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Pressezeit (1):
Die Süddeutsche Zeitung

Eine Online-Kritik von Anis Hamadeh, 2004
Meet the Press (1):
The Sueddeutsche Zeitung

An Online Reflection by Anis Hamadeh, 2004
Inhalt

Einleitung
Kapitel 1: Frontale und freie Öffentlichkeit – 02.09.04: Terror-Analyse? – 06.09.04: Herrschaftsfreie Debatte – Selbstanalyse – 07.09.04: Relativierung des Terrors? – 08.09.04: Wir und die anderen – 09.09.2004
Kapitel 2: 10.09.2004: Projektionsfläche Terror – 11./12.09.2004: Leviathan – 13.09.2004: „Augen auf, Augen zu“ – 14.09.2004: Die German Angst – 15.09.2004: Gott und Götter – 16.09.2004: Da da Didaktik – 17.09.2004: Abgeschottete Gemeinschaft – 18./19.09.2004: Be the Change you Want
Kapitel 3: 20.09.2004: Traumsequenz – 21.09.2004: Epilog

Content

Introduction
Chapter 1: Frontal and Free Public – 9/2/2004: Terror Analysis? – 9/6/2004: Debate free from Rulers – Self-Analysis – 9/7/2004: Relativity of Terror? – 9/8/2004: We and the Others – 9/9/2004
Chapter 2: 9/10/2004: Terror as a Field for Projections – 9/11-12/2004: Leviathan – 9/13/2004: "Eyes Shut, Eyes Open" – 9/14/2004: The German Angst – 9/15/2004: God and Gods – 9/16/2004: Da da Didacticism – 9/17/2004: Isolated Community – 9/18-19/2004: Be the Change you Want
Chapter 3: 9/20/2004: Dream Sequence – 9/21/2004: Epilogue

- Einleitung -

Es gibt Dinge, die angenehmer sind, als die Süddeutsche Zeitung zu analysieren. Chuck-Berry-Platten hören zum Beispiel. Oder in einem fremden Land über den Wochenmarkt spazieren. Oder im Winter Schlitten fahren. Es geht hier aber um die Süddeutsche Zeitung aus München. Die Aufgabe ist, diese Zeitung für eine Weile zu begleiten und zu beobachten. Früher war es ja so, dass man kaum auf Augenhöhe mit einer Zeitung diskutieren konnte. Wo hätte man das tun sollen? Klar, man konnte sich im Park auf eine Kiste stellen, allerdings hätte das die Presse vermutlich nur mäßig beeindruckt. Man kann seine Meinung natürlich auch in anderen Medien mitteilen, allerdings muss man da erst mal reinkommen. Immerhin lebten wir bis vor kurzem in einer fast reinen Frontal-Öffentlichkeit. Das bedeutet, dass jeder, der öffentlich etwas sagen oder tun wollte, dafür – außer in Ausnahmefällen – die Erlaubnis von jemand anderem brauchte, jemandem, der zu solchen Menschen gehört, die darüber bestimmen, wer überhaupt in die Öffentlichkeit darf und als was. Zum Beispiel der Redakteur einer Zeitung. Oder der Sponsor einer Veranstaltung. Oder der Politiker, der sich dafür einsetzt, dass eine Person oder Meinung gehört wird. Oder der Chef einer Plattenfirma, der einer Band einen Vertrag und einen Vertrieb gibt. Der Verleger, der ein Buch annimmt oder ablehnt. Die Veranstalterin eines öffentlichen Auftritts. Oder die Professorin, die sich für eine Person oder Meinung einsetzt. In anderen Ländern – teilweise auch in Deutschland – sind es zudem Geistliche, die ihren Segen dafür geben, dass eine Person oder Meinung gehört wird, sodass sie in der Öffentlichkeit erscheint. So war es früher...


- Introduction -

There are things more pleasant than to analyze the Sueddeutsche Zeitung. Like to listen to Chuck Berry records, for example. Or to stroll over a market-place in a foreign country. Or to go out on a sled in winter. But this here is about the Sueddeutsche Zeitung from Munich. The task is to accompany and to observe this newspaper for a while. In former times it had hardly been possible to have a discussion with a newspaper on eye level. Where should one have done that? Of course, you could stand on a box in the park, yet this would presumably impress the press only limitedly. There also is the possibility of expressing your opinion in another media, only that first you have to enter this media. Remember that until recently we had lived in an almost pure frontal public. This means that everybody, who wanted to say or do something publically, (with some exceptions) needed somebody else's permission for this, this somebody belonging to those people who decide who may enter the public to begin with, and as what? For example the editor of a newspaper decides that. Or the sponsor of a performance. Or the politician who supports that an individual or an opinion is heard. The publisher who accepts or refuses a book. Or the boss of a record company who provides a contract and a retail system for a band. The organizer of a public event. Or the professor who favors a certain individual or opinion. In other countries, partly also in Germany, there are clerics who give their blessings for an individual or an opinion to be heard so that it appears in the public. This is how it used to be ...


Kapitel 1

- Frontale und freie Öffentlichkeit -

(05.09.04) Es gibt Dinge, die angenehmer sind, als die Süddeutsche Zeitung zu analysieren. Chuck-Berry-Platten hören zum Beispiel. Oder in einem fremden Land über den Wochenmarkt spazieren. Oder im Winter Schlitten fahren. Es geht hier aber um die Süddeutsche Zeitung aus München. Die Aufgabe ist, diese Zeitung für eine Weile zu begleiten und zu beobachten. Früher war es ja so, dass man kaum auf Augenhöhe mit einer Zeitung diskutieren konnte. Wo hätte man das tun sollen? Klar, man konnte sich im Park auf eine Kiste stellen, allerdings hätte das die Presse vermutlich nur mäßig beeindruckt. Man kann seine Meinung natürlich auch in anderen Medien mitteilen, allerdings muss man da erst mal reinkommen. Immerhin lebten wir bis vor kurzem in einer fast reinen Frontal-Öffentlichkeit. Das bedeutet, dass jeder, der öffentlich etwas sagen oder tun wollte, dafür – außer in Ausnahmefällen – die Erlaubnis von jemand anderem brauchte, jemandem, der zu solchen Menschen gehört, die darüber bestimmen, wer überhaupt in die Öffentlichkeit darf und als was. Zum Beispiel der Redakteur einer Zeitung. Oder der Sponsor einer Veranstaltung. Oder der Politiker, der sich dafür einsetzt, dass eine Person oder Meinung gehört wird. Oder der Chef einer Plattenfirma, der einer Band einen Vertrag und einen Vertrieb gibt. Der Verleger, der ein Buch annimmt oder ablehnt. Die Veranstalterin eines öffentlichen Auftritts. Oder die Professorin, die sich für eine Person oder Meinung einsetzt. In anderen Ländern – teilweise auch in Deutschland – sind es zudem Geistliche, die ihren Segen dafür geben, dass eine Person oder Meinung gehört wird, sodass sie in der Öffentlichkeit erscheint. So war es früher.

Heute gibt es das Internet und damit hat potenziell jeder Mensch die Möglichkeit, seine eigene Öffentlichkeit zu bilden, ohne dass ihm jemand dafür eine Erlaubnis geben müsste. Seit ganz wenigen Jahren erst ist das so. Es ist eine gesellschaftliche Revolution, die in ihrer Auswirkung vielen Menschen noch gar nicht so klar ist. Heute leben zwei grundsätzlich verschiedene Öffentlichkeiten nebeneinander: die frontale und die freie. Wenn man eine Melone neben einen Apfel stellt, kann man neue Aussagen über den Apfel machen. Wenn man eine freie Öffentlichkeit neben eine frontale stellt, kann man neue Aussagen über die frontale Öffentlichkeit machen.

Ich stand vor dem Schreibtisch und reckte die Schultermuskeln. Schon wieder ein Buch! Und schon wieder nicht das, das ich eigentlich die ganze Zeit schreiben wollte. Ich öffnete das Fenster. Jedenfalls werde ich nicht dabei leiden, sagte ich zu der Amsel auf der Terrasse und hob zur Bekräftigung den Zeigefinger. Die Amsel sah mich an und verstand nicht, was ich meinte. Ich ging zum Spiegel und sah hinein. Du bist ein schlimmer Selbstdarsteller, sagte das Gesicht im Spiegel. Das ist die freie Öffentlichkeit, mein Freund, erwiderte ich, ich kann das tun. Eitel bist du, sagte da die Stimme, ein Populist! Aber ich hörte nicht zu. Das ging mich nichts an. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Gotham City war in Gefahr. Ich legte mein Cape an und zog die Maske über. Natürlich würde es ein paar Schurken nicht gefallen, dass ich zurück in der Stadt war, nach all den Jahren. Dass ich gekommen war, um zu diskutieren. Du bist ja verrückt, sagte die Stimme im Spiegel und ich warf ihr einen scharfen Blick zu, dass sie verstummte. – Angefangen hat die Geschichte mit der Süddeutschen Zeitung mit Lawrence von Arabien. Das war so:

SZ 30.08.04, S. 11, „Verblasste Mythen: Der Araber. Die falsche Säule der Weisheit“ von Petra Steinberger
Dieser Artikel ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Klischees dafür verwenden kann, Aggressionen eine Richtung zu geben und dabei Lagerdenken zu vertiefen. Frau Steinberger wirft „vielen Arabern“ vor, sie glaubten, sie seien Omar Sharif im Film „Lawrence von Arabien“ (großes Farbfoto), und dass dies „das Problem“ sei. Frau Steinberger sieht nämlich in diesen vielen Arabern einen „falsch verstandenen Stolz“ und ein „eigensinniges Beharren auf eine zweifellos große kulturelle Vergangenheit“. Sie zitiert, dass die Araber ein „künstlich hervorgebrachtes Volk“ sind, als könne man das nicht über jedes Volk sagen. Auch warnt sie vor „historischem Bewusstsein“, denn das trage „die Gefahr der Rückwärtsgewandheit“ in sich. In Steinbergers Analyse haben die Araber in ihrer Identitätsfindung schlicht versagt „- da blieb nur noch das Klischee“. Auch kritisiert sie, dass Demonstrationen gegen Selbstmordattentäter als Kundgebung gegen Israel und die USA enden, die daran Schuld seien, „wie sie ja an allem schuld sind“. Hier wird also eine Verschwörungstheorie unterstellt.

