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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Karin R.: Nachdem wir schon einige Male das Buch DIE PROPHEZEIHUNGEN VON CELESTINE von James Redfield erwähnt haben, ist es sinnvoll, die Hauptthesen des Buches zu den Themen unseres Diskurses in Beziehung zu setzen. Der Roman verfolgt eine ähnliche Absicht wie diese Chronik, weil in ihm ebenfalls nach einer besseren Welt geforscht wird, wobei es zunächst darauf ankommt, sich der jetzigen Welt bewusst zu werden.

Als Ergänzung zu unserem Gewaltdiskurs scheint es mir sinnvoll, hier kurz die vier Kontroll-Dramen zu referieren, die in CELESTINE erwähnt werden. Um an Energie heranzukommen, haben wir – so die These – vier Typen entwickelt. Als erstes wäre da der Einschüchterer. Er bindet Aufmerksamkeit, indem er Angst bereitet und mit Gewalt droht. Dann der Vernehmungsbeamte. Er nörgelt und überwacht, und er entzieht anderen so die Energie, sobald sie auf ihn reagieren. Als nächstes der Unnahbare, der zu den beiden passiven Typen gehört. Er fürchtet um seine Freiheit und hält Distanz. Er analysiert alles und fühlt sich unverstanden. Bei Konflikten macht er sich aus dem Staub. Schließlich das Arme Ich. Solche Leute sind pessimistisch und wollen Mitleid erregen. Sie fühlen sich als Opfer und sind übermäßig entgegenkommend, um sich später ausgenutzt fühlen zu können.

Die ersten beiden dieser vier Archetypen sind eher aktiv und werden faktisch eher mit männlichem Verhalten assoziiert, die beiden passiveren mit weiblichem. Auch stehen die vier Typen in doppelter Weise in Verbindung: So bringen etwa Eltern, die Vernehmungsbeamte sind, bei ihren Kindern Unnahbare hervor. Einschüchterer-Eltern bringen Arme Ichs hervor. Weiterhin ist ein Kontrolldrama erst dann vollständig, wenn es auf sein Komplementär stößt. So sucht sich das Arme Ich einen Einschüchterer, um sich als Opfer zu bestätigen. Die Situation spitzt sich dann zu einem Höhepunkt zu – zum Beispiel Gewalt –, nach dem der Einschüchterer sich zurückzieht und sich entschuldigt. Damit gibt er Energie an das Arme Ich zurück, und alles kann wieder von vorne anfangen.

Es sind noch sehr viel mehr zentrale Punkte im CELESTINE-Buch auffällig, aber es würde den Rahmen sprengen, hier auf alles einzugehen. Wichtig scheint mir zu erwähnen, dass alle Kontrolldramen ihren Ursprung in den Familienkonstellationen haben, und dass sie weitervererbt werden durch die Generationen. James Redfield hat es irgendwie geschafft, über die Familienproblematik in einer Art zu schreiben, dass es nicht zu hart klingt. Deshalb ist das Buch auch so empfehlenswert.

Bei Maria hatten wir über CELESTINE und die vier Archetypen gesprochen. Jeder hat sich dann das Kontrolldrama ausgesucht, das am Besten zu ihm passt. Wir haben uns einen Joke daraus gemacht. Ozzy hat den Unnahbaren genommen. Dann hat er gesagt: „Sprich mich bitte nicht an, ich bin völlig unnahbar.“ Sich aus diesen Kontrolldramen zu lösen, ist ein Lernprozess. Sich in diesen vier Typen wiederzuerkennen, ist sicher manchmal mit einem gewissen Schmerz verbunden.

(2) Klaus K.: Die Presse ist mal wieder umgeschwenkt. Es kündigte sich bereits an bei Bushs unseligem Begriff der „Achse des Bösen“. So etwas mag die deutsche Presse nicht besonders. Als jetzt selbst Außenminister Fischer Kritik an den USA übte, war der Damm gebrochen. Es kommt mir vor, als würden jetzt auch aufgestaute Zurückhaltungen losgelassen. Der Pazifismus ist in die Salons zurückgekehrt. Der Schock des Elften September führte zu einer großen Anspannung in der deutschen Presse, die in diesen Tagen auf eine höhere Bewusstseinsebene und zu einer ersten Verarbeitung gelangt.

