(1) Karin R.: Die einzelnen Diskurse in dieser Chronik überkreuzen sich ständig, obwohl sie manchmal wenig miteinander zu tun zu haben scheinen. Die Gewaltfrage und die der Popmusik zum Beispiel. Es wird hier auch viel darüber gesprochen, was erlaubt und was verboten ist, und über die Doppelmoral. Ich habe mich gefragt, warum es gesellschaftlich überhaupt möglich ist, mit einer Doppelmoral zu leben und bin dabei auf ein interessantes Paradoxon gestoßen.
Doppelmoral heißt ja, dass man mit zweierlei Maß misst. Dass man zum Beispiel Dinge für sich in Anspruch nimmt, die man bei anderen kritisiert, sei es, weil man sich eigentlich dafür schämt, oder sei es, weil man sich als Teil einer Elite sieht. Bush in Afghanistan ist so ein Fall, R.Baumann scheint auch so ein Fall zu sein. Und auch bei Ozzy ist es ja so, dass er Dinge für sich einfordert, die andere bekommen, etwa, wenn er fragt, warum die Satanisten so viel Publicity kriegen, während inspirierte Künstler sich oft nicht integriert vorkommen.
Ich glaube, man kann sich dem Phänomen der Doppelmoral nähern, wenn man das lateinische Sprichwort betrachtet: „Quod licet Iovi, non licet bovi“, das bedeutet: „Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt.“ In Sprichwörtern steckt Wahrheit, sonst hätten sie die Jahrhunderte nicht im Volksmund überlebt. Aber wie? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir alle gleich sind? Dass es keine Jupiter mehr gibt? Ja, wir haben. Das ist die eine Seite. Doch es ist leicht, Gegenbeispiele zu finden. Nehmen wir nur Anne Sullivan und Conan Bukowski. Carl hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lehrerin von Helen Keller sehr viel mehr Recht dazu hat, Zwang als Disziplinierungsmethode anzuwenden als der Sadist Conan, bei dem niedere Motive zu befürchten sind.
Faktisch kann man bestimmt sagen, dass es oft Dinge gibt, die für den einen erlaubt sind und für den anderen nicht. Das ist nur zum Teil eine moralische Frage, oft hat es nichts mit Moral zu tun, sondern nur mit Macht. Es ist sicher ein moralischer Unterschied, ob sich die BEATLES oder Elvis bestimmte Dinge herausgenommen haben, oder ob Scharon sich bestimmte Dinge herausnimmt. Objektiv aber tun sie alle Dinge, die andere nicht dürfen. Jimi Hendrix singt in IF 6 WERE 9: „Hey Mr. businessman, you can't dress like me.“
Auch in anderen Zusammenhängen darf der eine, was der andere nicht darf. Juden und Muslime dürfen kein Schweinefleisch essen, Christen schon. Es kann für den einen eine Sünde sein, was für den anderen eine Tugend ist. Ich glaube, das ist auch das Problem von Kontrollsituationen. Die Legitimationskriterien.
Die Doppelmoral ist nur möglich, weil tatsächlich nicht alle gleich sind und nicht alle dieselben Rechte haben und haben können. Es ist logisch, dass der Bundeskanzler in einigen Bereichen mehr Rechte hat, es gibt eine Diplomatenimmunität, und es gibt Kronzeugen, es gibt VIP-Lounges und Exklusiv-Rechte. Nur ist es schwer, darüber zu reden, weil dieses – auf Situationen beschränkte – Mehrrecht zum Teil dem Axiom der bürgerlichen Gleichheit widerspricht.
In gewisser Weise ist auch Ozzy ein Beispiel für diese Problematik. Er sagt von sich, dass er durch seine Legitimation als politischer Songwriter eine bestimmte oder unbestimmte gesellschaftliche Position innehat. Er sieht es als sein Recht an, zu seinem Publikum zu finden und er kritisiert die Gesellschaft, weil es ihm durch strukturelle Gewalt nahezu unmöglich wird, zu seinem Recht zu kommen. So stellt es sich für Ozzy dar. Für die Gesellschaft stellt es sich ganz anders dar. Mit einem Wort von Donald Schön, den Zoltan für uns analysiert hat, kann man das einen FRAME CONFLICT nennen, ganz ähnlich dem Slum-Beispiel. Die Öffentlichkeit oder die Gesellschaft allgemein stehen in einer ganz anderen Situation. Für sie stellt es sich so dar, als käme ein Unbekannter mit irgendwelchen Ansprüchen an sie, mit denen sie nichts zu tun haben.
