(1) Marco H.: Wir hatten uns ja unter anderem vorgenommen, die Tabus zu finden und anzusprechen, die es bei uns gibt. Wir haben auch bereits über Sex als Tabu gesprochen, und es kam den meisten dabei so vor, als lebten wir in einer eher unaufgeklärten Welt. Vielleicht kann man auch sagen: Je härter die Fernsehbilder, desto empfindlicher die Zuschauer im realen Leben. Weil man Extremsituationen im Fernsehen gesehen hat, bildet man sich ein, sie erlebt zu haben und mit ihnen umgehen zu können. Ich sage das durchaus auch aus eigener Erfahrung.
Ein Tabu jedenfalls, über das wir noch nicht gesprochen haben, ist Pädophilie. Ich will hier versuchen, mich der Problematik zu nähern. Gerade versucht ein Verein mit Namen „Krumme 13“ in dieser Stadt (Hamburg, der Red.) Fuß zu fassen. Auf ihrem Logo steht: „Kinderliebe, liebe Kinder“. Die MOPO hat das kürzlich zweimal auf der Frontseite gebracht, um diesen Club zu verhindern, und es sieht nicht so aus, als könnte diese krumme 13 irgendwo anders landen als vor dem Richter. Nach der These der 13-Leute sind sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in Ordnung, wenn die Kinder es okay finden würden. Sie würden zu nichts gezwungen. Dem wird zu Recht entgegengehalten, dass Kinder noch nicht in der Lage sind, die Arten des Zwangs zu verstehen und wirklich frei zu handeln. (Was man allerdings auch von den meisten Erwachsenen sagen kann.)
Insgesamt ist sich die Gesellschaft darüber einig, dass Sex mit Kindern eines der schwersten Verbrechen überhaupt ist. Kinder stehen für das Hilflose Unschuldige Zarte. Sie auszunutzen ist bereits schlimm (siehe die Teppichknüpferkinder), aber dann auch noch sexuell, also aus den niedersten Motiven ... Stopp! Hier ist die erste Falle. Wir assoziieren Sexualität an sich bereits mit niederen Motiven. Kinderarbeit ist für uns nicht so schlimm wie Kindersex. Eine weitere Falle ist die Projektion. Unsere Gesellschaft weiß, dass es den Kindern bei uns nicht so gut gehen kann, weil es uns allen nicht besonders gut geht. Sie wissen, dass die meisten Kinderwünsche nicht erfüllt werden, dass unsere Städte voller Autos und Beton sind, dass wenig Zeit für die Kinder da ist, dass die Schule oft eine Quälerei ist usw.. Eltern und andere Erwachsene mit solchen Schuldgefühle können auf die Kinderschänder verweisen, sich gegen sie abgrenzen und die Kinder damit wenigstens in abstrakter Weise in Schutz nehmen. Doppelmoral eben.
Die Relevanz der Kinderschänderdebatte ist bedeutend größer als die der Kinderschänder. Hinter diesem Thema lässt sich nämlich viel Prüderie verstecken. Es ist ein Thema, bei dem man gegen den Sex sein kann, ohne gesellschaftlichen Widerspruch erwarten zu müssen. Und Lustfeindlichkeit ist einer der stärksten Impulse des Establishments, das ja auf Angstdenken gegründet ist und auf Leidenmüssen (siehe den „Arbeitsmarkt“). Kompensiert wird das durch Konsum-„Genuss“ und auch durch Gewalt. Deshalb wird Sexualität vom Establishment auch gerne in Verbindung mit Gewalt gesehen: Es ist die Gewalt, die vom Establishment latent selbst ausgeht.
Als ich letztens mit Simon gesprochen habe, der ja selbst eine kleine Tochter hat, beklagte er sich darüber, dass man als Vater heutzutage aufpassen muss, sein Kind nicht zu sehr lieb zu haben, damit man nicht verdächtig wird. Kinder schmusen mit ihren Eltern. Das ist normal. Wo sind die Grenzen? Ich habe öfter Eltern gesehen, die lange Zungenküsse mit ihren Kindern tauschen. Es stieß mir nicht auf, aber ich gebe zu, gedacht zu haben: „Wie würden andere reagieren, wenn sie so etwas sehen würden?“, und damit war ich schon halb bei der Verdächtigung. Dabei ist der Kuss ursprünglich – so sagt die Legende – aus der Mund-zu-Mund-Fütterung entstanden, also einem typischen Eltern-Kind-Szenario.
