home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap

ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
vorige DIE 81. NACHRICHT nächste

(1) Sibylle: Nach R. Baumanns letztem Beitrag zum Erwachsenwerden wissen wir nun also, was wir von ihm denken sollen  ... Obwohl sein Ton mich eigentlich davon abhält, ihn ernst zu nehmen, möchte ich doch auf seine Vorwürfe antworten, da er sicherlich nicht der einzige ist, der so denkt.

Zu den Anarchisten: Ja, es gab und gibt gewalttätige Anarchisten. Diese Gewalt ist aber nicht in der Anarchie begründet. Es geht hier um die allgemeine Frage, ob Gewalt unter bestimmten Umständen ein legitimes Mittel sein kann, seine Ziele durchzusetzen. Die westlichen Demokratien zeigen uns gerade, wie ihre Antwort darauf ist  ... Ich selbst bezweifle, dass Gewalt ein legitimes Mittel sein kann. Ich denke, das ist in meinen bisherigen Beiträgen auch deutlich geworden. Deshalb erscheint mir der Vorwurf, ich würde zu Gewalt aufrufen, lächerlich. Sicherlich, ich stelle den Parlamentarismus in Frage, aber das ist nicht gewalttätig, und mir ist auch neu, dass es strafbar ist.

Was den Vorwurf der Träumerei angeht: Ja, was ich da letztes Mal skizziert habe, sind Träume. Aber um die Zukunft gestalten zu können, müssen wir uns nicht nur darüber klar werden, wie die Gegenwart funktioniert, sondern auch darüber, wie wir uns die Zukunft wünschen. Nur dann können wir unser Handeln sinnvoll beurteilen – danach, ob es uns unseren Wünschen näher bringt, oder ob es uns von ihnen entfernt.

(2) Ozzy: Dass ich einmal so politisch werden würde, hätte ich nicht gedacht. Eigentlich wollte ich nur singen ... Ich sehe mich auch gar nicht so sehr im Vordergrund, wie einige zu denken scheinen. Als Figur ja, weil ich frei und Pazifist bin. Von solchen Stimmen gibt es jetzt zu wenige. Hier wurde manchmal von einer Revolution oder Kulturrevolution gesprochen oder wenigstens damit kokettiert, woran ich mich beteiligt habe. Es sollten dabei aber keine falschen Assoziationen aufkommen. Bei politischen Revolutionen denken viele an Chaos und Plünderungen, gewaltsame Staatsstreiche oder Terrorkommandos. So etwas liegt mir fern, und ich sehe auch sonst niemanden in der Chronik, der sich aus dem demokratischen Rahmen lösen möchte. Wenn ich selbst mich bei revolutionären Gedanken ertappe, dann gehen sie mehr in die Richtung einer kulturellen Erneuerung oder einer wissenschaftlichen Revolution. Eine Revolution in den Köpfen. Und überhaupt: Die halbe Welt redet seit einiger Zeit über Revolutionen, seht euch mal die Werbung an! Dann die Gen-Forschung und die Computer-Industrie.

Ich glaube nicht daran, dass man von Außen mehr verändern kann, als die Oberfläche. Man kann Impulse senden, ja, mit dieser Metapher kann ich etwas anfangen. Dennoch glaube ich an größere gesellschaftliche Veränderungen. Ich will aber niemanden zu etwas zwingen, wie es in den Fraktionen und in den Familien geschieht. Ich glaube auch nicht, dass es das richtige progressive Ziel ist, eine Anarchie zu implementieren, wie Sibylle es vorgeschlagen hat, auch wenn ich mit vielen der Aspekte der Gerechtigkeit im Anarchismus sicherlich übereinstimme. Ich glaube eben überhaupt nicht an Implementierungen. Vielmehr sehe ich die Gesellschaft als ein chaotisches System mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Der Soziologe Niklas Luhmann interessiert mich in diesem Zusammenhang. Ich glaube daran, dass sich aus dem System heraus eine Art natürliche Ausgewogenheit erkennen und herstellen lässt, wenn wir wieder lernen, Dinge miteinander zu tun, statt gegeneinander. Ich schließe mich da gar nicht aus, denn ich habe auch meine Schwächen in der Kommunikation, ich weiß das.

