Frage 4: Die Beziehung zwischen dem Libanon und Syrien hat eine lange Geschichte. Damaskus war ein wichtiges Zentrum seit der Umaiyaden-Dynastie im siebten Jahrhundert. „ash-Sham“ ist der Name Großsyriens und die Grenzen zum Libanon, zu Palästina und zu Jordanien kamen erst im 20sten Jahrhundert. Es scheint, als sei Syrien traurig darüber, dass es marginalisiert wurde. Kann der Libanon Syrien dabei helfen, an eine glücklichere und freiere Zukunft zu glauben und dafür zu arbeiten?
Chibli Mallat: Es sollte so sein. Unglücklicherweise ist die derzeitige syrische Führung einem Denken verhaftet, das sowohl falsch als auch gefährlich ist. Sie sind überzeugt davon, dass die Libanesen „undankbar“ sind und dass der Westen, besonders Washington, darauf aus ist, ihr Regime zu ändern. Was das erste Thema angeht, so vergessen sie, wie schmerzhaft die syrische Herrschaft für die Libanesen gewesen ist und sie berücksichtigen nicht die Zahl der Attentate ihres Sicherheitsapparates im Land während des letzten Vierteljahrhunderts. Sie lassen diese offensichtliche Akte aus, die kürzlich von Richter Detlev Mehlis herausgebracht wurde, der das Attentat auf Herrn Hariri direkt den syrischen Behörden zuschreibt (siehe Zeitung Ash-Sharq al-Awsat, 18. Dezember), und verpacken ihre Ansicht in eine angebliche „libanesische Undankbarkeit“. Was das zweite Thema angeht, vielleicht haben sie Recht, aber nicht wegen eines amerikanischen oder westlichen Plans, sondern schlicht weil die derzeitige Führung ohne eine tief greifende Verfassungsreform nicht überleben kann. Das ist nicht wegen Washington, es ist, weil kein Bürger auf der Erde ewig akzeptieren wird, seiner/ihrer Freiheit und seines/ihres Rechts, die politische Führung des Landes zu wählen, beraubt zu bleiben.
Frage 5: Kürzlich wurde der kanadische Gelehrte Bill Bhaneja hier interviewt, der den Vorschlag zu einem kanadischen Friedensministerium vorgestellt hat. Es geht darum, professionelle Konfliktlösungs-Strategien und Nichttöten (nonkilling) in der Regierung zu institutionalisieren. Können Sie als renommierter Anwalt der Menschenrechte sich ein ähnliches Unternehmen in Ihrem Land vorstellen? Wo in der Welt sehen Sie Raum für effiziente und gerechte Friedensarbeit von oben?
Chibli Mallat: Die Gewaltlosigkeit ist das hervorstechendste Charakteristikum der Libanesischen Revolution von 2005, sie ist einzigartig im Nahen und Mittleren Osten und zu schätzen und zu unterstützen. In diesem Fall hat es nicht den „von oben“-Effekt, sondern es wird und wurde von den Leuten auf allen Seiten ausgeübt, inklusive der Hizbullah. Die einzige Ausnahme bilden die Attentate. Aber es gibt nicht genug Anerkennung und Unterstützung für diesen für die Region außergewöhnlichen Gang vom Westen, seien es Regierungen oder Gesellschaften. Insofern wäre eine formale kanadische Unterstützung (oder die eines anderen demokratischen Landes) willkommen und Herr Bhaneja sollte für seine Initiative gelobt werden. Unterstützung von Gewaltlosigkeit muss offen und aussagefähig sein und die Libanesen sind derzeit die am weitesten entwickelten in dieser Hinsicht in der Welt, gegen eine Vergangenheit, die ausgesprochen blutig gewesen ist. Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten fühlt man sich stolz, Libanese zu sein. Das füllt mich auch mit der Hoffnung, die breite Mehrheit der gewaltlosen Menschen als Präsident der Republik zu vertreten.
Extra: Libanon-Chronologie 2005 & Links
Chronologie Libanon 2005:
14.02.05: Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafik El-Hariri
28.02.05: Nach Massenprotesten tritt das pro-syrische Kabinett von Regierungschef Omar Karami zurück
14.03.05: „Zedernrevolution“ libanesischer Unabhängigkeit, größte Demonstration mit 800.000 Teilnehmern
07.04.05: UN-Sicherheitsrat beschließt internationale Untersuchung des Attentats auf Hariri
26.04.05: Die letzten syrischen Truppen verlassen Libanon nach UNSC - Resolution 1559
27.04.05: Najib Mikati wird Ministerpräsident
07.05.05: Der libanesische Politiker Michel Aoun kehrt aus dem Exil zurück
02.06.05: Tödlicher Anschlag auf anti-syrischen Journalisten Samir Kassir
19.06.05: Das Oppositionsbündnis um Saad Hariri, den Sohn des ermordeten Hariri, gewinnt die Parlamentswahl
21.06.05: Bei Autobombenanschlag in Beirut wird der anti-syrische Politiker George Hawi getötet
30.06.05: Fouad Siniora wird Ministerpräsident
30.08.05: UN-Ermittler lassen mehrere Spitzenvertreter der früheren pro-syrischen Führung in Beirut festnehmen
25.09.05: Anschlag auf die syrien-kritische libanesische Journalistin May Chidyac, die schwer verletzt wurde
20.10.05: Mehlis-Bericht der UN: syrische und libanesische Geheimdienste werden für den Hariri-Mord mitverantwortlich gemacht. Syrien weist den Bericht zurück.
02.11.05: Rechtsanwalt und Professor Chibli Mallat verkündet seine Präsidentschafts-Kandidatur in der führenden libanesischen Tageszeitung an-Nahar. Eine internationale Kampagne beginnt, mit einer Rede vor der UN Correspondents Association in New York am 16.11.05
12.12.05: In einem Artikel im Daily Star fordert Mallat ein internationales Tribunal, um das Töten zu stoppen. Am selben Morgen tödlicher Anschlag auf den Abgeordneten und christlich-libanesischen Chefredakteur von an-Nahar, Gebran Tueni, und zwei andere Personen.
Links:
- Wikipedia: Politics of Lebanon
- Anis Online: Chibli Mallat Page/Initiative Demokratischer Irak (Feb 2003)
- Anis Online: „Libanon ringt um mehr Sicherheit und Stabilität“ Robert-Fisk-Interview von Andrea Bistrich (August 2005)
- Candidate MALLAT on BBC Hardtalk (Video, 22.02.2006)