Genauso wie sich hinter dieser Unterstellung einer Verschwörungstheorie selbst eine Verschwörungstheorie verbirgt, verbergen sich auch hinter dem Gerede über Klischees selbst Klischees, und zwar sehr einfach gestrickte Klischees. „Für manch einen der Ideologen“, so endet der Artikel, „blieb nur noch die Religion. In ihrer intolerantesten Form“. Man kann hier schön erkennen, wie die deutsche Presse über sich selbst schreibt und es aber „den anderen“ in die Schuhe schiebt, weil sie diese Wahrheiten anders nicht ertragen könnte. Vielleicht ein falsch verstandener Stolz, ich weiß es nicht. Vielleicht sollten die Journalisten ein bisschen weniger fernsehen und sich zur Abwechslung in der realen Welt umsehen. Die falsche Säule der Weisheit ...

Dies ist eine deutliche und zunehmende Tendenz bei der Süddeutschen Zeitung, die ich schon länger beobachte. Sie geht einher mit Aussagen wie der von Jusuf, einem palästinensischen Schüler, kolportiert von Thorsten Schmitz am 26.08.04 in der SZ (S.3): „Den Kampf um Boden und Unabhängigkeit in seiner Heimat könne er nicht nachvollziehen“, als gäbe es irgendeinen Menschen auf der Welt, der einen Unabhängigkeitskampf nicht nachvollziehen könnte. Und natürlich die Verschwörungstheorie über die UNO, die ich im Buch „Könige sind wir, mit Flügeln aus Staub“ analysiert habe (Kapitel 6, Über Kritik an der Tournee, Absatz 9).

Dieses Verhalten, liebe SZ-Redaktion, ist nicht akzeptabel. Sie nutzen Ihre Macht aus, um Feindbilder zu stärken. Dabei wollen Sie das gar nicht. Sie wollen auch Frieden. Denken Sie mal entspannt darüber nach. – Eine Medienkritik von Anis Hamadeh

Süddeutsche Zeitung. Chefredakteure: H.W.Kilz, Dr. G. Sittner, stellv. E. Fischer, Außenpolitik: S. Kornelius, Dr. P. Münch, Innenpolitik Dr. H. Prantl, Dr. J. Käppner, leitende politische Redakteure: H. Leyendecker, K. Podak, M. Stiller.


Das war inzwischen ein paar Tage her. Der betreffende Zeitungsartikel mit dem schönen Foto von Peter O'Toole und Omar Sharif hängt jetzt bei mir im Büro an der Wand und ich sehe es mir morgens und abends an, um nicht zu vergessen, worum es geht. Dabei war ich in meiner Kritik noch nachsichtig, weil ich dachte, es würde so reichen. Immerhin habe ich den Text an die komplette arabische Internet-Gemeinde gemailt, in der ganzen Welt. Die Araber sollen wissen, was man über sie in der deutschen Presse schreibt, sie haben ein Recht darauf. Nachsichtig, weil ich der SZ die Elementar-Analyse erspart hatte. Das Argumentationsgerippe in dem betreffenden Artikel war nämlich: Es gibt den Araber als Sherif Ali Ibn al-Kharish (also Omar Sharif in diesem Film) und es gibt den Araber als Bin Laden/Saddam. Weil der Araber nicht Omar Sharif ist, ist er also Bin Laden. Wenn man sich der Niveaulosigkeit dieses Artikels wirklich bewusst wird, wird auch klar, warum die freie Öffentlichkeit die Verantwortung hat, hier einzuschreiten. Sonst schreiben die als nächstes so etwas über Frauen, über Schwarze, oder über Juden. Das wollen wir alles nicht. Das hatten wir schon.


Chapter 1

- Frontal and Free Public -

(September 5, 2004) There are things more pleasant than to analyze the Sueddeutsche Zeitung. Like to listen to Chuck Berry records, for example. Or to stroll over a market-place in a foreign country. Or to go out on a sled in winter. But this here is about the Sueddeutsche Zeitung from Munich. The task is to accompany and to observe this newspaper for a while. In former times it had hardly been possible to have a discussion with a newspaper on eye level. Where should one have done that? Of course, you could stand on a box in the park, yet this would presumably impress the press only limitedly. There also is the possibility of expressing your opinion in another media, only that first you have to enter this media. Remember that until recently we had lived in an almost pure frontal public. This means that everybody, who wanted to say or do something publically, (with some exceptions) needed somebody else's permission for this, this somebody belonging to those people who decide who may enter the public to begin with, and as what? For example the editor of a newspaper decides that. Or the sponsor of a performance. Or the politician who supports that an individual or an opinion is heard. The publisher who accepts or refuses a book. Or the boss of a record company who provides a contract and a retail system for a band. The organizer of a public event. Or the professor who favors a certain individual or opinion. In other countries, partly also in Germany, there are clerics who give their blessings for an individual or an opinion to be heard so that it appears in the public. This is how it used to be.

Today there is the internet and with it everybody has the opportunity to build his or her own public, without anybody else to give a permission. This is only since a few years. It is a social revolution which in its effects has not yet become clear to many people. Today, two fundamentally different publics live together in one world: the frontal public and the free public. When you put a melon next to an apple you can make new statements about the apple. When you put a free public next to a frontal public you can make new statements about the frontal public.

I stood in front of the desk and stretched my shoulder muscles. Another book! And again not the one I have been intending to write the whole time through. I opened the window. In any case, I will not suffer, I said to the blackbird on the terrace and lifted my forefinger in affirmation. The blackbird looked at me and did not understand what I meant. I went to the mirror and looked into it. You are bad, said the face in the mirror, you are complacent. This is the free public, my friend, I replied, and I may do that. Vain you are, said the voice, a populist! But I did not listen. This was none of my business. I had a task to accomplish. Gotham City was in danger. I put on my cape and pulled the mask over my face. Of course there would be some villains unhappy about the fact that I was back in town, after all those years. That I have come to discuss things. You gotta be crazy, said the voice in the mirror and I gave it a sharp, silencing look. – The story with the Sueddeutsche Zeitung started with Lawrence of Arabia. It went something like this:

Sueddeutsche Zeitung, Aug 30, 2004, p. 11, "Faded Myths: The Arab. The Wrong Pillar of Wisdom" by Petra Steinberger
This article is a good example for how to use clichès to give a direction to aggressions und thereby to support camp thinking. Ms. Steinberger reproaches "many Arabs" of believing they were Omar Sharif in the film "Lawrence of Arabia" (big colored photo) and that this would be "the problem". The thing is that Ms. Steinberger sees in those many Arabs a "wrongly conceptualized pride" and a "stubborn persistence in a doubtlessly great cultural past". She quotes that the Arabs are "an artificially generated people", as if one could not say this about any people. She also warns about a "historical consciousness", for this would bear "the danger of retrogression". In Steinberger's analysis the Arabs have simply failed in their identity finding. "- and only the clichè remained". She also criticizes that demonstrations against suicide bombers end up in proclamations against Israel and the USA, who would be seen as guilty, "as they are guilty of everything". So here a conspiracy theory is insinuated.

In the same way that this allusion to a conspiracy theory is a conspiracy theory itself, behind the talk about clichès are clichès themselves, and rather simple ones, too. "For quite some of the ideologists", this is how the article ends, "there only remains religion. In its most intolerant form". One can beautifully observe here how the German press is writing about itself and just accuses "the other", because it could not bear to face this truth in a different way. Maybe a wrongly conceptualized pride, I don't know. Maybe the journalists should watch a little less telly and take a walk in the real world, for a change. The wrong pillar of wisdom...

This is a clear and increasing tendency in the Sueddeutsche Zeitung, and I have been observing it for some time. It goes together with statements like the one of Yusuf, a Palestinian student, reported by Thorsten Schmitz on August 26, 2004 in der SZ (p.3): "He said he could not understand the struggle about soil and independence in his homeland", as if there was one individual in the world who could not understand the struggle for independence. And of course the conspiracy theory about the UN which I have analyzed in the book "Kings We Are, with Wings of Dust" (Chapter 6, On Criticism of the Tour,
paragraph 9).

This behavior, dear SZ editors, is not acceptable. You are using your power to promote stereotype images. And you do not even want that. You want peace, too. Have a relaxed thought about that. – A media review by Anis Hamadeh

Sueddeutsche Zeitung. Chief editors: H.W.Kilz, Dr. G. Sittner, vice: E. Fischer, Foreign politics: S. Kornelius, Dr. P. Münch, Home politics Dr. H. Prantl, Dr. J. Käppner, leading political editors: H. Leyendecker, K. Podak, M. Stiller.


Meanwhile this was some days ago. The respective article with the beautiful photo of Peter O'Toole and Omar Sharif now hangs at the wall of my office and I am looking at it every morning and every evening in order to not forget what this is all about. Actually, I was even considerate in my criticism, because I thought it would be enough like this. For I had forwarded the text to the complete Arab internet community, all over the world. The Arabs should know what the German press writes about them, they have a right to know. Considerate, because I spared the SZ the elementary analysis. For the skeleton of the argumentation in the respective article was: there is the Arab as Sherif Ali Ibn al-Kharish (i.e. Omar Sharif in this film) and there is the Arab as Bin Laden/Saddam. As the Arab is not Omar Sharif he accordingly is Bin Laden. The minute you get really aware of the level of this article you will understand why the free public has the responsibility to veto here. Otherwise they will next time write something likewise about women, black people, or Jews. We do not want any of this. We had this before.