Ich glaube nicht, dass man das Kinderschänderproblem lösen oder durch harte Bestrafungen abbauen kann. Die Problematik ist eine anthropologische Konstante. Die Urteile werden im Wesentlichen am Einzelfall gefällt. Ich bin allerdings dafür, Kinderpornografie zu verbieten. Dafür reichen unsere Gesetze auch aus. Sicher, es bleibt das Grundproblem, dass sich „Pornografie“ nicht definieren lässt. Es ist Anschauungssache und kann nur relativ zu relativen Begriffen wie „Sitte“, „Moral“, „öffentliches Ärgernis“ oder „Würde“ beschrieben werden. Aber es gibt dennoch eindeutige Fälle, die auch liberale Menschen verboten sehen wollen. Ansonsten ist es bestimmt gut, diese Sachen nicht allzu analytisch zu betrachten, um keinen Kult zu fördern, wie es die Presse leider tut, denn durch die Berichterstattung kommen viele ja erst auf den Geschmack. Die sagen sich: Was, Kinderschänder kann jeder sein? Vom Penner bis zum Generaldirektor? Das müssen wohl besondere Genießer sein etc., und schon wird ein Interesse geweckt. Auf keinen Fall aber darf diese Kindertäterdebatte dazu führen, dass wir ein neurotisches Verhältnis zu Kindern entwickeln!
(2) Chong: Wir alle sehnen uns nach einer Ordnung. Niemand kann ohne Ordnung leben, ohne Regelmäßigkeit, Routine. Die Welt würde zu komplex werden. Da die meisten nicht selbst eine Ordnung aufbauen können und wollen, vertrauen sie auf die bestehende Ordnung. Wir sollten klären, inwieweit die nicht kontrollierten Situationen, die Hanna „offene Situationen“ genannt hat, die Sicherheit gefährden. Denn vor dem Sicherheitsverlust haben die Leute Angst.
Abgesehen davon, dass meiner Ansicht nach die Sicherheit in den bestehenden Ordnungen trügerisch ist, glaube ich nämlich nicht, dass Kontrollverlust auch Sicherheitsverlust sein muss. Natürlich gibt es immer Leute, die Kontrolllosigkeit mit einem Machtvakuum gleichsetzen, das von dem nächstbesten ausgenutzt wird (Die Verrätertheorie, der Red.). Aber meiner Meinung nach sind die Leute das Problem, die so denken, und nicht irgendein angebliches Machtvakuum. Vielleicht können wir uns schon gar nicht mehr vorstellen, dass es soziale Situationen gibt, in denen niemand herrscht. Vielleicht fragen wir, ja gut, aber was soll das für eine Situation sein, wo keiner herrscht? Beim Spiel vielleicht, aber in der Realität? Und so schaffen unsere Zweifel erst diese Realität, in der es ohne Kontrolle nicht geht.
Beide Ansätze, Kontrolldenken und offenes Denken, sind self-fulfilling Prophecies. Alle Kontroll- und Gewaltpolitiker berufen sich auf eine Bedrohung von Außen oder von Innen. Sie sagen, wenn wir die Situation nicht kontrollieren, dann werden die anderen sie kontrollieren. Siehe Afghanistan und Sicherheitspakete. Klassisches Angstdenken. Es beruht auf dem Glauben, dass etwas Böses passiert, wenn wir die Situation nicht kontrollieren. Im Umkehrschluss suggeriert diese Politik auch, dass Kontrolle etwas Positives ist, das Sicherheit schafft. Offenes Denken beruht dagegen auf dem Glauben, dass unkontrollierte Situationen eben die sind, die uns weiterbringen, weil sie immer etwas Neues bedeuten. Sie sind frei und lassen eher Wünsche als Ängste heraus. Vor allem aber schöpfen die Beteiligten die Situationen gründlich aus, weil sie sie nicht steuern, nicht stören.
Es wäre allerdings Unsinn, gegen Kontrollsituationen zu plädieren, denn wir brauchen Kontrollsituationen. Wenn der Busfahrer die Bussituation nicht kontrollieren würde, wäre das schrecklich. Auch, um einen Staat zu führen, braucht man Kontrolle, völlig klar. Kritische Kontrolle. Wobei die Kritik an der Situation zu üben ist, nicht an Personen. Eine Wende wäre für mich dann vollzogen, wenn die Bedeutung und der Wert von offenen Situationen gesellschaftlich erkannt werden. Offene Situationen werden meist abgetan als Unterhaltung, Spiel, Zerstreuung, Unernst. Die Meditation gehört zu den wenigen offenen Situationen, die bei uns einen einigermaßen guten Ruf haben.
Natürlich gehört auch Sex zu den offenen Situationen, und Sex ist in vieler Hinsicht einer der wichtigsten Indikatoren von gesellschaftlicher Befindlichkeit. Da es nämlich eine Furcht vor offenen Situationen gibt, in denen man mit sich selbst konfrontiert wird, werden auch sexuelle Situationen oft in Kontrollsituationen überführt. Hier wird die Absurdität des Angst- und Misstrauensdenkens besonders deutlich: Wer würde beim Sex als erstes darauf achten, dass kein Machtvakuum entsteht? Nun gut, für viele gilt es so. Andere dagegen lassen die Situation einfach geschehen und erleben tiefe Gefühle, weil sie eine ganz andere Art von Sicherheit spüren, nämlich die, die sich bei Glücksgefühlen öffnet.
