(1) Sibylle: Das ist ja zum verrückt werden! Ich habe nicht vorgeschlagen, eine Anarchie zu implementieren! Ich habe lediglich gesagt, was Anarchie bedeutet, bzw. was ich glaube, was sie bedeutet. Und ich habe gesagt, dass ich mir vorstellen kann, dass Gesellschaft so funktionieren kann. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass man nur Anarchie sagen muss, und alle machen die Klappen dicht. Dass R. Baumann einem nicht zuhört, o.k., das ist schade, aber nicht anders zu erwarten. Von Ozzy erwarte ich schon, dass er genauer liest.
Ich stimme mit Ozzy ja darin überein, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht implementiert werden kann. Doch auch wenn sie nicht planbar ist, halte ich es für wichtig, sich zu fragen, wie die Gesellschaft aussehen könnte und ob man sie so haben will. Marwan schreibt im Hinblick auf ATTAC ja auch, dass die Leute wissen wollen, wie eine andere Welt aussehen kann. Dabei geht es nicht darum, nur von Träumen zu sprechen, sondern darum, so zu handeln, dass wir einer anderen Welt näher kommen. Handlung ist dann der Weg, um andere Leute von der Machbarkeit gesellschaftlicher Alternativen zu überzeugen (dadurch dass sie positive Impulse erhalten).
Natürlich ist es (in diesem Zusammenhang) Blödsinn, irgendjemanden zu irgendwas zu zwingen. Es geht im wesentlichen um Freiheit und die daran verknüpfte Gerechtigkeit. Und es ist ja völlig absurd, jemanden zur Freiheit zu zwingen!
(2) Guido: Ich finde es eine ziemliche Frechheit, dass hier öffentlich einfach so Leute verdächtigt werden. Ja, ich war das mit der roten Seemannsjacke, von der Mo erzählt hat, und ich bin an besagtem Abend mit Torsten kurz mal draußen gewesen, weil wir etwas zu besprechen hatten. Inzwischen werde ich ja auch schon verdächtigt. Ich habe damals meine Aussage zu Protokoll gegeben, und ich finde es ziemlich bescheuert, dass sich jetzt irgendwelche Emanzen dazu aufschwingen, den Inspektor zu spielen und den Leuten damit auf die Nerven zu gehen. Ihr habt überhaupt nichts in der Hand, also lasst die Leute in Ruhe!
(3) Ozzy: Im Bundestag wurde am Freitag letzter Woche über die Rock- und Popmusik debattiert, auf Anfrage der CDU/CSU, die sich mehr Förderung und Aufmerksamkeit gegenüber diesem Kultur- und Wirtschaftsfaktor wünscht. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU hat darüber geschrieben. Die lese ich derzeit immer als erstes, wenn ich meine Presseschau mache. Man kann sich ja neuerdings auch die Plenarprotokolle der Bundestagsdebatten runterladen. Das ist jetzt wirklich mal fortschrittlich zu nennen. Das ist wirklich Demokratie. Jeder Bürger kann zeitnah nachlesen, was im Bundestag gesagt wurde, und seinen Senf dazu geben, wenn er mag. Das ist cool.
Ebenfalls cool ist das Rock'n'Roll-Ministerium. Und zwar hat Michael Roth von der SPD gesagt, es würde bei uns keinen Rock'n'Roll-Minister geben, weil die Politik eher Zielscheibe des Rock sei als sein Verbündeter. Und dann sagt er noch, das sei auch gut so. Herr Roth sieht sich damit explizit als Gegner des Rock'n'Roll. Ich muss sagen, so etwas Dreistes habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Alles, was ich als Rockmusiker für mein Land getan habe, lehnt Roth mit einem Satz ab und behauptet, ich sei gegen mein Land und die Politiker. Das ist wirklich ein starkes Stück. Aber wenn dieser SPD-Abgeordnete stellvertretend für seine Partei der Ansicht ist, dass meinesgleichen als Gegner zu werten ist, dann wird er keinen schwachen Gegner haben, darüber sollte er sich im Klaren sein.