Heute, am 20.02.02, steht Bush in der Kritik, auch Scharon. Europäer und Araber formieren sich neu. Afghanistan ist instabil, Dostum erinnert an Saddam. Die deutsche Innenpolitik ist chaotisch und desaströs. Heute druckt die FR zwei gute Repliken auf Ludger Volmers anti-pazifistischen Essay vom 07. Januar, in denen der Pazifismus rehabilitiert wird und die Bedeutung gewaltloser Aktionen für politische Veränderungen zum Beispiel anhand des Mauerfalls aufgezeigt wird. Die Autoren sind Bischof Axel Noack und Wolfgang Sternstein.

Gleichzeitig ist im SPIEGEL ein Bericht über die Mainzer Tage der Fernsehkritik, in denen die Terrorberichterstattung Thema war. Der SPIEGEL untersuchte dabei die kritischen Stimmen wie die von Peter Littger von der ZEIT, Heribert Prantl von der SZ oder Roger Willemsen, die den Medien vorhielten, zu einseitig und zu unreflektiert Position bezogen und Angst geschürt zu haben. Interessant auch Roger Willemsens Kritik, dass die Deutschen kritische Stimmen erst aus dem Ausland importierten, wie Arundhati Roy oder Noam Chomsky. Dies alles ist sehr stimmig mit dem Diskurs unserer Chronik, und es stehen Mechanismen dahinter, die nicht an diese speziellen Namen und Ereignisse gebunden sind, sondern Beispiele sind für gesellschaftliches Verhalten in Extremsituationen wie dem Elften September, in dessen Schatten wir stehen.

Die oben genannten Artikel sind Balsam für viele Zeitungsleser und Fernsehkucker, die diesen ganzen Antiterror-Terror satt haben, und das werden nicht wenige sein. Gleichzeitig ist den aufgewachten Journalisten vorzuwerfen, dass sie es wie unser Außenminister halten, indem sie zu einem Zeitpunkt mit ihrer Kritik und Selbstkritik ankommen, wo die Fakten bereits geschaffen sind. Das ist ein bisschen auch typisch für die Linke, es ist das Arme-Ich-Drama: Die Rechten (Autoritären) gehen bis zum Äußersten, dann gehen sie zu weit, dann beschweren sich die Linken, dann lenken die Autoritären wieder ein und lassen die aufgestaute Kritik zu. Wenn die Linken sich dann ausgemeckert haben, ist das Kontrolldrama vollständig und kann von vorn beginnen. Was die sogenannte Linke dabei offenbar völlig unberücksichtigt lässt, ist, dass sie handeln und sogar siegen könnte.

(3) Webmaster: Ich habe noch ein paar Ergänzungen zu Zoltans Bericht über Szenarien der Didaktik. Und zwar geht es um den trügerischen Materialismus, der in der CONDUIT METAPHOR implizit ist. Wenn wir uns Kommunikationsprozesse vorstellen wie das Verschicken von Information, dann setzen wir ja bereits einen materialistischen Prozess voraus. Die Information, die da verschickt wird, scheint etwas klar Definiertes zu sein, so, wie man materielle Dinge definiert. Information als kumulierende Bits und Bytes. Wissen scheint etwas zu sein, das man analysieren, in seine Einzelteile zerlegen kann, so wie wir es mit den materiellen Atomen tun.

Meiner Ansicht nach ist der Materialismus, der ja offenbar auch vom progressiven Rock'n'Roll kritisiert wird, nicht auf den finanziellen Aspekt zu begrenzen. Es gibt eine Philosophie des Materialismus (was allein bereits reichlich paradox ist), und die zeigt sich in unserem alltäglichen Denken, schon, wenn wir Begriffe wie „Lesestoff“ benutzen. Wir denken so. Die IMPULS-METAPHER dagegen, wie Roger B. sie in seiner hervorragenden Analyse genannt hat, ist offener. Es wird gar nicht bestritten, dass da etwas von einem Sender zu einem Empfänger transportiert wird – geschriebene Wörter oder akustische oder optische Reize –, aber im Rahmen der IMPULS-METAPHER handelt es sich nicht – oder nicht nur – um eine bestimmte Information, die vermittelt werden soll, sondern um ein kommunikatives Klima, das durch den Impuls geschaffen werden soll.