- 02.09.04: Terror-Analyse? -

Als ich die Medienkritik zweisprachig verschickt hatte, setzte ich mich erst mal hin. So ein Artikel kurz vor der Frankfurter Buchmesse (Ehrengast Arabische Welt)... Ob die Leute in der Redaktion gar nicht über solche Fragen nachdachten? Dann geschah diese fürchterliche Geiselnahme in Beslan. Am Donnerstag, dem 02.09.2004 war die SZ-Redaktion vollständig überfordert. Der wichtigste Artikel bei der SZ steht immer auf der Seite 4 oben links, es ist der Kommentar des Tages. Stefan Kornelius schrieb ihn an diesem Tag. „Der entfesselte Terror“ hieß die Geschichte, voll die Panikmache. Manche Journalisten verwenden ihre Überschriften in einer Art, die sie persönlich psychisch entlastet. Der Mann hat sich besser gefühlt, als er seine Überschrift da sah. Nach dem Motto: Ich zeige euch die Wahrheit, derentfesselteterror. Lesen wir mal in den letzten Absatz hinein:

„Mit schierer Stärke allein wird sich der Terror nicht besiegen lassen. Umgekehrt führt Nachgiebigkeit zu noch mehr Terror. Wirksam sind bisher Wachsamkeit und die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten. Eine Veränderung wird nur dann zu spüren sein, wenn der Fanatismus schwindet und Terror auch in muslimischen Gesellschaften ernsthaft geächtet wird. Drei Jahre nach dem 11. September gibt es keine Allianz, die sich diesem Ziel wirklich verschrieben hat. Die Staaten der Terror-Opfer sehen die neue Wunderwaffe, aber sie finden nicht zusammen, um eine wirkungsvolle Abschreckung aufzubauen.“

Man sieht hier, wie zwischen „uns“ und „den anderen“ unterschieden wird. Die anderen, das sind nicht nur die Terroristen, sondern auch muslimische Gesellschaften. Fast die gesamte Seite 2 (Themen des Tages) zeigt das. Im aktuellen Lexikon werden unter „Terror“ verschiedene Arten des Terrors genannt, Zwecke und Etymologien. Ein Artikel über „Schwarze Witwen“, Selbstmordfrauen, spricht von Blutrache, Drogen, Erpressungen und zerstörten Seelen. Im großen Artikel in der Mitte wird die immer maßloser werdende „Lehre al-Qaidas“ gelehrt (mit drei Fotos vom Terror), während Israels Süden im Artikel darunter eine „offene Flanke“ bleibt. Die Israelis geben dort auch Syrern an etwas Schuld, nicht nur Palästinensern. Ganz unten noch ein Foto von einem vermummten palästinensischen Terroristen von Olympia 1972, etwas zusammenhanglos, in einem Artikel zu einem Streit zwischen New Yorks Ex-Bürgermeister Guliani und Deutschland. Ein Artikel am Rand zeigt aber auch Muslime, die gegen den Terror solidarisch sind und das öffentlich sagen (mit zwei kleinen Fotos).

War der Terror eine „Wunderwaffe“, wie Herr Kornelius bewundernd schrieb? Ich kannte dieses Wort bisher nur aus einem anderen Zusammenhang. – Abschreckung... Auf Seite 6 erzählt Thorsten Schmitz, der Israelbeauftragte bei der Süddeutschen, dass Israel jetzt zur gezielten Tötung zurückkehren würde und dass der Rückgang (oh, Rückgang) des Terrors auf die Mauer zurückzuführen sei. Da machte ich den Rechner an und schrieb versunken eine Mail an leserbriefe at sueddeutsche.de. Ich schickte sie sofort weg, was zunächst nicht geplant war:

zur SZ 02.09.04
Liebe SZ-Redaktion, Ihre heutige Ausgabe (Thema Terror) ist sehr emotional und voller Meta-Botschaften. Ich fühle deutlich Ihre Ratlosigkeit und die daraus resultierenden Aggressionen. Sie winden sich verbissen um die Frage, was die Ursachen des Terrors sind. Es fällt auf, dass Sie diese naheliegende Frage ganz ausklammern, in Tschetschenien und in Palästina und bei al-Qaida. An diesem Punkt müssten Sie eigentlich stutzig werden und selbst spüren, dass Ihnen etwas Grundlegendes in der Argumentation fehlt. Stattdessen beginnen Sie nun, den Sinn der offiziellen Tötungen und der Mauer durch Kommentarlosigkeit zu rechtfertigen und malen den Terror in allen Farben aus, so als liebten Sie ihn. Sie fokussieren auf den Terror und folgen damit genau dem vorgegebenen Impuls destruktiven Lagerdenkens. Und wenn es Ihnen zu viel wird, verkriechen Sie sich in die böse Vergangenheit und suchen dort nach Rechtfertigungen für Ihr Verhalten. Auch die Tatsache, dass Sie nicht mit wirklichen Kritikern zu diskutieren in der Lage sind zeigt, dass Sie sich selbst einmauern, was für einen Träger öffentlichen Handelns nicht angemessen ist. Es ist meine Pflicht, Ihnen und den Betroffenen diesen Punkt zu verdeutlichen, denn Sie schaden nicht nur unserer eigenen Gesellschaft, sondern auch anderen. Das ist völlig unverständlich. Ich werde fortan Ihre Zeitung noch etwas genauer lesen, später gebündelt analysieren und die Analyse veröffentlichen und übersetzen. Wenn Sie nicht anders diskutieren können, bleibt mir gar nichts anderes übrig, denn auch ich habe eine Verantwortung. – Eine Medienkritik von Anis Hamadeh


Im Kommentar am 3.9. schrieb Daniel Brössler dann durchaus über die Ursachen des Terrors und ermahnte Putin, eine friedliche Lösung des Tschetschenienkonflikts zu finden. Tomas Avenarius am Tag darauf, in der Wochenendausgabe nach dem schrecklichen Blutbad, wird deutlicher: Russland wird sich von Tschetschenien trennen müssen. Dennoch klang es hilflos. Natürlich, was können Journalisten auch schon machen? Sie sollen die Welt abbilden, kommunizieren und möglichst noch etwas geistreich sein, aber den Terror beenden können sie ja auch nicht. Können sie das wirklich nicht? Ich bin mir nicht so sicher. Außerdem bildet die Zeitung zwar bestimmt eine Welt ab, aber welche? Die SZ glaubt nicht an den Krieg gegen den Terror, „jedes Schulkind in Israel“ (Kornelius) wisse, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden könne. Dennoch redet die SZ dauernd über den Kampf gegen den Terrorismus und hat dabei Abschreckung im Sinn. Wie stellen die sich das vor? Und wie definieren sie Terror überhaupt? Andere Zeitungen wie die junge Welt beschäftigen sich wenigstens damit, dort ist derzeit eine Terror-Analyse von Noam Chomsky zu lesen, einem wichtigen Denker, der in den USA, ich glaube, in Neu-England, lebt. – Es war auch nicht das erste Mal, dass mir die SZ mit ihrer Faszination für Terror aufgefallen ist. Im März schrieb ich diesen Artikel:

Artikel: „Terrorangst beherrscht die Politik des Westens“ vom 28.03.04


- 9/2/2004: Terror Analysis? -

When I had forwarded the media review in two languages I sat down for a moment. Such an article shortly before the Frankfurt Bookfair (Guest of Honor: The Arab World)... Don't people in newspaper offices consider these things? Then the terrible hostage taking in Beslan happened. On Thursday, September 9, 2004, the SZ editors were completely overcharged. The top article in the SZ always is on page 4 left above, it is the commentary of the day. Stefan Kornelius wrote it on that day. "The unchained terror" was the name of the story, like causing panic. Some journalists use their titles in a way that gives them a personal psychic relief. This man felt better when he saw his own title. As if saying: I show you the truth, theunchainedterror. Let's have a small read in the final paragraph:

"The victory over terror will not be through sheer power alone. Yet the contrary softness leads to even more terror. Effective have been vigilance and the work of the police and the intelligence services. A change will only then be noticable when fanatism decreases and when terror will be seriously banned also in Muslim societies. Three years after September 11 there is no alliance which has really committed itself to this aim. The states of the victims of terror are seeing the new wonder-weapon, but it does not find together in order to build up an effective deterrance."

You can observe here how a difference is made between "us" and "the others". The others, this is not only the terrorists, but also Muslim societies. Almost the whole page 2 (Issues of the day) shows that. In the current "Lexikon" different kinds of terror are named, purposes and etymologies. An article about "Black Widows", suicide women, talks about vendetta, drugs, blackmailings and destroyed souls. In the big article in the middle of the page the more and more boundlessly growing "lore of al-Qaida" is taught (with three photos of the terror), while Israel's South in the article below remains an "open flank". In this context the Israelis also give some guilt to Syria, not only to the Paestinians. On the bottom another photo of a muffled up Palestinian terrorist from Olympia 1972, a bit out of context, in an article about the dissent between New York's ex-mayor Guliani and Germany. But an article at the side also shows Muslims who are in solidarity against terror and who publically say that (with two small photos).