Deshalb gibt es jetzt auch das Rock'n'Roll-Ministerium. What you fear is what you get. In der Debatte sprachen die Rotgrünen von einer „Subkultur“, das hat mich sowieso genervt. Was glauben die denn, wer die sind? Roth meint also, der Rock'n'Roll habe in der offiziellen Politik nichts zu suchen. Na gut, dann ist das Rock'n'Roll-Ministerium eben außerparlamentarisch. Kein Problem. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, es mit dem Deutschen Bundestag aufzunehmen, wenn die solche Patzer machen wie der Herr Roth. Ich stelle mich daher mit sofortiger Wirkung als kommissarischer Rock'n'Roll-Minister zur Verfügung, damit es gleich losgehen kann. Eine Tagesordnung gibt es aber erst einmal nicht. Das Rock'n'Roll-Ministerium ist einfach nur zuständig für Rock'n'Roll. Ja, das gefällt mir wirklich gut. Auf diesen Gedanken wäre ich von alleine gar nicht gekommen, glaube ich."
(4) Hanna: Gestern abend auf der Bühne, mitten bei einer Improvisation auf dem Saxophon, hatte ich eine Art Vision. Sie war sehr eindringlich, und da sie noch frisch ist, will ich hier versuchen, sie wieder an die Oberfläche zu bringen. Wenn man versucht, den Begriff der „Improvisation“ zu definieren, wird man zu so etwas wie „planlose sinnvolle strukturierte Handlung“ kommen oder so ähnlich. Unkontrolliert, aber schön, einer inneren Maßgabe folgend, suchend auf einem ästhetischen Weg, in Bewegung. Es ist schwer, diese Vision in Worte zu fassen. Was ich jedenfalls spürte, war ein Gefühl von immenser Freiheit, hervorgerufen durch die Selbstsicherheit und die Beherrschung des Instruments. Es trug mich weit fort, doch musste ich keine Angst haben, im Gegenteil, je weiter ich kam, desto wohler fühlte ich mich. Die vergangenen Sekunden waren schön, und so würden es auch die nächsten werden. Als herrschte ich über Vergangenheit und Zukunft. Das Solo hat etwa fünf Minuten gedauert, haben mir die Musiker später erzählt. In Wirklichkeit hat es aber mehrere Stunden gedauert, wenn ihr versteht, was ich meine.
Heute morgen wirkte dieses Erlebnis noch stark nach. Ich begann es zu rationalisieren und beginne, es in den Kontext unseres Diskurses einzuordnen, denn was ich da gestern gespürt habe, war eine tiefe Wahrheit. Ich habe das Erlebnis dann als Situation betrachtet und versucht, es näher zu bestimmen. In unserem Diskurs haben wir ja von Kontrollsituationen gesprochen und über die Frage, wieviel Kontrolle nötig ist, und wie man die Gerechtigkeit in sozialen Situationen wahren kann. Ebenfalls haben wir davon gesprochen, dass Trance-Situationen etwas Gegenteiliges darstellen, einen Kontrollverlust, aus dem heraus die Situation entsteht. Diese beiden Arten von Situationen sind mir gestern abend ganz deutlich als Fraktale und als Gegenteile in der Vision erschienen, und zwar als geschlossene und als offene Situationen.
Bei meiner Imrovisation hatte ich das Gefühl vollständiger Öffnung oder Offenheit. Die Situation gehörte mir nicht, sondern ich gehörte der Situation. Ich verstand, dass solche Situationen Angst hervorrufen können, wenn die Person, die sie erfährt, nicht dieselbe Sicherheit spüren würde, die ich in dem Moment hatte. Für mich war alles klar, ich brauchte die Situation nicht zu kontrollieren, brauchte mich nur ganz hinzugeben, und die Töne zogen sich wie von selbst aus dem Instrument, ich stand wie daneben, betrachtete, was ich hörte, erinnerte mich: ach ja, da ist wieder diese jazzige Schleife, die kommt manchmal, wenn ich spiele, stimmt ja, das bin ich, und was höre ich jetzt? Ich moduliere, gelange in eine andere Tonart, langsam, so dass die Musiker mir folgen können, verstehen sie, was ich tue? Ja, sie folgen, sind konzentriert. Sie haben Erfahrung mit mir, sie erlauben es mir, jetzt komme ich zurück in die Spur vom Anfang, deute das Thema an, noch einmal als Echo, mache noch einen Abstecher über diesem interessanten Akkord und kehre zurück.
