Gehört er nun oder gehört er nicht, der Islam zu Deutschland?
Anis Hamadeh, 22.01.2015
Auf den ersten Blick ist die Frage leicht zu beantworten: Von etwa 81 Millionen Einwohnern Deutschlands sind ungefähr vier Millionen Muslime. Also ja, der Islam gehört als fünfprozentige, türkisch-arabisch geprägte Minderheit zu Deutschland. Es gibt hier Moscheen, muslimische Vereine und Veranstaltungen. Es gibt islamischen Religionsunterricht an einigen Schulen, man kann problemlos halal essen, also islamisch korrektes Fleisch, ein Konto bei einer islamischen Bank einrichten und von, sagen wir: Wuppertal aus seine Pilgerfahrt nach Mekka organisieren.
Nun entzündet sich die Debatte nicht an diesen offensichtlichen Fakten. Es geht um etwas anderes. Mancher sieht offenbar die christlich-europäische1 Identität und Tradition in Frage gestellt, wenn sich ein islamischer Anteil darin befindet. Diesen Leuten ist zu sagen: Sorry, folks! Die europäische und die deutsche Kulturgeschichte ist so durchsetzt mit islamischen Elementen, dass wir sie nicht aus dem System bekommen!
Die Scholastik
Die christlich-europäische Schriftkultur bildete sich im Mittelalter aus, intellektuell getragen hauptsächlich von Mönchen und Geistlichen, die mit Aristoteles und der scholastischen Methode eine neue Form allgemeiner Argumentation und Beweisführung schufen. Die mittelalterliche Scholastik ist allerdings ohne den Islam undenkbar, der eine ganz ähnliche Entwicklung absolvierte wie das europäische Christentum, nur früher. Da die arabische Schrift und Grammatik bereits vor dem Jahr 800 festgelegt waren – zu einer Zeit, als Karl der Große mühsam das Alphabet erlernte und exquisite Geschenke des hoch gebildeten Kalifen Harun al-Raschid aus Bagdad erhielt –, konnten die Araber für einige Jahrhunderte die Fackel der mediterranen Zivilisation tragen und Pionierleistungen in allen bekannten Wissenschaften erbringen, zum Beispiel in der Mathematik oder in der Geschichtswissenschaft. Die ursprüngliche Motivation dabei war islamisch: Es ging darum, den Koran zu verstehen.
Religiöse Debatten wie die über Gottes Schöpfung, über Vorherbestimmung und Existenz wurden auf Arabisch geführt und aufgeschrieben. Da sich Koran und Bibel weitgehend überschneiden, interessierten sich auch Christen für islamische Themen, sei es in Damaskus oder Córdoba. Und so signifikant die ideologischen Unterschiede zwischen dem christlichen Westen und dem islamischen Osten auch waren – man denke an die muslimische Eroberung Spaniens und Teilen Frankreichs sowie an die Kreuzzüge, die mit einem christlich-terroristischen Gemetzel in Jerusalem ihren Anfang nahmen –, der geistige Austausch, vor allem die Absorbtion von Islamischem, war enorm. Die umfangreichen Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische trugen dazu erheblich bei, denn viele griechische Originale waren verschollen. Als Kaiser Friedrich II. im Jahr 1250 starb, hatten die Lateiner ihren Aristoteles übersetzt und sich unterwegs stark von arabisch-muslimischen Philosophen beeinflussen lassen, wie Kindi, Farabi, Ibn Sina (Avicenna), Ghazali und Ibn Rushd (Averroës).
Dem Staufer-Kaiser war der Islam nicht fremd, er musste sich nicht gegen ihn abgrenzen. Er schloss Verträge mit Muslimen, tauschte sich aus und hatte Muslime an seinem Hof. Das war für ihn normal. Auch andere deutsche Kreuzritter brachten neue Ideen aus muslimischen Landen zurück. Durch die scholastische Methode, das geteilte Interesse an Aristoteles und den griechischen Wissenschaften und durch einzelne Herrscher und Gelehrte gehörte der Islam auch zu Deutschland.