An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal betonen, dass ich Deutscher bin. Die Tatsache, dass mein Vater aus Marokko kommt und in Frankreich aufgewachsen ist, macht mich nicht zu einem Halbdeutschen oder so etwas. Früher habe ich selbst gedacht und gesagt, ich sei Halbdeutscher, aber das war Quatsch. Ich bin Deutscher. Meine arabische Identität habe ich mir später angeeignet, ebenso wie meine französische und meine amerikanische. Ich fühle mich schon auch arabisch, und es hat auch seine Berechtigung, wenn ich mich einen Araber oder einen Marrokaner nenne, aber geboren und aufgewachsen bin ich hier. Identitäten auszubilden ist eines meiner liebsten Hobbys, weil man so in die Kollektivpsyche einer anderen Kultur verreisen kann. Es ist Deutschen oft schwer gefallen, mich als Deutschen zu sehen. Dazu kann ich heute nur sagen: Das hatte alles nichts mit mir zu tun.

Ich habe ein Nationalbewusstsein. Ich glaube, das wird mir vorgeworfen. Die Linken sagen, wir wollen überhaupt keinen Nationalismus, und die Rechten sagen, so einer darf doch kein Nationalist oder Patriot sein. Aber ich habe ein Nationalbewusstsein, so wie ich auch ein Selbstbewusstsein und ein Weltbewusstsein habe, und ich plädiere auch dafür. Damit steht Deutschland für mich keineswegs über oder in Gegnerschaft zu irgendwelchen anderen Ländern, sondern völlig gleichberechtigt. Für mich ist Deutschland etwas, das ich neu entdecken möchte. So viel ist zugeschüttet von den Errungenschaften deutschen Geistes, verdreht und vergessen worden, dass man Deutschland neu entdecken muss. Natürlich gehört Amerika zu unserer Kultur, wie sollte ich als Rock'n'Roller das nicht wissen. Ich singe sogar auf englisch, weil amerikanische Musik in der Welt führend ist und war. Aber ich lebe hier, und was ich schreibe, kommt von hier. Es ist deutsch.

(3) Carl: Ich möchte gleich auf diesen Conan-Spinner antworten, von wegen: „Den Widerstand zu brechen, kann durchaus gut sein.“ Du hast ja bereits zugegeben, ein Sadist zu sein, insofern darfst du dich nicht wundern, wenn dir solche Mistsätze vorgehalten werden. Du legitimierst Gewalt, weil du Gewalt magst, und das ist auch schon alles. Eine Welt ohne Gewalt muss ja auch langweilig für dich sein, kein Wunder, dass du dir irgendwelchen Mist ausdenkst, um weiterhin die anderen zu unterdrücken. Glaub bloß nicht, dass du dich damit irgendwie ankuscheln kannst.

Natürlich, wenn Anne Sullivan hinsichtlich ihrer Schülerin Helen Keller sagt: „Den Widerstand zu brechen, kann durchaus gut sein“, dann spürt man eine gewisse Berechtigung in dem Satz, aus dem Munde eines Vergewaltigers hört sich das aber ganz anders an. Ich möchte auch an den Pferdezähmer Monty Roberts erinnern, über den Maja vor 30 Nachrichten geschrieben hat: Er hat die Tiere gezähmt, indem er ihre Sprache gelernt hat. Das ging ohne Gewalt. Montys Vater dagegen benutzte eine autoritäre Widerstand-Brechen-Methode. Aber es ist sein Sohn, der weithin bekannt für seine erfolgreichen Zähmungen wurde, nicht der Vater.

(4) D. Hofstaedter: Hier eine psychologische Ergänzung zum Thema Kontrolldramen. Es stellt sich ja die Frage, warum wir solchen destruktiven Dramen unterworfen sind. Ich würde das so erklären: Das Bewusstsein und das Unterbewusstsein haben oft unterschiedliche Ziele. Das Unterbewusstsein strebt langfristig nach Erlösung, nach dem Zustand der Unschuld, und versucht, ihn zu halten. Dabei orientiert es sich an Erfahrungswerten, die bis ins frühkindliche Stadium zurückgehen. Wenn wir zum Beispiel unsere eigenen Handlungen nicht verstehen, dann ist es oft das Unterbewusste, das uns gelenkt hat. Es kann sein, dass ich einer Person ständig wehtue, der ich eigentlich nur Gutes will, weil mein Unterbewusstsein Rache nehmen möchte für etwas, was mit dieser Person gar nichts zu tun hat. Das Bewusstsein hingegen ist der Part, der unter anderem die eigene Schuld wegrationalisiert.

In der Trance wird das Bewusstsein mit dem Unterbewusstsein zusammengeführt wird. So etwa stelle ich es mir vor, wenn zum Beispiel ein Musiker komponiert oder versunken auf der Bühne ein Stück spielt. Meiner Ansicht nach stammt die Kraft kreativer Leistungen aus einem erfolgreichen Versöhnungsversuch zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein.