Was terror a "wonder weapon", as Herr Kornelius wondered? I had known this word only from a different context. -Deterrance... On page 6 Thorsten Schmitz, the Israel deputy at the Sueddeutsche, recounted that Israel now would return to the targeted killing and that the decrease (oh, a decrease) of terror was due to the wall. At that I turned on the computer and in thoughts wrote a mail to leserbriefe@sueddeutsche.de. I sent it straight away which originally was not planned:

At SZ September 2, 2004
Dear SZ editors, your issue of today (subject: terror) is very emotional and full of meta-messages. I can clearly feel your perplexity and the resulting aggressions. You obstinately try to avoid the question what the roots of terror are. It is conspicious that you have done completely without this plausible question, in Chechenia, in Palestine, and in al-Qaida. At this point you could become a bit startled and notice yourself that you are lacking something fundamental in your argumentation. Instead, you know start to justify the meaning of the official killings and of the wall by lack of commentary and you paint the terror in all colors, as if you would love it. You are focussing on terror and thus follow exactly the impulse of destructive camp thinking. And when it all gets too much for you you crawl away into the evil past and there you look for justifications of your behavior. The fact that you are not capable of discussing issues with real critics, either, shows that you are building a wall around yourselves which is not adequate for a bearer of public acting. It is my duty to clarify this point to you and to the concerned, because you are not only doing harm to our own society, but also to others. This is completely unintelligible. From now on I will have an even closer read in your newspaper, later on will analyze it in a bundle and publish the analysis and translate it. If you cannot discuss in a different way then I have basically no choice, because I have a responsibility, too. – A media review by Anis Hamadeh


In the commentary on Sep. 3 Daniel Brössler did write about the roots of terror and he admonished Putin to find a peaceful solution to the Chechenia conflict. Tomas Avenarius on the next day, in the weekend edition after the horrible massacre, is even more direct: Russia will have to separate itself from Chechenia. Still it sounded helpless. Of course, what can journalists do about it? They are supposed to map the world, to communicate it and, if possible, be a bit gifted, but they are not the ones who can end the terror. Can't they really? I am not so sure about this. Besides, the newspaper surely is mapping a world, but which world? The SZ does not believe in the war against terror, "every school kid in Israel" (Kornelius) would know that this war cannot be won. Still the SZ continuously is talking about the struggle against terrorism, having deterrance in mind. What do they think they are imagining? And how do they define terror at all? Other newspapers like the junge Welt at least bother to deal with this subject, there you can currently find a terror analysis by Noam Chomsky, an important thinker who lives in the USA, in New England, I think. – Also, this was not the first time that the SZ attracted my attention because of its fascination for terror. In March I wrote this article:

Article: "Fear of Terror Rules the Policy of the West" from March, 28, 2004


- 06.09.04: Herrschaftsfreie Debatte -

(07.09.04) Ich liebe Kollektiv-Psychen! Sie sind so saftig wie frische Mangos. Zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. Wenn ich sie lese – und das ist ja meine derzeitige Aufgabe, die ich möglichst unlangweilig verbringen möchte -, habe ich manchmal das Gefühl, sie wolle mir etwas sagen. Vielleicht ist es auch umgekehrt, dass ich der SZ etwas sagen möchte, aber das ist sowieso klar. Sonst wäre ich jetzt auf Barbados.

Die gestrige Ausgabe war sehr gut, es ging um die herrschaftsfreie Debatte. Ein ausgezeichneter Anknüpfpunkt! Es erinnerte mich an eine Mail, die ich kurz zuvor erhalten hatte. Ein Insider schrieb mir dort, dass unsere Medien wohl eher nicht so liberal seien, und dass es gut sei, konziliant mit der Presse umzugehen. Das war ein sehr anregender Beitrag. Sie können sich übrigens gern an der Diskussion beteiligen, ich werde Kommentare posten, wenn es gewünscht wird. Wenn Sie etwas von allgemeinem Interesse beizutragen haben, schreib/schreiben Sie es auf deutsch oder englisch an anis at anis-online.de. Alle demokratischen Meinungen sind zugelassen, Nachfragen, eigene Kommentare und Kürzungen vorbehalten.

Der Artikel des Tages 06.09.04 heißt „Zu schwach für ein Zeichen der Stärke. Präsident Putin demonstriert seine Unfähigkeit, auf den Terror von Beslan angemessen zu reagieren.“ Er wurde verfasst von Frank Nienhuysen, gedruckt auf der Meinungsseite 4, an prominenter Stelle unter der Karikatur, auf der Angela Merkel sich etwas in den Hintern steckt. Drei Sätze aus diesem Kommentar sind wichtig. Erstens: „In einem Land, in dem alle Gewalten von der Schaltzentrale in Moskau ausgehen, müssen umgekehrt dort auch alle Schwächen münden“. Zweitens: „Russland braucht eine offene, herrschaftsfreie Debatte, über die Politik im Kaukasus, ausgetragen auch in den Medien, die frei über das Geschehen an der russischen Südflanke informieren dürfen.“ Und drittens der Schlusssatz: „Leider spricht alles dafür, dass er (gemeint ist Putin) für ein solches Zeichen der Stärke zu schwach ist.“

Und zwar ist dieser Kommentar von Herrn Nienhuysen deshalb so interessant, weil er das Herrschaftsfraktal erläutern kann. Das ist so: Eine Gruppe wirft einer anderen Gruppe einen mangelnden herrschaftsfreien Diskurs vor und dürfte das eigentlich gar nicht tun, weil sie selbst keinen herrschaftsfreien Diskurs führt. So ähnlich wie die Amerikaner denken, Sie könnten den Irak mit undemokratischen Mitteln zur Demokratie bewegen, oder wie manche Familienväter denken, Sie könnten ihre Kinder durch Schläge zum Guten bewegen. Was den herrschaftsfreien Diskurs betrifft, so kann man sagen, dass das, was die SZ den Russen vorwirft, strukturell dem ähnlich ist, was ich der SZ vorwerfe. Deshalb auch fraktal. Es ist im Kleinen dasselbe wie im Großen. So wie die lustigen Apfelmännchen aus der Physik. (Hier ist ein Bild).

Wenn die SZ kommentiert: „In einem Land, in dem alle Gewalten von der Schaltzentrale in Moskau ausgehen, müssen umgekehrt dort auch alle Schwächen münden“, dann zeigt sie den Mechanismus, mit dem sie selbst Verantwortungen von sich weisen kann. Da ist immer ein Höherer, dem man es in die Schuhe schieben kann. Und wenn sie schreibt, dass Putin für ein solches Zeichen der Stärke zu schwach ist und ihn im Feuilleton wieder rehabilitiert, dann erwartet sie vielleicht, selbst auch so mild beurteilt zu werden. Auf Seite 13 schreibt Franziska Augstein nämlich: „Demokratie von oben. Was für Wladimir Putin spricht.“ Dort ist die Rede von „Täterstaaten“, das kann man sich gleich für das Unwort des Jahres merken. Mit so etwas kommen wir überhaupt nicht weiter, das ist zu suggestiv, man denkt sofort an Hohmann. Dass Demokratie in Russland nur von oben kommen könne, ist übrigens ein Zitat von Egon Bahr (SPD). Der hat seine besten Zeiten auch schon hinter sich. Wie war das noch damals in der FAZ? Amerika führt Krieg, Europa sichert den Frieden oder so ähnlich. Als Partnerschaft. Ich habe das Zitat in meinem vorletzten Buch, das suche ich jetzt aber nicht raus für Egon Bahr.

Insgesamt ist der Artikel von Franziska Augstein eine Katastrophe. Das liegt neben der Überschrift im Wesentlichen an zwei Sätzen gegen Ende. Erstens: „Was den Tschetschenien-Krieg angeht, könne Putin mit Verhandlungen in der gesetzlosen Provinz derzeit nichts erreichen: 'Es gibt niemanden, mit dem er verbindliche Vereinbarungen treffen kann.'“ (Zitat Bahr). Als könne man hier stehen bleiben! Da leiden Menschen unter Unterdrückung! Ich erinnere mich noch, wie Herr Putin im deutschen Bundestag von Vertrauen gesprochen hat. Also ich vertraue dem nicht. Im guten Artikel darunter (darunter, weil Demokratie von oben kommt), von Sonja Zekri, steht, dass Russland eher seine Menschen opfert, als auch nur einen Quadratmeter Land. Dass Putins jüngste Ankündigungen wenig Gutes ahnen lassen, was den ganzen Kaukasus angeht. Dennoch steht oben, und das ist der zweite Satz aus dem Augstein-Artikel, der Schlusssatz: „Es kommt nicht so sehr darauf an, dass die Demokratie nach ihrer ursprünglichen Idee funktioniert, sondern dass sie von der Bevölkerung als funktionierend empfunden wird.“ Das ist der dekadenteste Satz, den ich seit Jahren irgendwo gelesen habe. Als ginge es um Temperaturen: Nicht die wirkliche Temperatur ist ausschlaggebend, sondern die gefühlte. Als gehörte die Demokratie in den Wellnessbereich.

Ansonsten war nicht viel los in der SZ vom 06.09.2004. Es gab diese langweilige Beilage der New York Times, auf englisch. Die amerikanische Presse ist ja bekanntlich noch schlimmer als die deutsche, weil sie dieses nationalistische Element pflegt. Es ist so, als würde man die Mars-Presse lesen. Die leben inzwischen in einer ganz anderen Welt und haben sich weitgehend abgekoppelt. Außer der Artikel über Björk, der war wenigstens interessant. Damit will ich übrigens nicht sagen, dass die chinesische oder arabische Presse viel besser sei. Über die arabische Presse werden wir bestimmt auch noch sprechen.

Die zweite Beilage war das evangelische Magazin Chrismon, das war besser. Der Herausgeber, Bischof Johannes Friedrich aus Bayern, fordert auf Seite 10 die Solidarität mit den Kirchen im Irak. Ich finde, da hat er völlig recht. Der Beitrag „Solidarität mit Lücken“ ist insgesamt gut, das einzige, was mich irritiert hat, war die Rede vom „missionarischen Auftrag“ der Christen. Zwar sagt er, dass dieser Auftrag aus dem Vorleben christlicher Werte bestehen soll, aber Missionierung ist Missionierung. Ich glaube nicht, dass ein solcher Gedanke – in welcher Religion oder Ideologie auch immer – im 21sten Jahrhundert eine Rolle spielen sollte. Das erinnert mich an den Reisefahrplan aus dem Zug. Ich habe gestern in Landau in der Pfalz ein öffentliches Gespräch an der Uni gehabt, als Palästinenser, mit dem Israeli Alex Elsohn von der Begegnungsstätte Givat Haviva. Im Zug auf der Rückfahrt las ich auf der Rückseite dieses offiziellen DB-Zugfahrplanes in großer Schrift ein Bibelzitat aus dem Johannes-Evangelium: „Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, als nur durch mich. Joh. 14, 6b)“. Dazu die Adresse und Telefonnummer eines Herrn Ralf R. Hildebrandt in Bremen. Ich empfand das als ausgesprochen unangenehm und suggestiv. Solche Absolutheitsansprüche deuten irgendwie auf einen Herrschaftsdiskurs und sind nicht zeitgemäß. Ob Jesus wirklich so etwas gesagt hat, ist übrigens mehr als fraglich, denn man weiß über den historischen Jesus von Nazareth und seine Aussprüche herzlich wenig, wie zum Beispiel Rudolf Augstein in seinem Buch „Jesus Menschensohn“ plausibel macht.