Zoltan und ich haben bislang keine spezielle Anwendungsmöglichkeit für die IMPULS-METAPHER gefunden, aber uns scheint, dass diese Metapher Dinge denkbar machen kann, die bei der CONDUIT METAPHOR aus dem Raster fallen. Ein Indiz dafür, dass wir auf einem fruchtbaren Weg sind, sind die IMAGISTEN, die Mo als erster ins Gespräch gebracht hat. In der Bibliothek fand ich das Buch: IMAGIST POETRY von Peter Jones (1972). Die IMAGISTEN, eine Gruppe von etwa einem Dutzend Dichterinnen und Dichtern, wirkten während der Zeit des Ersten Weltkriegs in England und Amerika. Es ist wohl gerechtfertigt, wenn man Ezra Pound als zentrale Figur dieses Zirkels der IMAGISTEN betrachtet. Pound, ein genialer Mensch, der ein unrühmliches Ende nahm, war von den Symbolisten und dem „vers libre“ beeindruckt, und er entwickelte eine sehr besondere Poetik. „Keine Abstraktion!“, „Das Ding zeigen, wie es ist“, „kein Wort zu viel“ – dies sind einige seiner Grundsätze. Was nun das IMAGE angeht, das die Basis des Gedichts ausmache, so sagt er darüber, es sei die Präsentation eines gleichzeitig intellektuellen und emotionalen Komplexes. Peter Jones hat einige Vorworte und Essays von Pound zu diesem Thema in dem oben erwähnten Buch zusammengetragen. In dem zentralen Text „A few Don'ts by an Imagiste“ sagt Pound auch: ‚It is the presentation of such a 'complex' instantaneously which gives that sense of sudden liberation; that sense of freedom from time limits and space limits; that sense of sudden growth, which we experience in the presence of the greatest works of art.' Dies scheint mir sehr gut zu der IMPULS-METAPHER zu passen: Der Impuls des Gedichts öffnet etwas im Leser, es leitet einen Vorgang ein, den es aber nicht kontrolliert.

Nun hat sich der IMAGISMUS literarisch nicht durchgesetzt. Man hat ihn nicht widerlegt, aber er wird kaum irgendwo erwähnt. Ezra Pound erfand dann den „Vortizismus“ und bewegte sich weiter und die Gruppe teilte sich und fiel auseinander. Das lag sicher auch daran, dass man sich nicht auf eine Poetik einigen konnte oder auch daran, dass die Poetik nicht genau genug war. Ein anderes Zitat von Pound zeigt, dass auch im IMAGISMUS die CONDUIT METAPHOR die kognitive Basis bildet: „Imagism means a clear presentation of whatever the author wishes to convey. Now he may wish to convey a mood of indecision, in which case the poem should be indecisive. ( ...) The 'exact' word does not mean the word which exactly describes the object in itself, it means the 'exact' word which brings the effect of that object before the reader as it presented itself to the poet's mind at the time of writing the poem.“ Hier geht es also wieder darum, eine ganz bestimmte – und sei es eine emotionale – Information kontrolliert durch die Pipeline zum Empfänger zu schicken.

(4) Conan Bukowski: Diese ganze Helen-Keller-Frage heißt doch im Ursprung: Wann darf man über Widerstand hinweggehen, und in welcher Form? Ich könnte mir vorstellen, dass jemand mit guten Absichten durchaus von meinen Methoden profitieren und ein gutes Ergebnis erzielen könnte. Er müsste ja nicht so brutal sein wie ich. Aber den Widerstand zu brechen, kann durchaus richtig sein. Sie wollen ja selbst über diesen Widerstand gehen und ihre Welt vergrößern, aber sie schaffen es alleine nicht. Insofern muss der Schmerz, den sie spüren, nicht unbedingt Leid sein. Wenn jemand über seinen Widerstand gelangt ist, hat er sich ja auch schon entwickelt und ist nicht mehr der, der er vorher war. Die Urteile, die er oder sie vorher gefällt hat, ändern sich, und die Vergangenheit erscheint in einem anderen Licht.

Ich kann übrigens auch etwas mit der IMPULS-METAPHER anfangen, die Zoltan erwähnt hat, ich verstehe, was damit gemeint ist. Zwar aus einem Zusammenhang, den die meisten von euch widerlich finden, aber ich weiß, was damit gemeint ist.

Redaktion in Kiel, 22.02.02

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