(5) Marwan J.: Die Zeitungen schreiben jetzt vermehrt über die so genannten Globalisierungskritiker, die sich unter dem Dach des ATTAC-Netzwerks sammeln. ATTAC wurde hier ja schon mehrfach genannt. Auch ich bin positiv von dieser Organisation eingenommen. Nach dem Vorfall in München und der ATTAC-Kritik am Gesundheitssystem müssen die Politiker und die Presse sich zunehmend mit den ATTAC-Ideen auseinandersetzen. Aber vor allem die Globalisierungskritiker selbst sind gefragt, ihre Richtung und ihre Identität festzustellen. Im Jahre 2002 ist der Markt ziemlich voll: Es gibt GREENPEACE und AMNESTY INTERNATIONAL, und ATTAC sieht sich nicht in Konkurrenz zu ihnen, sondern als Ergänzung. Sein Schwerpunkt sind wirtschaftliche Themen. Das ist eine klare Definition, und es ist darüber hinaus dringend notwendig, dass es so etwas gibt. Wirtschaftliche Themen sind allerdings nicht besonders medienwirksam, das ist ein Nachteil.

Der Vorteil von ATTAC ist, dass es eine Bewegung ist. Sie beweist, dass es ein Potenzial von Leuten gibt, die protestieren, und die Richtungswechsel wünschen. Das Wort „Globalisierungskritiker“ ist in diesem Zusammenhang sehr unglücklich, denn es deutet an, dass man sich noch nicht so richtig im Klaren darüber ist, wogegen man eigentlich (alles) protestiert. „Monopolkritiker“ wäre schon genauer, aber auch da fragt man sich, was das denn vorstellen soll. Die Presse wird bereits ein wenig ungeduldig und fragt, wie denn nun diese andere Welt aussehen soll, die angeblich möglich ist. Und man fragt sich, ob es denn eine bessere Welt ist, und wenn ja, warum sie es nicht gleich so nennen, ob sie vielleicht doch nicht so überzeugt davon sind, eine solche Welt nicht nur konstruieren, sondern auch anbieten oder gar vorleben zu können.

Für mich stellt es sich so dar, dass es in Deutschland und in der Welt vor und nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Versuche gegeben hat, diese andere oder bessere Welt zu suchen und zu leben, um nie wieder Krieg leiden zu müssen. Es gab in England John Osbornes Theaterstück BLICK ZURÜCK IM ZORN, ich glaube 1954, dann Elvis, Dylan und die BEATLES, die Studentenbewegungen, Martin Luther King, Woodstock, die Öko-Friedensbewegungen, die GRÜNEN, Glasnost, GREENPEACE, und jetzt eben ATTAC. Man wird gar nicht so recht planen können, wohin das Schiff gehen wird, es kommt eher darauf an, was aus dem gesellschaftlichen Potenzial geworden ist nach den oben genannten historischen Erfahrungen. Darauf kann man erst antworten, wenn deutlich geworden ist, warum ATTAC einen solchen Zulauf erfährt. Dass die Polarisierung zur WTO der Grund ist, bezweifle ich.

(6) Mark H.: Ich habe mich gefragt, was es eigentlich mit Tabus auf sich hat, und ich sehe darin ein Machtinstrument des Establishments. Was hier manchmal „Das Schweigen“ genannt wurde, beruht ja auf Tabus. Tabus führen zu Verdächtigungen. Wenn jemand einen anderen verdächtigen möchte, kann er ein Tabu aufbauen, innerhalb dessen er die Welt so sieht, wie er will. Die Verdächtigten spüren, dass sie verdächtigt werden, sie haben aufgrund des Tabus aber keine Mittel zur Kommunikation. So war es bei mir, wie ich es in meinem längeren Beitrag geschildert habe. Den Verdacht finden die Verdächtigten dann in den Fernsehnachrichten ausgesprochen und manifestiert. Sie fühlen sich wie Milosevic, angeklagt. Schuldig oder nicht, jedenfalls angeklagt. Aber schlimmer als für Slobo ist, dass die Anklage gar nicht ausgesprochen wurde. Slobo konnte sich zu den Anschuldigungen äußern, sein Fall ist nicht tabu, er wird diskutiert und wahrgenommen. Die Tabu-Verdächtigten identifizieren sich so mit Slobo und entwickeln eine Opposition zum Establishment, die ohne das Tabu gar nicht nötig gewesen wäre."

Redaktion in Kiel, 24.02.02

Nächste Nachricht >>


+++ ROCK'N'ROLL +++ NACHRICHT VON OZZY BALOU +++ EINE REKONSTRUKTION +++
hoch
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)