Chrismon, ja, da ist auch ein Interview drin mit einem Hirnforscher, der den freien Willen abstrahiert und einem Pädagogen, der als Moralverfechter dazwischentritt und kritische, humanistische Kommentare abgibt. Das ist ganz interessant, denn dieser Pädagoge ist Herr Micha Brumlik vom Antisemitismusinstitut. Ich kenne ihn aus verschiedenen öffentlichen Situationen, in denen er darauf eingewirkt hatte, dass Diskursteilnehmer aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen wurden. Auch hat sich der Philosoph Habermas entschuldigt, als Herr Brumlik mal wütend wurde (siehe Google unter dem Stichwort „Ted Honderich“). In meinem vorletzten Buch, im Februar, habe ich darüber geschrieben. Ich frage mich, aus welchen Gründen Herr Brumliks Wort so viel Gewicht hat. Viel Substanz kann ich da jedenfalls nicht erkennen. Was Herr Brumlik wohl vom herrschaftsfreien Diskurs hält?


- 9/6/2004: Debate free from Rulers -

(September 7, 2004) I love collective psyches! They are as juicy as fresh mangos. The Sueddeutsche Zeitung for example. When I read it – and this is my current task which I intend to spend as unboringly as possible -, I sometimes have the feeling as if the paper wanted to tell me something. Maybe it is the other way around, that I want to tell something to the SZ, but this is obvious, anyway. Otherwise I would be on Barbados now.

Yesterday's issue was very good, it was about the debate free from rulers. An excellent point for discussion! It reminded me of a mail which I had received shortly before. An insider wrote to me that our media would probably rather not be so liberal and that it would be good to deal with the press in a conciliatory way. This has been a very stimulating contribution. By the way, you can also participate in the discussion, I will post comments, if wished. If you have something of general interest write it in English or German to anis at anis-online.de. All democratic opinions are allowed, with the possibility of my asking back, of super-comments and abridgements.

The article of the day 09/06/2004 is called "Too weak for a sign of strength. President Putin demonstrates his incapability of adequately reacting on the terror of Beslan." It was created by Frank Nienhuysen, printed on the opinion page 4, on a prominent spot under the cartoon in which Angela Merkel is putting something into her bottom. Three sentences out of this article are important. Firstly: "In a country, in which all power originates in the control center in Moscow, it is vice versa so that all weaknesses must go back there." Secondly: "Russia needs an open debate, free from rulers, about the Caucasus policy, carried out also in the media which may freely inform about what happens at the Russian south flank." And thirdly the final sentence: "Unfortunately, all probabilities say that he (meant is Putin) is too weak for such a sign of strength."

The interesting aspect about this comment by Herr Nienhuysen is that it can help explaining the ruler fractal. It goes like this: one group blames another group of not having a discourse which is free from rulers, but originally, such an accusation is not allowed from a group which does not have a discourse free from rulers itself. A bit like the Americans when they think they could motivate Iraq to be democratic, with means that are not democratic. Or like some family fathers think they could bring their children to the good when they beat them. Concerning the discourse free from rulers one can say that the SZ criticism of Russia structurally is similar to my criticism of the SZ. And this is what the fractal is about. It is the same in the small and in the big. Like those little apple men from physics. (See a picture here).

When the SZ comments: "In a country, in which all power originates in the control center in Moscow, it is vice versa so that all weaknesses must go back there", then it shows the mechanism which allows it to deny responsibilities itself. There always is a higher one who can be blamed. And when it writes that Putin is too weak for such a sign of strength while rehabilitating him in the feuilleton then it may expect to be judged as mildly itself. For on page 13 Franziska Augstein writes: "Top down democracy. The pros of Wladimir Putin". You can find the word "Tätervolk" in it, perpetrator people, which is a good word for the worst-word-of-the-year-competition. Such a concept is not helpful at all, it is too suggestive, especially in Germany where people think of the controversial conservative legislator Martin Hohmann in this context. That democracy in Russia could only happen top-down is a quote by Egon Bahr (SPD), by the way. This is a politician whose best days lay behind him. I remember a recent article in the Frankfurter Allgemeine Zeitung. How was that again? America leads war, Europe safeguards peace... or something like that. As a partnership. I have the quote in the book before my last, but I am not going to look this up now for Egon Bahr.

All in all, the article by Franziska Augstein is a catastrophe. Next to the title this is mainly due to two sentences at the end. Firstly: "Concerning the Chechenia war Putin could currently not succeed with negotiations in the lawless province: 'There is nobody with whom he can make binding agreements.'" (Quote Bahr). As if one could stop at this point! There are people suffering from oppression! I remember Mister Putin having talked in the German Bundestag about trust. Well, I don't trust him. In the good article below (below, because democracy goes top-down), by Sonja Zekri, it says that Russia rather sacrifices its people than only one square meter of land. That Putin's most recent announcements give little reason for optimism, concerning the whole Caucasus. And yet above, and this is the second sentence from the Augstein article, it reads at the end: "It does not matter so much that democracy functions according to its original idea, what matters is that it is perceived as functioning by the population." This is the most decadent sentence I have read for years, at all. As if this was about temperatures: not the real temperature is decisive, but the felt one. As if democracy was something belonging to the realm of the wellness industry.

Apart from that there was not much up in the SZ of September 6, 2004. There was this boring New York Times supplement, in English. As is known, the American press is even worse than the German press, because it cherishes this nationalist element. It is like reading the Mars press. They are by now living in a world of their own and do not really need communication anymore. The article about Bjork was an exception, it was at least interesting. This is not to say, by the way, that the Chinese press or the Arab press were much better. We will surely also talk about the Arab press in what follows.

The second supplement was the Protestant magazine Chrismon, that was better. The editor, Bishop Johannes Friedrich from Bavaria, on page 10 demands solidarity with the churches in Iraq. I find that he is completely right. The contribution "Solidarity with gaps" is good altogether. The only thing that irritated me was the talk of the "missionary mission" of the Christians. It is true that he says that this mission should consist in the living example of Christian values, but still, missionary is missionary. I don't think that such an idea – no matter in which religion or ideology – should play a role in the 21st century. This reminds me of the timetable flyer from the train. Yesterday I had a public discussion as a Palestinian, in Landau in the Pfalz, at the university, with the Israeli Alex Elsohn from the communication center Givat Haviva. On my way back in the train I read on the backside of this official German railway timetable a Bible quote in big letters, from John's gospel: "Jesus Christ speaks: I am the path, the truth and life. Nobody will come to the Father, except through me. John 14, 6b)". Included is the address and telephone number of a Mister Ralf R. Hildebrandt in Bremen. I found that really unpleasant and suggestive. Such claims of absolutisms do in a way indicate a discourse of rulers and are not fitting the times. Whether or nor Jesus had really said such a thing, by the way, is more than questionable, because we know very little about the historic Jesus from Nazareth and his sayings, as for example Rudolf Augstein makes plausible, in his book "Jesus Son of Man".

Chrismon, yes, it also includes the interview with a brain researcher, who is abstracting the free will, and a pedagogue who plays the role of a moral advocate and who gives humanistic comments. This is quite interesting, because this pedagogue is Mister Micha Brumlik from the anti-Semitism institute. I know him from different public situations in which he had worked for the exclusion of participants of the public discourse. Also, the philosopher Habermas apologized to him, when once Herr Brumlik became angry (see Google under the key-word "Ted Honderich"). In the book before my last I wrote about it. I wonder what the reasons are that Herr Brumlik's word has so much weight. There is not much substance to detect in his contributions. What might Herr Brumlik think about the discourse free of rulers?


- Selbstanalyse -

(07.09.04, spät nachts) Was tat ich hier überhaupt? Wer war ich? Warum saß ich hier und analysierte die Süddeutsche Zeitung? Ich ging zum Spiegel und sah hinein. „Es ist völlig sinnlos, was du tust“, sagte das Gesicht im Spiegel. Als hätte ich es geahnt. „Man wird dir Vorwürfe machen.“ Na toll. „Was sollte zum Beispiel diese Deanna-Troi-Nummer mit dem 'Ich spüre deutlich Ihre Ratlosigkeit'?“ Ja, weil es so war. Ich reagiere eben anders auf Zeitungen als andere Leute. Mir fallen eben bestimmte Sachen mehr auf. Ich sehe auch die Menschen, die dahinterstehen. Ich überlege immer, was das für Leute sind, die das machen. Das ist genauso wichtig wie die Artikel. Mindestens. Und den Leuten bei der SZ geht es nicht gut. Sie sind nicht glücklich, sie sind nicht zufrieden, und das drückt sich in ihrer Arbeit aus. Sie senden Impulse aus, die ich registrieren kann, und sie setzen der Bevölkerung seltsame Gedanken in den Kopf und stecken sie an mit ihrer Depression. „Aber glaubst du“, fragte mich das Gesicht, „dass die bei der SZ damit etwas anfangen können, wenn du das so sagst?“ Ja, ich glaube schon. Ich glaube, die merken auch, dass ich ihnen nichts Böses will. Andererseits zeigen sie ja selbst, dass sie im Wesentlichen nur auf Schock reagieren. Also musste ich sie schocken. „Sie werden es dir natürlich übel nehmen.“ Glaube ich eigentlich nicht. Vielleicht in den ersten Tagen... Außer, sie lesen nicht, was ich zu sagen habe. Außerdem entwickelt sich die Diskussion hervorragend. Das Gesicht im Spiegel sah mich unwillig an. Nun gib der Sache mal eine Chance! sagte ich. Das ist ein soziologisches Experiment. Zum Beispiel in der folgenden Ausgabe, der vom Dienstag, dem 07.09.04. Da sagt die SZ implizit aus, dass sie gar nicht über Terror diskutieren möchte, sondern die anderen, die muslimischen Gesellschaften, sollen ihn stoppen. Das ist ganz interessant ...


