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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Es sollte erwähnt werden, dass die Quoten weiter steigen. Dies hier ist ja eine Art Live-Show, und da ist es nützlich zu wissen, dass jetzt etwa 750 Rechner in der Woche auf dieser Website sind. Hier sind die Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Ulrich S.: Also ich weiß nicht, was ich davon halten soll, wie sich diese Chronik entwickelt hat. Es sind viele gute Sachen drin, bestimmt, aber insgesamt zerfranst die Geschichte doch mit der Zeit auch ein wenig. Was die Recherchen im Fall BLUESLAND angeht, so bin ich nicht sehr glücklich darüber. Erich, also Herr Solms, ist sogar ziemlich verärgert. Er war damals einer der leitenden Polizisten, die mit der Kripo an dem Fall dran waren. Ich muss mich den Stimmen anschließen, die gesagt haben, dass Verdächtigungen in der Öffentlichkeit keine gute Sache sind. Ich verstehe schon, dass es bewirken soll, dass die Beteiligten sich an vergessene Details erinnern oder dass sich der oder die Täter verraten, aber auf der anderen Seite steht die Unschuldsvermutung. Ihr könnt nicht irgendwelche Leute herausgreifen und auf ihnen rumhämmern. Es hat ja niemand etwas dagegen, wenn ihr Leute befragt. Aber es gibt Grenzen. Wenn es Beweise gibt, ist das alles natürlich etwas anderes.

Nun zu Ozzy: Es gibt ein paar Dinge, die mich wirklich irritieren. Das mit dem Rock'n'Roll-Ministerium finde ich eher albern. Ihr wart ja schon dabei, eine ganz gute Situationsanalyse auszuarbeiten. Mit solchen infantilen Sachen zerstört Ozzy es wieder. Was soll denn das heißen, dass er kommissarisch den Rock'n'Roll-Minister gibt? Nee das ist blöd. Was die Werbung für die CD angeht, das finde ich eigentlich okay.

Als nächstes wäre da dieser Wunsch danach, aufzufallen. R. Baumann hat sich zwar sehr polemisch geäußert, aber es ist natürlich etwas dran an dem Argument, dass Ozzys Wunsch, sogar beim Bäcker aufzufallen, ihn nicht gerade glaubwürdig macht. Vielleicht hat Ozzy sich auch einfach nur missverständlich ausgedrückt, aber es bleibt ein seltsamer Eindruck. Ist es doch der Ruhm, den er anstrebt? Oder will er eine Hysterie provozieren? Was soll das alles? Selbst die BEATLES haben zu Protokoll gegeben, dass ihnen die Gebaren der Beatlemania fremd blieben. Auch Elvis konnte 1956 gar nicht fassen, was die Leute für einen Tanz aufführten. Von Dylan ganz zu schweigen. Sollte Ozzy das anstreben? Wenn er es in Kauf nimmt, gut, aber es sich zu wünschen? Das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.

(2) Dieter Z.: Kann man sich den Rock'n'Roll ohne Kommerz überhaupt vorstellen? Ich glaube nicht. Mo hat angedeutet, dass 1956 nicht nur das Geburtsjahr des Rock'n'Roll war, sondern des Pop. Er meint mit Pop demnach die kommerzialisierte Form von Kunst, die erst im Zeitalter des Fernsehens und des Transistorradios entstehen konnte und die in den BEATLES und Andy Warhol personifiziert ist. Und Elvis natürlich. Nach seinem nationalen Fernseh-Erfolg begann eine unvorstellbare Merchandising-Kampagne, die kein Vorbild hatte. Elvis auf Autogrammkarten, Postern, Schultaschen, Kaugummis, überall. Ein Millionengeschäft. Sein erster Film „Love me Tender“ war neben James Deans „Giants“ der erfolgreichste US-Film des Jahres 1956.

Der Pop ist immer noch ein gesellschaftliches Grundproblem. Er passt nicht ins Rechts-Links-Schema. Pop hat immer ein unkontrolliertes Moment und kann durchaus kritisch sein. Hauptsache er kommt an. Pop steht für Freiheit und Unterhaltung. Er rechtfertigt sich durch den Publikumserfolg, aber auch – jedenfalls in meiner Definition – durch die Autorität des Künstlers. Nicht jeder Kitsch ist für mich Pop. Es gibt viele Grenzfälle. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Pop immer nur in Beziehung zu der Gesellschaft verstanden werden kann. In den 60er-Jahren war ein ganz anderes Bewusstsein als heute, also war auch der Pop anders. Das BAUHAUS ist auch Pop für mich, in gewisser Weise. Die Idee war ja, Architektonisches und Alltagsgegenstände nach bestimmten Kriterien zu entwickeln, wie Funktionalität, Schlichtheit, Schönheit und Preisgünstigkeit.