Übrigens: Ich weiß nicht, ob es jemandem von euch aufgefallen ist, aber wir zeigen und belegen in dieser Chronik, dass die Gesellschaft autoritär ist. Stars wie Elvis und die anderen authentischen Rock'n'Roller stehen mit ihren Welten gegen das Autoritäre, sie zeigen, dass es ein anderes Denken gibt. In den knapp 50 Jahren seines Bestehens konnte der Rock'n'Roll seine gesellschaftliche Rolle noch nicht voll ausbilden. Versuche wurden gemacht, Möglichkeiten probiert, doch verwässerten die Bewegung und ihre Impulse. Das ist wohl das Subversive am Rock'n'Roll, dass er durch sein bloßes Sein autoritäres Verhalten bei einigen Konservativen geradezu provoziert und damit für jeden sichtbar macht. Das liegt nicht an den Rhythmen, es liegt auch nicht an den Texten, es liegt an den Rock'n'Rollern und ihrer Art, offene Situationen hervorzurufen.
Deshalb wird auch zum Beispiel nicht Ozzys Musik abgelehnt oder seine Texte, sondern diese Art der Persönlichkeit ist manchen suspekt. Wenn nämlich jemand lebensfähig ist, der durch Kindlichkeit und offene Situationen zu seiner Stärke findet und zu inspirierten Kompositionen und wenn er innerhalb unseres Systems nicht zu solcher Stärke finden kann, dann macht er das Establishment dadurch erst deutlich und sichtbar. Es hat Angst davor, dass die Welt nicht so sein muss, wie sie gelernt und gelehrt wird.
(3) Silke: Hauptsache es passiert nichts. So kommt mir unser Land öfter mal vor. Ich kann die Spannungen zwischen dem offiziellen Deutschland und dem familiären Deutschland sehr gut spüren. Wenn ich darüber nachdenke, lande ich mit meinen Gedanken regelmäßig beim Dritten Reich und noch davor, in der Kaiserzeit. Aber im Wesentlichen habe ich dann die Situation 1945 im Kopf, als alle Deutschen sich schlagartig bewusst wurden, dass sie den Krieg mit Pauken und Trompeten verloren hatten. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein? Wie soll man damit umgehen, wenn alles falsch gewesen ist? In diesem Moment zerbröckelt die Identität. Der Führer hatte das ganze riesige Land verkörpert, und er stellte sich als ein wahnsinniger bösartiger Mensch heraus. Er tötete sich selbst. Er war weg. Und was er aufgebaut hatte, war falsch. Und die Juden zu verteufeln war auch falsch. Alles war falsch.
Wir haben hier schon öfter von der fehlenden echten Aufarbeitung gesprochen und auch auf Herrn von Donahnyi hingewiesen, der davon sprach, dass frühere Generationen noch zu nah am Ereignis standen, um damit umgehen zu können. Eine Bereitschaft zur Aufarbeitung gibt es schon lange, und es ist jetzt auch nicht so, als wäre gar nichts passiert. Die Frage bleibt, wie wir weiterkommen können, damit es mehr Freiheit in unserem Land gibt und weniger Gewalt.
Ich möchte mich dem Thema von einer anderen Seite nähern: Glücksgefühle setzen ein Klima von Ungezwungenheit voraus. Wenn man Glücksgefühle zulässt, aktiviert man gleichzeitig alle anderen starken Gefühle, die in einem schlummern. Glück muss man lernen, lernen, es zu ertragen, lernen, die anderen Gefühle zu akzeptieren und zu kontrollieren. Das gilt auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Wenn die Deutschen Excitement zulassen, kommt damit auch 1945 zurück.
Man muss bedenken, dass es nicht nur um den Kriegsverlust geht, sondern auch darum, dass nicht genug darüber gesprochen wurde. So wurde auch nach 45 über unangenehme Dinge nicht immer gesprochen. Warum sollte sich das geändert haben? Seit 45 lebt Deutschland mit einem Geheimnis. Es wurde bereits erwähnt, dass Deutsche niemals mit einem solchen Eifer einem Krieg entgegengefiebert hätten, im Kosovo, in Mazedonien, in Afghanistan, wenn sie den Zweiten Weltkrieg bewältigt und verstanden hätten. Sie hätten einen Ekel entwickelt vor militärischer Gewalt. Das haben sie nicht. Und wenn Deutsche mit einem Geheimnis leben können, dann können sie auch mit zweien leben und mit zehn. Man spricht einfach über bestimmte Dinge nicht, das ist bei uns so.
Rock'n'Roll ist Excitement. Er sagt: Komm, tanz mit mir. Er sagt: Free your mind! Er sagt: Hauptsache es passiert was! Aber die deutsche Seele ist verängstigt wie ein kleines Mädchen allein im dunklen Wald. Lieber nicht, sagt sie. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, sagt sie. Und dann sagt sie noch, dass sie das alles sowieso schon im Fernsehen gesehen hat. Und so, meine Lieben, ist es dazu gekommen, dass es im offiziellen Deutschland kein Excitement gibt, sondern Günther Jauch. Der ist ja auch nicht schlecht. Vor allem nett und freundlich.
Redaktion in Kiel, 28.02.02
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