- Self-Analysis -

(September 7, 2004, late in the night) What the heck was I doing here? Who was I? Why did I sit here analyzing the Sueddeutsche Zeitung? I went to the mirror and looked into it. "It is completely immaterial what you are doing here", said the face in the mirror. Oh yes, of course, I could have guessed that. "They will blame you." Oh yes, this was really boring. "What, for instance, was this Deanna Troi number with this 'I can clearly feel your perplexity'?" Yeah well, because it was true. I react differently on newspapers than other people, that's all. Certain things just attract my attention. Also, I look at the people behind it. I always ponder what people these are who do that. This is as important as the articles. At least. And the people at the SZ are not happy. They are not content and this reflects in their work. They are sending impulses which I can receive and they put strange thoughts into the heads of the population and infect them with their depression. "But do you think", asked the face, "that the people at the SZ are able to make something out of this, when you say it like that?" Yes, I think so. I think they realize that I do not want them harm. On the other hand they show themselves that they mostly react on shock. So I had to shock them. "They will certainly blame you for that." No, I don't actually believe that. Maybe in the first days... Except they don't read what I have to say. Besides, the discussion is developing in a very positive way. The face in the mirror looked at me unwillingly. Now, give this thing a chance! I said. It is a sociological experiment. The following issue, for example, the one from Tuesday, September 7. There the SZ implicitly says that it does not even want to discuss terror, but the others, the Muslim societies, are to stop it. This is quite interesting...


- 07.09.04: Relativierung des Terrors? -

Der Artikel des Tages 07.09.2004 ist der Kommentar von Rudolph Chimelli auf der Seite 4: „Immer im Spiegel des eigenen Leids. Trotz der Grauen von Beslan relativiert die islamische Welt den Terror – und entschuldigt ihn damit.“ Schreckensbilder der Medien sorgen demnach in Algerien und im Iran dafür, dass die Grausamkeit der Russen in ihren sadistischen Einzelheiten verbreiteter seien als im Westen. Von Aufrechnungen tschetschenischer Kinder und der Kinder von Beslan wird berichtet, die von einem Tschetschenenführer ausgingen und die im Nahen Osten einen „empfindlichen Nerv“ treffen. Am Ende geht es dann um die Arabische Halbinsel: „Das Mitleid mit den Tschetschenen ließ bisher auf der Arabischen Halbinsel die Hilfe für die Opfer reichlich fließen. Kein Frommer beauftragt einen Buchprüfer, um zu erfahren, ob das Geld nur Witwen, Waisen und Elenden zugute kommt – oder ob dafür auch Waffen gekauft werden.“ Fangen wir mit der Überschrift an. Sie passt nicht recht zum Text. Von der islamischen Welt wurde gar nicht berichtet, sondern von ein paar Ländern, und darunter waren noch zwei als typisch gekennzeichnete Zitate aus Ägypten, die das Gegenteil von dem aussagten, was der Titel suggeriert. Dann würde ich gern wissen, woher Herr Chimelli weiß, dass sich „kein Frommer“ von der Arabischen Halbinsel für den Zweck seiner Spenden interessiert.

Das Wichtigste aber ist der Begriff „Relativierung des Terrors“ sowie die angebliche Konsequenz, der Terror würde dadurch entschuldigt. Durch den Begriff „Relativierung des Terrors“ wird die Terror-Diskussion tabuisiert. Man darf die Diskussion um die Ursachen des Terrors demnach gar nicht innerhalb der Terrordiskussion führen, weil man dadurch angeblich den Terror entschuldigt. Als wäre verstehen wollen gleich entschuldigen. Wenn ich an die toten Kinder von Beslan denke, dann bin ich schnell dabei nachzudenken, wie man es verhindern kann, dass solche Dinge in der Zukunft wiedergeschehen, egal wo. Es muss aufhören. Logischerweise komme ich dann zu der Frage nach den Ursachen. Den Zorn in muslimischen Gesellschaften sehe ich dabei durchaus als Faktor, denn er führt in der Tat in manchen gesellschaftlichen Kreisen zu latenten oder manifesten Rechtfertigungen von Terror, die von den extremistischen Rändern ausgenutzt werden und die sie zu einem gewissen Grad ermutigen. Es reicht aber für die Situationsanalyse nicht aus zu fordern, dass der Zorn vergehen soll. Das wäre vergleichbar mit dem Schicksal von Jack Nicholson in „Einer flog übers Kuckucksnest“. Um seinen Zorn zu besänftigen, hat man ihm das Gehirn entnommen. Der Film legte nahe, dass dies nicht die adäquate Methode ist, um Probleme zu lösen. Was Tschetschenien, Palästina, Israel, den Irak, die USA, Europa, den Sudan und andere Länder betrifft, so wird der Terror auch in der Analyse der Mainstream-Medien aufhören, sobald die schweren Ungerechtigkeiten aufhören. Eine Alternative ist mir nicht bekannt.

Ansonsten gab es noch eine Buchbesprechung von Alexander Kissler auf Seite 18: „Den Terror töten. Stefan Zweigs vergessenes Revolutionsdrama 'Adam Lux'“. Der Kernsatz lautet: „Stefan Zweig begeisterte sich am Vorabend des Krieges ähnlich rauschhaft und ähnlich folgenlos für sein humanistisches Programm wie 150 Jahre zuvor Adam Lux für die Französische Revolution, und wie der Titelheld in Zweigs leidenschaftlichstem Drama wählte auch dessen Autor den Freitod.“ Damit suggeriert Herr Kissler, dass engagierter Humanismus zu Selbstmord führt. Es ist ungefähr so, als würde man Jesus als Versager darstellen, weil die Welt schlecht ist. Deshalb meinte ich oben, dass man sich die Leute anschauen sollte, die dahinterstehen. Vergleicht man etwa den großen Schriftsteller und Humanisten Stefan Zweig mit dem nihilistischen SZ-Journalisten Alexander Kissler, so wird deutlicher, was ich damit sagen möchte. Und das ist auch mein legitimer Vorwurf an die SZ: Ihr glaubt an nichts!

Eine Verschwommenheit der Werte lässt sich gelegentlich auch bei Thorsten Schmitz beobachten. In dieser Ausgabe auf Seite 3 steht sein Artikel: „Ein Minister für Rebellion. Er schart Gleichgesinnte um sich, denn Uzi Landau hat ein Ziel: In Israel soll alles beim Alten bleiben.“ Es geht um einen Minister der israelischen Regierung, dessen Credo lautet: „Wir müssen den Krieg gewinnen.“ Thorsten Schmitz nennt ihn den „Robin Hood der Siedler“. Das wird Herrn Landau gefallen haben. Ebenso wie das Foto, auf dem man den jungen Minister cool mit Sonnenbrille zusammen mit einem Mitglied des US-Außenministeriums sieht. Im Untertext wird Landau „Rechtsaußen“ genannt. Thorsten Schmitz macht sich auch ein wenig über Landau lustig, insofern kommt auch er auf seine Kosten. Dieser Artikel sagt viel aus über das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis und Palästinensern/Arabern/Muslimen. Niemals könnte Schmitz derart mit einem deutschen Rechtsaußen kokettieren, bei einem israelischen aber kann er diese Neigung öffentlich ausleben.

Das führt uns zu einer Untersuchung der Bilder, die Herr Schmitz für Israelis und Palästinenser parat hat. Hier haben wir also einen Robin Hood. Robin Hood gehört in unserer Kultur zu den Helden. Bilder von Palästinensern sehen dagegen anders aus. In der Zeit dieser Analyse gab es in Schmitzens Artikeln bislang drei Beispiele. Das erste habe ich schon entsorgt, weil ich am 02.09. alle früheren SZ-Ausgaben weggeworfen habe. Es war wohl am 01.09., als Schmitz unter „Leute“ über einen palästinensischen Sänger berichtete: „Trauriger Held“. Traurig, weil er „nur“ den zweiten Platz bei einem arabischen Wettbewerb belegt hat. Ich fragte daraufhin Thorsten Schmitz in einer Mail, ob er nicht mal etwas über einen fröhlichen palästinensischen Helden schreiben wolle. Am nächsten Tag war diese oben erwähnte, etwas zusammenhanglose Darstellung eines der vermummten Olympia-Attentäters von 72 abgebildet. Am 03.09. auf Seite 8 berichtet er vom Abbruch des Hungerstreiks von 3800 in Israel inhaftierten Palästinensern wegen mangelnden Interesses der (frontalen!) Weltöffentlichkeit. (Über das mangelnde Interesse wird also berichtet, über die Zustände in israelischen Gefängnissen nicht.) Unter dem Foto, das zwei Victory-Finger durch ein Gefängnisgitter zeigt, steht: „Sieger? Palästinensische Häftlinge haben ihren Hungerstreik beendet, offenbar ohne Zugeständnisse Israels.“ Es wird hier nicht nur suggeriert, dass diese Gefangenen Loser sind, sondern es handelt sich auch um einen Typus Palästinenser, so wie den vermummten Olympia-Typus und den Trauriger-Helden-Typus. Mal sehen, welche Bilder wir in der Zukunft zu sehen bekommen.

