anschließen möchten. Es wurde gesagt, dass der Schüler zum Maßstab werden soll, und nicht die Information, die vermittelt wird. (Und schon gar nicht der Lehrer, das steht außer Frage.) Ebenfalls wurde gesagt, dass die Vermittlung eines bestimmten „exakten“ Wissens nicht der einzige Zweck von Erziehung sein kann. Politisch sind der Webmaster und ich der Ansicht, dass es durchaus Teil des Erziehungswesens sein muss, ein näher zu Definierendes Allgemeinwissen zu verbreiten, dass dies aber nicht den wesentlichen Teil der Erziehung ausmachen darf.
Wesentlich muss es darum gehen, den Schüler seinem inneren Selbst näherzubringen, in ihm also Kraft aufzubauen, mit der er zu dem individuellen Wissen gelangen kann, das er braucht. Ihn zu öffnen und seine Sinne zu schärfen, dies scheinen uns die treffenden Metaphern eines alternativen Szenarios zu sein. Auch in diesem Szenario sendet der Lehrer etwas, aber darin erschöpft sich der Prozess nicht, und was er sendet, sind in erster Linie Impulse, nicht Informationen. Der Lehrer ist hier eher ein Trainer oder ein Rat gebender Wegbegleiter. Ein Beschützer vielleicht auch.
Dieses Szenario ist eine Anfangsüberlegung, es hat auch noch keinen Namen. Der Webmaster und ich fürchten allerdings, dass die Umsetzung dieses Rahmens schwierig ist, weil in diesem Denkrahmen die Distanz zwischen Lehrern und Schülern kleiner ist. Der psychologische Aspekt tritt in den Vordergrund, und ein Vertrauensverhältnis ist notwendig. Dinge aus der privaten Welt des Schülers können wichtige Anhaltspunkte für den Lernprozess darstellen. Ziel ist ja, alles zu fördern, was zur Entfaltung der individuellen Fähigkeiten des Schülers führt, die er konstruktiv in die Gesellschaft einbringen kann. Doch die Kritik an einem solchen Denken ist laut. „Was soll dieser Unterricht denn vermitteln?“, werden die Kritiker fragen, und: „Wie soll dieses Fach denn heißen?“ Diese Fragen werden gefragt im Rahmen der CONDUIT METAPHOR, und es wird erwartet, dass wir innerhalb dieses Rahmens antworten, was wir aber nicht wollen. Dennoch, es hindert uns nichts daran, das alternative Szenario zu durchdenken und auszuarbeiten. Vielleicht entdecken wir dabei neue Zusammenhänge, ähnlich wie der Erfinder, der die Zwischenräume zwischen den Pinselborsten als Kanäle betrachtet hat und so zu neuen, praktisch verwertbaren Resultaten kam.
Redaktion in Kiel, 18.02.02
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