Beim Thema Pop und Kommerz sollte man unterscheiden zwischen den Absichten der Kunst. Wenn Ruhm und Reichtum die Motivation des Künstlers sind, bleibt das nicht lange verborgen. Wenn es jemandem aber in erster Linie darum geht, etwas zu schaffen, das geil ist, das inspiriert ist, dann bekommt die Kunst einen Aspekt der Zeitlosigkeit, der für mich ebenfalls ein Merkmal von Pop ist. Man kann einwenden, dass aber Elvis und die frühen BEATLES erst einmal Geld verdienen wollten. Das widerspricht sich nicht unbedingt. Was Elvis angeht: Er wollte in erster Linie singen. Die materialistischen Werte abzuschütteln, mit denen man aufgewachsen ist und in denen man täglich lebt, ist bestimmt nicht leicht.

Ich habe das Gefühl, dass die Welt sich von Elvis zu Unrecht betrogen fühlt. Nach dem Motto: Erst hat du uns den Rock'n'Roll gebracht, und in den 60ern sah es dann auch schon ganz gut aus mit Ansätzen zur freien Gesellschaft, aber dann ist alles zusammengebrochen, und du bist dick geworden und immer dicker, bis du gestorben bist und uns unsere Hoffnungen wieder genommen hast. So ist Elvis heute zwar im Kollektivgedächtnis, aber seine Idee („I can't help but move to it“) ist weitgehend vergessen oder unverstanden."

(3) Sibylle: Ich hab noch eine Ergänzung zum Thema Kinder und Sex (Marco, 83. Nachricht). Neben der Frage, wie die Gesellschaft mit Pädophilen umgeht, ist es auch eine wichtige Frage, wie wir mit den sexuellen Wünschen von Kindern umgehen. Dass Kinder auch sexuelle Wünsche haben können, ist, denke ich, ein wichtiges Tabu. Seine Bedeutung ist mir klar geworden, nachdem ich in letzter Zeit immer mal wieder in meinen alten Tagebüchern gelesen habe, und auch durch die Sexualitätsdebatte hier in der Chronik.

Ich hatte mit etwa elf Jahren schon sexuelle Wünsche (an vorher kann ich mich nicht erinnern und habe davon auch keine Aufzeichnungen). Ich konnte damals nicht damit umgehen, weil ich mit niemandem darüber kommunizieren konnte. Nicht mit meiner Mutter und auch nicht mit meinen Freundinnen. Mit meinen Freundinnen vielleicht nicht, weil ich damals weiter entwickelt war als sie. Ich wurde auch nie richtig aufgeklärt – später dann in der Schule (recht technisch), aber nicht, als sich die meisten Entwicklungen meines Körpers abgespielt haben. Deshalb konnte ich meine Gefühle und die Reaktionen meines Körpers z.T. gar nicht verstehen, wusste nicht, ob ich normal bin. Später, als die anderen dann in der Pubertät waren, konnte ich auch nicht über meine Gefühle und Wünsche sprechen, habe sie eher verleugnet und war Jungs gegenüber sehr zurückhaltend. Ich denke, das war so, weil sich meine Sprachlosigkeit und meine Hemmungen schon zu sehr festgesetzt hatten.

Das alles hat einen ganz schönen Schaden bei mir angerichtet, den ich heute noch repariere. Deshalb merke ich, wie wichtig dieses Thema „Kinder und Sexualität“ ist, denn ich bin bestimmt nicht die einzige, die damit Probleme hatte. Es ist sicherlich in vielen Fällen schwierig für die Erwachsenen, den richtigen Weg zu finden (zumal, wenn sie selbst mit ihrer Sexualität nicht im Reinen sind). Der Weg zu sagen, Kinder wollen ja Sex, dann können wir auch Sex mit ihnen haben – wie es dieser Krumme-13-Verein tut –, scheint mir aber falsch, denn ich weiß auch, dass ich mit elf und auch noch mit vierzehn trotz allem ein Kind war. Außerdem habe ich stark den Eindruck, dass es diesen Leuten nur um ihre eigenen Wünsche geht und nicht um das Wohl der Kinder. Der Weg, die Wünsche von Kindern zu leugnen und totzuschweigen, ist aber ebenfalls falsch. Dadurch wird ihnen unter Umständen vermittelt, dass ihre Gefühle nicht richtig sind und dass sie selbst nicht normal sind. Der Zugang zu ihrer eigenen Sexualität wird ihnen versperrt.