Ein erwähnenswert guter Beitrag war die „Außenansicht“ auf Seite 2, „Gerechtigkeit für die Opfer in Darfur“ von Lotte Leicht, Direktorin des Brüsseler Büros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie fordert darin, dass Deutschland auf die Etablierung eines internationalen Untersuchungsausschusses drängen soll. Schließlich ein Zitat von der Medienseite 19. Der Artikel von Klaus Ott trägt den Titel: „Kontrollierte Kontrolleure. Börsen-Berichterstattung: Der Staat will Standesregeln prüfen, der Presserat wehrt sich.“ Dort heißt es über den 1956 gegründeten Deutschen Presserat als Organ der Selbstkontrolle: „Die Medienschaffenden, so die Idee, sollten Auswüchse in ihren Reihen von sich aus verhindern oder zumindest korrigieren.“ Mein Kommentar zu diesem Thema ist, dass ich nicht glaube, dass der Deutsche Presserat dieser Aufgabe ausreichend nachkommt.


- 9/7/2004: Relativity of Terror? -

The article of the day September 7, 2004, is the comment by Rudolph Chimelli on page 4: "Always in the mirror of the own suffering. Despite the horror of Beslan the Islamic World is relative about the terror – and thereby excuses it." According to this article, pictures of horror in the Algerian and Iranian media would lead to a widespread knowledge of Russian cruelties in its sadistic details, more so than in the West. There is a report about the comparison of casualty accounts between Chechenian children and the children of Beslan, made by a Chechenian leader, and this would touch "a sensitive nerve" in the Middle East. The finish is about the Arab Peninsula: "The compassion with the Chechenians on the Arab Peninsula has made the support flow richly for the victims. No pious individual orders an accountant in order to know whether the money only is for the benefit of widows, orphans, and miserable people – or whether there also are weapons bought with it." Let's start with the title. It does not really fit the article. There was no report about the Middle East at all, only about a couple of countries. Moreover we find two quotes from Egypt which are denoted as typical and which say the opposite of what the title suggests. Then I would like to know from where Herr Chimelli knows that "no pious individual" from the Arab Peninsula is interested in the purpose of their donations.

Yet the most important thing here is the concept "to be relative about terror" (in German "Relativierung des Terrors", relativation of terror) as well as the alleged consequence that terror would be excused by that. With the concept "to be relative about terror" the discussion about terror is made a taboo. According to this argument one is not allowed to discuss the roots of terror within the general terror discussion, because one allegedly excuses terror with it. As if the wish to understand things was the same as to excuse things. When I think about the dead children of Beslan, then I quickly ask myself how such things can be avoided to happen in the future, no matter where. It got to stop. As a matter of logic I enter the question of the roots and causes. Here I do see the anger in Muslim societies as a factor, too, because indeed in some social circles it does lead to latent or manifest justifications of terror and this is in fact exploited by the extremist edges and it encourages them to a certain extend. Yet it is not enough for the situation analysis to demand this anger to go away. This would be comparable with the fate of Jack Nicholson in "One flew over the cuckoo's nest". In order to still his anger they took his brains out. The film suggests that this is not an adequate method for solving problems. Concerning Chechenia, Palestine, Israel, Iraq, the USA, Europe, the Sudan and other countries, the terror will cease as soon as the severe injustice ceases, this is so even according to the mainstream media. There is no alternative known to me.

Apart from that there was a book review by Alexander Kissler on page 18: "Killing terror. Stefan Zweig's forgotten revolution drama 'Adam Lux'". The core sentence is: "Shortly before the war Stefan Zweig was enthusiastic about his humanistic program in a similarly ecstatic way and with a similar lack of consequences like 150 years before Adam Lux was about the French Revolution. And like the title hero in Zweig's most passionate drama its author chose suicide, too." With this Herr Kissler is suggesting that an engaged humanism leads to suicide. It is as if one would judge Jesus to be a failure, because the world is bad. This is why I mentioned above that one should take a look at the people who are behind it. So if we compare the great writer and humanist Stefan Zweig with the nihilist SZ journalist Alexander Kissler, it becomes clearer what my point is. And this is also my legitimate reproach at the address of the SZ: you don't believe in anything!

A fuzziness of values occasionally can also be observed in Thorsten Schmitz. In the issue at hand on page 3 there is his article: "A minister for rebellion. He gathers like-minded people around him, because Uzi Landau has an aim: in Israel everything shall remain the same." It deals with a minister in the Israeli government whose creed is: "We must win the war." Thorsten Schmitz calls him the "Robin Hood of the settlers". This will surely have pleased Mister Landau. So will the photo on which the young minister can be seen, cool with sunglasses, together with a member of the US foreign department. In the subtext Landau is called "far right-wing" ("Rechtsaußen"). Thorsten Schmitz also ridicules Landau a little and thus has his fun, too. This article reveals a lot about the relation between Germans and Israelis. Never could Schmitz coquet with a German far right-wing individual in such a way, but with an Israeli one he can live this inclination publically.

This leads us to an examination of the images for Israelis and Palestinians in the repertoire of Herr Schmitz. So here we have a Robin Hood. Robin Hood in our culture belongs to the heroes. Images of Palestinians, on the other hand, look differently. For the time of this analysis there have so far been three examples in Schmitz's articles. The first one I do not have anymore, because on September 2 I threw away all the older issues of the SZ. I think it was on the first of September when Schmitz reported under the rubric "People" about a Palestinian singer: "Sad hero". Sad, because he reached "only" the second place in an Arab competition. I asked Thorsten Schmitz in an email whether he would not want to also write something about a happy Palestinian hero. On the next day there was this picture of the muffled-up Olympia perpetrator of 72, somewhat out of context, which I mentioned above. On September 3 on page 8 he reported about the call-off of the hunger-strike of 3800 Palestinians in Israeli prisons. The strike was called off because of the lack of interest in the (frontal!) world public. (This means that the lack of interest is reported about, but the conditions in Israeli prisons are not.) Underneath the photo, which shows two victory fingers through prison bars, it reads: "Winners? Palestinian prisoners have stopped their hunger-strike, apparently without concessions of Israel." Not only it is suggested here that those prisoners are losers, but we also meet a type of Palestinian here, like the muffled-up Olympia type and the sad hero type. We will see what kind of pictures we will get in the future.

A remarkably good article was the "View from the outside" on page 2, "Justice for the victims in Darfur" by Lotte Leicht, director of the Brussels office of the human rights organisation Human Rights Watch. In it she demands that Germany should urge on the establishment of an international investigation committee. Finally a quote from the media page 19. The article by Klaus Ott bears the title: "Controlled controllers. Stock-exchange news coverage: the state wants to examine the rules of profession, the Press Council stands up against this." There it reads about the German Press Council which was founded in 1956 as an instrument and voice of self-control: "The media people, this was the idea, were to prevent, or at least to correct, excesses within the own ranks by themselves." My comment on this issue is that I don't believe the German Press Council is fulfilling this task in a sufficient way.


- 08.09.04: Wir und die anderen -

Der erste Artikel, der mir in der SZ vom 08.09.2004 aufgefallen ist, ist der über die indische Schriftstellerin Arundhati Roy. „Von der Märchenprinzessin zur Teufelin“ sind die ersten Worte des Titels. Noch bevor ich den langen Artikel auf der Seite 3 las, dachte ich über diese Worte nach. Von der Märchenprinzessin zur Teufelin... Im Supermarkt hatte ich auf dem Titelblatt der Illustrierten Stern etwas sehr ähnliches gesehen, ein Foto von Herrn Hartz und dazu der Titel: „Vom Erlöser zum Buhmann“. Eine Kaskade von Erinnerungen kam über mich. 2002 hatte ich in dem 400-seitigen Online-Buch „Rock'n'Roll. Nachricht von Ozzy Balou“ die These ausgeführt, dass es in unseren (frontalen!) Öffentlichkeiten kaum mehr Stars, Helden, Persönlichkeiten gibt: Die Öffentlichkeit hat nach 1945 ihr Vertrauen in den Menschen zunehmend verloren. In der amerikanischen und britischen Gesellschaft kam der Wendepunkt 1977 mit Elvis' Tod und dem Beginn des Punk. Bereits in der vorigen Ausgabe der SZ sahen wir, wie sich über einen Verfechter des Humanismus, Stefan Zweig, lustig gemacht wurde und wie er als Versager dargestellt wurde. Es wurde deutlich, dass Jesus, würde er heute unter uns wandeln, in den deutschen Frontalmedien nicht die geringste Chance hätte. Schauen wir nun, was Stefan Klein über Arundhati Roy sagt.

Eine größtenteils positive Überraschung. Der vollständige Titel der langen Reportage lautet: „Von der Märchenprinzessin zur Teufelin: Der Rollenwechsel der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy. Ein Lachen lässt die Dämme brechen. Sie wettert und polemisiert, sie setzt sich für die Ärmsten ein – ihre Kritiker haben vielleicht nicht verstanden, dass sie eines nicht will: objektiv sein“. Dazu ein großes Foto mit einer triumphierenden Roy. Die Sache mit der Märchenprinzessin und der Teufelin stamme demnach von ihr selbst. Ich habe den Artikel sehr kritisch und sogar – wie gesehen – voreingenommen gelesen. Es sind durchaus einige Diskussionspunkte darin, besonders die Rolle und Perzeption von Emotionen bei Personen des öffentlichen Lebens, aber der Artikel ist nicht ideologisch. Er ist... gut. Natürlich, Frau Roy ist Inderin. Hätte sie ein solches politisches Engagement und ein solches Image als Deutsche, sähe das wohl anders aus. Man stelle sich das vor: eine Deutsche, die so etwas macht ... Ach so!! Also doch ein Alibi-Artikel.