Die Situation war also völlig offen und unbestimmt. Nur so hat sie sich entfalten können. Es war eine Eigendynamik. Als Musikerin strebe ich offene Situationen an, weil sie für mich das Tor zur Welt sind. Nur in offenen Situationen gibt es das Neue. Ohne meine Kreativität hätte ich aber nicht den Mut für offene Situationen. Ich verlasse mich auf meine Improvisationsfähigkeit, aus Erfahrung. Damit habe ich etwas, an das ich glaube.
Geschlossene Situationen sind in der Gesellschaft vorherrschend. Wir planen. Wir gehen in die Schule und erfüllen einen Plan. Wir gehen arbeiten und erfüllen einen Plan. Wenn die Leute zusammensitzen, halten sie es nicht aus, sie machen einen Plan, um eine Aufgabe zu haben, um die Situation einschätzen zu können, um Begriffe zu haben, mit denen sie die Situation beschreiben können. Sie brauchen eine Normalität, eine Norm. Warum brauchen sie die? Ich weiß es nicht. Vielleicht, um sich über etwas zu definieren. In einer offenen Situation sind die Personen nicht definiert, im Gegenteil, sie verlieren vergessend ihre eigene Identität. Da ist kein Ego mehr. Da ist nur noch Musik. Es ist die Hingabe an den Augenblick. Vielleicht ist es den Leuten peinlich, zu zeigen, dass sie eine hingebungsvolle Seite haben, eine Seite, die sich beeinflussen lässt, die probieren will, die lernen will.
Dies soll ein Plädoyer für offene Situationen sein. Es ist viel Kraft in offenen Situationen, und wir sollten sie herstellen, wo immer es möglich ist. In Trancen oder bei Improvisationen, im Spiel und in der Liebe, in Schulen und auch in der Politik. Denn in offenen Situationen ist unsere Wahrnehmung geschärft, wir sind nicht kontrolliert und können der inneren Dynamik folgen, die die Situation uns vorgibt. So kommt man bis zum Kern der Dinge. Das Selbstbewusstsein, das dafür nötig ist, entsteht durch Selbsterfahrung.
Schließlich ist es mir ein Vergnügen, ankündigen zu dürfen, dass Ozzy am kommenden Sonnabend um 20 h bei Maria die Songs seiner neuen Platte spielen wird in einem Soloauftritt. Jeder ist herzlich eingeladen.
(5) Maja: Marwan J. sprach davon, dass die Errungenschaften der Aufklärung und der Demokratie der Neuzeit vielleicht gar nicht so groß sind, wie man gemeinhin annimmt. Er tat das im Zusammenhang mit der Frage nach der Trennung von Kirche und Staat. Ich möchte hier einhaken und ein paar Fakten von der Zeit der französischen Revolution ergänzen. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Darum ging es. Es sollte kein Gottesstaat sein und keine Monarchie, sondern eine Selbstverwaltung des Volkes.
Schon 1793 aber wurde Paris und ganz Frankreich Opfer eines Staatsterrors, der von Robespierre selbst initiiert wurde, um das neue System vor vornehmlich inneren Feinden zu schützen. Mit einem „Gesetz über die Verdächtigen“ wurden Tausende, Zehntausende denunziert und ermordet. Der junge Staat fing also gleich mit Angst an. In dem aktuellen G/Geschichte-Heft, das hier schon erwähnt wurde und das am Freitag bei Maria auslag, ist ein ausgezeichneter Artikel darüber, der sich auch traut, diese Gewalt historisch weiterzuverfolgen bis ins 20te Jahrhundert.
Das sind die Wurzeln, an die wir zurückgehen müssen. Wenn wir die Französische Revolution als eine Basis unserer Gesellschaftsordnung betrachten, müssen wir auf jeden Fall diese dunkle Seite mitbetrachten und uns fragen, ob es auch ohne den Staatsterror gegangen wäre, und ob das nicht sogar zu einer gewaltfreieren Zukunft hätte. Ebenso müssen wir vorgehen, wenn wir uns auf die Trennung von Kirche und Staat berufen, indem wir an die Ursprungssituationen zurückgehen und sie neu bewerten, mit unserem heutigen Wissen also.
Redaktion in Kiel, 26.02.02
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