Von Friedrich zu Goethe
Islamische Ideen und Methoden hatten Europa und Deutschland erreicht, ohne dass darum viel Aufhebens gemacht wurde. Alles war latinisiert und einverleibt, der Begriff „Islam“ tauchte selten an der Oberfläche auf. Als Religion oder Kultur war der Islam allerdings nicht in Deutschland angekommen, ebenso wenig wie andere Religionen und Kulturen. Deutschland war dann erst einmal mit dem Verbrennen von Hexen, der Religionsspaltung und dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigt. 1740 wurde ein weiterer Friedrich II. König in Preußen und sagte: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ Damit waren auch die muslimischen Truppenverbände gemeint, die sein Vater eingeführt hatte, und die fortan zu Deutschland gehörten. Zum militärischen Deutschland, weitgehend.
Auf der intellektuellen Seite hatten islamische Gedanken und Methoden in der Aufklärung und beim Übergang zur Neuzeit erneut eine Wirkung, die heute unterschätzt wird, und man findet Einflüsse zum Beispiel bei Leibniz, Lessing und Herder. Das verwundert nicht allzu sehr, wenn man bedenkt, dass der Islam, der die Religion Abrahams zu den Arabern brachte, in seinem historischen Kern einen egalitären und emanzipatorischen Charakter hat. Auch auf der technologisch-ökonomischen Ebene betrat der Islam Deutschland, wie man an Fremdwörtern sehen kann, die oft über das Italienische oder andere Sprachen zu uns kamen: Magazin, Arsenal, Kaliber, Tarif, Ziffer, Massage, Laute und viele andere.2
Der bekannteste Förderer des Islam in Deutschland in dieser Periode war zweifellos Goethe, der in einer Ankündigung seines „West-östlichen Divan“ sogar schrieb, er lehne „den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselmann sei“ und der den islamischen Welten zeitlebens verbunden geblieben ist, was heute in den Qualitätsmedien gerne mal heruntergespielt wird, weil es als unpassend empfunden wird.3 Natürlich stand Goethe dem Islam nicht völlig unkritisch gegenüber, denn er stand nie jemandem oder etwas unkritisch gegenüber (außer Napoleon vielleicht). Auch für Immanuel Kant gehörte der Islam zu Deutschland, sonst hätte er sich nicht das Kuriosum erlaubt, die Basmalah, also die Worte „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen“ auf Arabisch, oben auf seine Doktorurkunde zu schreiben.4
Aufklärung dort, Aufklärung hier
Aber der Terrorismus! Die Gewalt! Kopftuchburkaehrenmordrückständigjihaaaad! Dies zu widerlegen ist in der Tat schwierig, weil es sich nur oberflächlich betrachtet um Argumente handelt. Ginge es um Argumente, hinkten die Qualitätsmedien der deutschen Islamwissenschaft nicht ein- bis zweihundert Jahre hinterher, je nach Tagesform. Sie würden nicht „den Islam“ immer wieder argwöhnisch ins Zentrum der Betrachtung stellen, wie sie es beim Christentum ja auch nicht tun, siehe zum Beispiel Bush & Blair, Breivik, mehrere Gruppen in Uganda, God’s Army in Myanmar, christliche Milizen im Libanon und andere. Man könnte auch problemlos Linien ziehen vom Kriegs-Christen Konstantin bis ins moderne Europa, wie man es mit dem Islam standardmäßig macht. Und vom Judentum ist ganz zu schweigen, auch wenn der Staat Israel schwere Gewalt explizit im Namen der Juden und durchaus im Namen der Religion verübt.