Das von Donald Schön als politisches Lösungsmodell vorgestellte FRAME RESTRUCTURING, bei dem man aus opponierenden Sichtweisen eine übergeordnete Gesamtsituation schafft, funktioniert allerdings nur, wenn die beteiligten Parteien einander anerkennen. Für das Establishment wirkt Ozzy in seiner Situation aber nicht anerkennenswert. Die einzige Möglichkeit für ihn, in seinem Ich-bin-Ozzy-Balou-Rahmen zu bleiben, ist deshalb meiner Meinung nach, dass er das Establishment dazu bringen muss, ihn wahrzunehmen, denn seine Liebe wird als Schwäche erkannt. Erst, wenn man andere besiegt hat, gilt man etwas in unserer Gesellschaft. Sagt Ozzy ja selbst. Und Sieg ohne Kontrolle oder Zwang ist in unserer Gesellschaft kaum definiert. Daran ändert auch ein Ozzy Balou nichts, der sich für offene Situationen ausspricht. Aber er kann es zeigen und damit eine andere Kategorie von Sieg erreichen. Meiner Ansicht nach tut er das erfolgreich. Es bleibt jedoch paradox.
(2) Gerhard Richter: Bevor das Buch zuende geht, möchte ich mich noch einmal zum BLUESLAND-Fall äußern. Hier wird eine Menge Staub aufgewirbelt, und es hat ja auch bereits Beschwerden gegeben. Da ich damals der Pächter des BLUELAND war, sollte ich Stellung beziehen.
Ich hatte bereits eingangs erwähnt, dass ich nach der Katastrophe relativ schnell nach Frankreich gezogen bin. Dass mich die Sache kalt gelassen hätte, kann man allerdings nicht sagen. Auch ich träume noch immer manchmal schlecht, wenn die Erinnerung wieder hochkommt. Zum Beispiel jetzt. Neben der Chronik besteht ein fleißiger Emailaustausch hinter den Kulissen, der uns irgendwie alle an den Tisch zurückholt. Es gibt gewisse Hinweise, doch sind sie nicht hinreichend, um einen fundierten Verdacht daraus zu machen. Die Details, die hier puzzlesteinartig herumgereicht werden, sind alle harmlos. Es kommt darauf an, in welchen Zusammenhang man sie stellt. Das ist im Einzelfall zum Teil sehr schwierig.
Nehmen wir ein Beispiel: Es wurde von mehreren Leuten unabhängig bestätigt, dass einer der hier mitlesenden BLUESLAND-Leute sich zwei Monate nach dem Brand ein Auto gekauft hat. Da ist auch weiter nichts dabei. Warum sollte jemand kein Auto kaufen dürfen? Wenn wir dieses Detail aber in der Chronik aufbringen würden, würde sich die Leserschaft fragen, warum wir es erwähnen, wenn wir nicht einen Verdacht hätten. Man würde den Faden weiterspinnen und es vielleicht mit dem Diebstahl der 10.000 Mark in Verbindung bringen, der ja kurz vor dem Brand begangen wurde, und der ebenfalls bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.
Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, dass hier einfach alle Fakten gesammelt werden, die mit dem Fall zu tun haben könnten, besonders, wenn es sich um Dinge handelt, die die Kripo damals nicht berücksichtigt hat. Viele von uns wären froh, wenn der Fall endlich geklärt werden könnte, auch Ozzy, wobei mir scheint, dass er in seinem letzten Beitrag einen ganz anderen Fall gelöst hat.
(3) Mark H.: Alle zwei Tage lese ich das neuste Kapitel der Chronik. Zuerst habe ich es gar nicht bemerkt, aber ich bin dabei, mich zu verändern. Ich halte meine Situation nicht länger aus. Das geht nun schon Jahre so. Mit jeder Nachricht, die ich hier lese, wird mir klarer, dass ich etwas tun muss. Aber was? Alles, was ich in mir spüre, ist eine große Wut und eine ebenso große Hilflosigkeit. Ich bin nicht das, was meine Eltern von mir denken, aber ich sehe keinen Weg, um ihnen das klarzumachen.