(4) Samantha: Die Worte als Schwerter benutzen ... Diese Vorstellung ist mir irgendwie im Kopf geblieben. Sie gefällt mir. Seit ich hier mitlese, fange ich auch an, Argumente deutlicher zu fassen und ihre Kraft zu erkennen. Ich frage mich nur, ob man wirklich alles ausdiskutieren kann? Selbst im Bundestag, wo man von Berufs wegen dem Argument eine hohe Bedeutung zumisst, gibt es einen Fraktionszwang und andere Faktoren, die zu den Entscheidungen beitragen. Nun kann man natürlich sagen, der Fraktionszwang sei auch ein Argument bzw. er sei auf Argumente gestützt, aber das kann man von Gewalt auch sagen.

(5) Mark R.: Durch Herrn Kampeter von der CDU fühle ich mich voll bestätigt. Ich sagte ja eingangs schon, dass der Rock'n'Roll nicht für die Linken reserviert ist. Was hier allerdings gesagt wird über progressives und konservatives Denken, kann ich nicht so ganz einordnen. Für mich besteht Rechts und Links noch immer. Die Leute wollen auch so denken, deshalb finde ich es unnatürlich, die Grenze zwischen Rechts und Links aufzugeben. Es geht ja nicht nur um Inhalte, sondern auch um eine bestehende Kultur, in die man hineinwächst. Gruppen, die sich vor langer Zeit gebildet haben und die wirksame Strukturen geschaffen haben, politisch und wirtschaftlich. Ein gesundes Unternehmertum und ein starker Staat sind meiner Ansicht nach immer noch eher ein Anliegen der Konservativen.

Rock'n'Roll-Musik hat mich schon seit meiner frühsten Jugend fasziniert. Ich habe sehr viel Elvis gehört, Gene Vincent und Eddie Cochran. Meine 50er-Jahre-Plattensammlung umfasst heute 2500 Exemplare. Sehr gerne höre ich auch Johnny Cash, den ich auch politisch gut finde, weil er ein Patriot ist, und weil er sich einmischt. Er ist ja am letzten Dienstag 70 geworden. Johnny und Elvis haben beide bei SUN RECORDS in Memphis angefangen, wie auch Carl Perkins und Jerry Lee Lewis. Diese vier trafen sich einmal zufällig bei Sam Phillips im Studio am 04. Dezember 1956 und sangen zusammen. Carl hatte gerade seinen MATCH BOX BLUES aufgenommen, und Elvis war ganz begeistert von der Neuentdeckung Jerry Lee Lewis und seinem wahnsinnigen Klavier. Später wurde die Bandmaschine angemacht, und die Aufnahmen sind auf der legendären LP THE MILLION DOLLAR QUARTET. Sie hat aber mehr oder weniger nur dokumentarischen Wert. Johnny Cash singt auch nicht, er war nach der Fotosession einkaufen gegangen.

Um aber noch mal auf die aktuelle Bundestagsdebatte über Rockmusik einzugehen: Ich finde es ebenso empörend wie Ozzy, dass ausgerechnet ein jugendlicher SPD-Politiker die gesellschaftliche Berechtigung des Rock'n'Roll auf eine solche Nische begrenzt. Der Rock'n'Roll gibt vielen Leuten in unserem Land Kraft, und deshalb sollte sich die Regierung auch dafür stark machen. Außerdem hat die CDU völlig Recht: Früher war deutsche Musik mal sehr gefragt und gut, auch exportfähig. Die makroökonomische Seite der Rock- und Popmusik ist zwar bekannt und klar, aber die gesellschaftliche Stellung von erfolgreichen Musikern ist nicht zu vergleichen mit der von Unternehmern oder selbst Sportlern. Das deutet darauf hin, dass Musik nicht entsprechend ernst genommen wird.

Ein Rock'n'Roll-Ministerium ist deshalb eine gute Idee. Alleine dieses Wort macht ja klar, worum es geht. Eine Art außerparlamentarische Opposition also. Da habe ich oben geschrieben, dass Rechts und Links ihre Berechtigung haben und nun komme ich schon ins Zweifeln, wenn ich APO sage. Das passt eigentlich nicht besonders zu mir. Aber letztlich muss auch eine außerparlamentarische Opposition nicht unbedingt ein Monopol der Linken sein.

Redaktion in Kiel, 02.03.02

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