Jüdischer Terrorismus – damit sind wir hier in Deutschland durch, das hatten wir schon in der Nazi-Propaganda. Vielleicht sollte man die Problematik mal von der anderen Seite aus betrachten: Gab es in Deutschland eigentlich eine Periode, in der man sich der eigenen Identität ohne die feindselige Abgrenzung vom „anderen“ gewiss war? Wie war das so in Deutschland? Der Streit zwischen Protestanten und Katholiken kommt von hier, da haben sich Deutsche gegenseitig die Köpfe eingehauen, und in keinem Land war die Verfolgung von „Hexen“ und Juden so ausgeprägt wie in Deutschland. Der Franzos, der Engländer, der Kommunist, der Russe, die haben wir auch schon alle durch, wobei der Russe gerade wieder gebraucht wird, manchmal auch der Kommunist. Während der deutschen Teilung haben wir uns wieder gegenseitig niedergemacht. Anscheinend war da immer jemand, auf den der Mainstream seine Ängste projizieren konnte, heute ist es der Rechtsextreme und vor allem der Islamist aka Muslim. Das muss doch mal jemanden stutzig machen!
Bestimmt gibt es sachlich korrekte Beispiele für Muslime, die den Islam missbrauchen. Es gab damals auch sachlich korrekte Beispiele für Juden, die ihre Macht missbrauchten. Es gab und gibt auch immer Tendenzen in der Gruppe der jeweiligen Erzrivalen, die Angriffsfläche bieten, genau wie wir selbst Angriffsfläche bieten, oft mehr als die anderen. Das macht Feindbilder ja so wirkungsvoll, vor allem, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, Integrationspersonen hervorzubringen, im aktuellen Fall etwa Muslime, mit denen sich die Mehrheit identifizieren kann – natürlich ohne sich dabei mit dem Islam identifizieren zu müssen. Das Feindbild Islam und die derzeit wieder aufflammende Hysterie sind ungerechtfertigt, kindisch und kontraproduktiv.5
Ja, das muslimische Mainstream-Denken bedarf in wichtigen Punkten der Aufklärung und Reformation, aber es ist nicht an dem mit dem Balken im Auge, dies festzustellen. Der Balken heißt Palästina, Granaten, Irak, Drohnen, Afghanistan, Soldaten, Jemen, Bomber, Libyen, Bestechung, Ägypten, Waffen, Syrien ... Man sähe schlecht aus, würde man einen einheitlichen Standard verwenden. Solange aber mit zweierlei Maß gemessen wird, ist das Feindbild unvermeidlich. Ist das jetzt der aufgeklärte, Frieden liebende christliche Westen?
Natürlich ist die Pressefreiheit von zentraler Wichtigkeit und Terrorismus indiskutabel und abscheulich, deshalb muss man sich doch nicht mit einem polemischen Medium in einem anderen Land identifizieren! Oder geht es letztlich doch darum, sich an einem Sündenbock abzureagieren, der unser aktuelles Alter Ego darstellt? Warum hat Kanzlerin Merkel kürzlich wohl betont, dass der Islam zu Deutschland gehört? Das passt doch eigentlich nicht zu ihr. Vielleicht liegt es daran, dass Pegida & Co's Demonstrationen im Ausland inzwischen als fremdenfeindlich wahrgenommen und bewertet werden, in einer Weise, die dem Ansehen Deutschlands schadet.
Unterm Strich lässt sich feststellen, dass „Gehört der Islam zu Deutschland?“ keiner Antwort bedarf, da es sich nicht wirklich um eine Frage handelt. Es ist der Versuch einer Abgrenzung und Ausgrenzung und damit eine Neuauflage von „Sind Islam und Demokratie vereinbar?“ Werden derartige Sätze zu Überschriften gemacht, zum Beispiel in Talkshows, ist es leicht, das Feindbild auszubreiten und weiterzutragen. Ein Selbstläufer.
Dieser Text erschien am 11.02.2015 in der Neuen Rheinischen Zeitung unter www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21284
Der Islamwissenschaftler Anis Hamadeh ist Autor von „Islam verstehen. Ein praktisches Handbuch“ und von „Die Dichter. 14 gereimte Geschichten am Kalifenhof in Bagdad vor 1000 Jahren“ (CD mit Textheft). Derzeit entsteht die Krimi-Serie „Calamus“ mit einem muslimischen Detektiv im Kairo des 14. Jahrhunderts (Die erste Folge steht dreisprachig online).
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