Nachdem ich zweimal das Studienfach gewechselt habe, bereite ich mich jetzt auf meine Diplomarbeit vor. Ich habe mich noch nicht angemeldet, und ich zögere das auch noch eine Weile hinaus, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, wenn ich nicht mehr eingeschrieben bin. Stattdessen verbringe ich meine Zeit mit dem Basteln von Möbelstücken. Ich habe ein Regal und ein Hochbett gebaut. Meine Eltern haben nicht viel dazu gesagt. Naja, was sollen sie auch sagen? Obwohl ich mit dem Ergebnis meines Handwerks ganz zufrieden bin, würde es mir komisch vorkommen, wenn meine Eltern mich dafür loben würden. Dann würde ich mich ja von selbst wieder in die Rolle des Kindes bringen, die ich nicht mag.
Trotzdem schwebt es im Raum. Wenn meine Mutter oder mein Vater in meinem Zimmer sind, sind da immer dieses neue Regal und das neue Hochbett. Sie wirken dann wie Fremdkörper, wie Dinge, über die man eigentlich sprechen müsste, es aber nicht tut, weil man so etwas früher auch nicht getan hat. Würden meine Eltern mich heute dafür loben, hätten sie mich auch früher schon loben müssen. Es tut mir leid, dass ich über solche Dinge schreibe. Sie erscheinen mir so kindlich und pubertär. Dabei bin ich über dreißig.
Wenn ich mit der Uni fertig bin, muss ich mir einen Job suchen. Davor graut es mir. Ab und zu sehe ich mir die Stellenanzeigen an, aber ich habe keine Ahnung, als was ich arbeiten soll. Erst habe ich Jura studiert, dann habe ich abgebrochen und ein VWL-Studium begonnen. Aber das Wissen ist sehr abstrakt. Ich weiß nicht, wie ich in die richtigen Kreise kommen soll, denn ich habe so gut wie keine Erfahrung im Berufsleben. Ich habe auch schon überlegt, wieder für eine Weile in die Psychiatrie zu gehen, aber das wäre nur eine Flucht, denn eigentlich fühle ich mich nicht krank. Ich habe nur Angst. Solange ich kein Geld habe, muss ich bei meinen Eltern wohnen. Ich habe mir auch schon überlegt, einfach erst einmal bei McDonalds anzufangen, um ins Arbeitsleben überhaupt hereinzukommen. Ich bin mittlerweile nicht mehr besonders wählerisch und stelle auch kaum noch Ansprüche. Hauptsache es bewegt sich etwas. Die Arbeit könnte mir eine gewisse Unabhängigkeit bringen, die meinem Selbstbewusstsein gut tun könnte. Ich will einfach kein Feigling mehr sein und mich der Welt stellen.
Ich würde schon auch gerne im Rock'n'Roll-Ministerium mitarbeiten, das klingt wirklich interessant. Aber die Probleme, die ich mit mir selber habe, nehmen mich so in Anspruch, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, mich bei so etwas einzubringen. Es bleibt nur diese Wut. Natürlich, meine Eltern wollen nur das Beste für mich, und ich kann ihnen auch nicht vorwerfen, dass sie mich schlecht behandeln. Immerhin wohne ich sehr komfortabel und kriege gut zu essen. Trotzdem habe ich Phantasien, die mich erschrecken. Da ich hier anonym bin, möchte ich darüber reden, denn ich will es endlich loswerden. Ich sehe manchmal im Traum oder Tagtraum meine Eltern, wie sie vor mir niederknien. Darüber habe ich noch nie mit jemandem gesprochen. Das Schlimme ist, dass diese Vorstellung mir gefällt, sie erscheint mir irgendwie angemessen. Es würde meiner Mutter das Herz brechen, wenn sie das wüsste. Sie ist zwar kein Engel, aber sie ist meine eigene Mutter. Und auch wenn sie viele Dinge nicht verstehen kann, die mir im Kopf herumgehen, so kann ich trotzdem über fast alles mit ihr reden. Wir unterhalten uns ziemlich oft, und es hilft mir über vieles hinweg, wenn sie mir zuhört.
Gestern hatte ich mir vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören, aber es hat nicht funktioniert. Dadurch bin ich noch wütender geworden. Ich brauche einen Rat. Ich will nicht wieder zum Psychiater gehen. Als meine Mutter mir vorgeschlagen hat, wieder zum Psychiater zu gehen, hat sie es bestimmt nur gut gemeint. Sie will nur helfen, was sollte sie tun? Aber ich will es nicht. Nicht noch einmal.
Redaktion in Kiel, 08.03.02
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