Die SZ vom 08.09.2004 war recht voll mit Artikeln, die meine Aufmerksamkeit weckten. Besonders auf der Seite 2. Dort geht es hauptsächlich um das Atomprogramm im Iran. Stefan Kornelius und Thorsten Schmitz schreiben dort stimmungsvoll über (gegen?) Iran. Es wird aus der Sicht der USA und Israels berichtet, anders gesagt: Der amerikanische und der israelische Standpunkt wird weitergetragen, inklusive der Androhung von israelischen „Präventivschlägen“. Während aus den Randbemerkungen von Rudolph Chimelli hervorgeht, dass Iran offen und konstruktiv mit der Situation umzugehen scheint, verdächtigt die Gegenseite (also „wir“) und droht und beleidigt „unverhohlen“ (z.B. im Titel „Bomben als letztes Mittel. Israels Pläne etc.“ von Schmitz). Dazu sagt Artikel 11.1 der Menschenrechte: „Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Man beachte auch, dass die USA und Israel diejenigen sind, die Atomwaffen haben.

Auf derselben Seite unten schreibt der Politologe Wilfried Röhrich in der „Außenansicht“ über „Die Macht des Islam einschränken.“ Im Text geht es dann zwar darum, die Macht von Religionen insgesamt einzuschränken, aber der Islam wurde als Erklärungsobjekt für die Überschrift und das Fazit herausgepickt. Daraus zwei Sätze. Erstens: „Im Gegensatz zum christlichen Bewusstsein und zum Wertepluralismus der westlichen Kultur kommt dem Individuum im islamischen Selbstverständnis nur eine geringe Bedeutung zu.“ Und zweitens: „Um dem Islamismus (...) wirksam zu begegnen, müssen diese Länder alles daran setzen, der Politisierung des Islam entgegenzuwirken.“ Zum ersten Satz ist zu sagen, dass darin etwas konstruiert wird. „Wertepluralismus“ kann alles mögliche bedeuten. Dass das Individuum im Westen frei sei und im Osten nicht, halte ich in diesem Zusammenhang für zu allgemein. Die Geschlossenheit der frontalen Öffentlichkeit sehe ich zum Beispiel als Indiz für die Tatsache, dass das Individuum so frei im Westen auch nicht ist. Auch der zweite Satz ist abstrakt: „Politisierung des Islam“, was soll das bedeuten? Die Begrenzung auf Religiös-Kulturelles, sagt Röhrich. Hm. Aber Religionen sind doch auch gesellschaftlich und also immer politisch. Die Analyse von Herrn Röhrich greift also zu kurz. Welche Werte nennt Herr Röhrich? Autonomie des Einzelnen, technisch-industrielle Weltorientierung, Privateigentum, Herrschaftsbegrenzung, Toleranz und Rechtstaatlichkeit. Klingt ganz vernünftig. Der Artikel ist nicht schlecht, bis auf diese Ängste vor Kontrollverlust, die nicht hinreichend reflektiert und somit verschoben werden.

Kommen wir zur Seite 4. Im Kommentar „Der Terror, die Muslime und die Kirchen“ von mad geht es um einen Konflikt zwischen dem Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirchen Wolfgang Huber und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas. Der zentrale Satz geht an die Adresse der Muslime und lautet: „Solange die Verbände nicht konsequent islamistisches Gedankengut und islamistische Gedankenträger verbannen, klingen ihre Erklärungen pflichtschuldig.“ Niemand kann genau sagen, was hier von den Muslimen eigentlich verlangt oder erwartet wird, klar ist, dass die andere Seite (also „wir“) keinen Terror mehr will und dass die Muslime sich darum kümmern müssen und nicht etwa wir alle zusammen. Diese Ansicht kennen wir ja schon von der SZ. Sie vertieft lieber die Gräben als sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigen. Auf dieser Seite 4 ist auch eine Karikatur, wo Iran mit Atomsprengköpfen in Verbindung gebracht wird und Joschka Fischer sagt „Irre“, aber ich habe diese Karikatur nicht verstanden. Wahrscheinlich für Insider.

Auf Seite 7 ist ein Bericht über „Schikanen und Tabus. Russlands kritische Journalisten werden wieder gegängelt“ von Thomas Urban. Schwer zu sagen, was von solchen Beiträgen zu halten ist. Interessant für die Bilderbestimmung Palästina/Israel ist der Artikel „Hamas erklärt 'Krieg gegen jeden Zionisten'. Nach einem israelischen Luftangriff auf Gaza-Stadt mit 14 Toten drohen palästinensische Terrorgruppen mit blutigen Anschlägen“, von Thorsten Schmitz. Das Foto zeigt „Wut und Trauer: Sympathisanten der Terrorgruppe Hamas tragen in Gaza-Stadt einen getöteten Palästinenser zu Grabe“. Da haben wir den Typus des wütenden und trauernden Palästinensers. Nicht gerade eine Identifikations-Figur. Der Artikel selbst ist journalistisch schlecht, wie man bereits am Titel sieht. Die Israelis haben kürzlich einen der schwersten und gewalttätigsten Angriffe auf die Bevölkerung in Gaza durchgeführt. Das war aber keine Überschrift. Hamas erklärt Krieg, das ist die Überschrift. Jedes israelische Schulkind merkt, wie hier getrickst wird, damit die Guten die Guten bleiben und die Bösen die Bösen. Zur Hamas siehe den Essay „Hamas: Soziale Integration und bewaffneter Widerstand“ von Helga Baumgarten (in: inamo – Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten. Heft 38, Sommer 2004, S. 46-50, www.inamo.de).

Kommen wir zum Feuilleton. Da sind zwei interessante Beiträge auf der Seite 11. In „Kinder erschießen. Die tschetschenischen Rebellen zielen auf die zivile Gesellschaft“ von dem Schweizer Pädagogen Jürgen Oelkers heißt es gegen Ende: „(...) Wer Kinder erschießt, fliehende, von hinten, verübt mehr als einen brutalen Akt des Terrors, nämlich einen Anschlag auf die Gesellschaft und ihre Erziehung.“ Es ist nicht sehr schwer, so etwas zu schreiben. Natürlich hat Herr Oelkers recht, aber was sollen solche Artikel bringen? Im Ernst, wem nützt das etwas, wenn man die Terroristen verteufelt und wieder und wieder im Geiste verurteilt? Warum bekommen die Terroristen so viel mehr Aufmerksamkeit als die Opfer und die Menschenrechtler? Was macht die Terroristen wichtiger? Sind sie doch ein Spiegel für unsere frontale Öffentlichkeit? Warum bekommen sie so viel Aufmerksamkeit?

„Schule des Terrors, Kinder des Krieges. Nur die internationale Gemeinschaft kann den Kaukasus noch retten – wenn sie will: Ein Interview mit dem tschetschenischen Dichter Apti Bisultanow“ von Sonja Zekri steht auf derselben Seite. Das Beste darin ist die Bemerkung: Wenn das Volk leidet, darf der Dichter nicht abseits stehen. Zunächst war ich froh über dieses Interview und dachte, dass es gut sei. Herr Bisultanow erklärt als Insider die Lage in der Krisenregion. Aber dann sah ich die vierte Frage, bzw. Antwort, der SZ: „SZ: Tschetschenien hat durch den Mord an Schulkindern Sympathien verloren.“ (Worauf der Dichter sagt: Ich weiß). Ich frage mich, ob dieses Prinzip der Sippenhaft legitim ist. Es geht ja nicht um Sympathien, sondern um Sicherheit und Menschenrechte. Die SZ impliziert erstens, dass Menschenrechte nur für sympathische Menschen gelten und zweitens, dass eine (unter Besatzung stehende, nicht souveräne) ganze Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen wird. Gegen Ende nennt Herr Bisultanow den Lösungsweg (provisorische Verwaltung unter internationaler Schirmherrschaft, zivile Strukturen, neue Führung, Verhandlungen, Vertrag), woraufhin die SZ sagt: „Das klingt utopisch“ und Bisultanow zustimmt und resignierend meint, dass auch er eher glaubt, dass die Gewalt schlimmer wird. So hämmert die SZ ihren Lesern ein: Die Welt wird immer schlimmer. Sie lockt und verführt: Kommt mit uns in die Resignation. Es gibt keine Lösung, seht es ein etc.

Schließlich eine kleine dpa-Notiz auf Seite 14: „Terror und Kultur. Bereit sein für den Messeauftritt.“ Es geht um die anstehende Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengast Arabische Welt. Der ägyptische Dichter Hegasi sagt dort, die Araber müssen vorbereitet sein auf die Fragen der Deutschen, auch was den Terrorismus angehe. Die Literaturwissenschaftlerin Hoda Wasfi sprach sich gegen eine solche „Verteidigungsaktion“ aus und betonte den Aspekt der kulturellen Präsentation. Ob Araber Deutschen auch etwas vorzuwerfen haben, wurde überhaupt nicht thematisiert. Mir würden da auf Anhieb zwei drei substanzielle und auch naheliegende Sachen einfallen.


- 9/8/2004: We and the Others -

The first article that attracted my attention in the SZ from September 8, 2004 is the one about the Indian author Arundhati Roy. "From the fairytale princess to the she-devil" are the first words of the title. I pondered about these words before I read the long article on page 3. From the fairytale princess to the she-devil... In the supermarket I had seen something very similar, on the title of the magazine Stern, it was a photo of Herr Hartz with the title: "From savior to boo-man". A cascade of memories came over me. In 2002, in the 400 pages online book "Rock'n'Roll. Message from Ozzy Balou", I had elaborated on the thesis that in our (frontal!) publics there hardly are stars, heroes, personalities anymore: the public has increasingly lost its faith in the human being after 1945. In the American and the British societies the turning-point came in 1977 with Elvis's death and the beginning of punk. In the previous issue of the SZ we already saw how an advocate of humanism, Stefan Zweig, was ridiculed and presented as a failure. It became clear that Jesus, was he among us today, would not have the least chance in the German frontal public. Let's see now what Stefan Klein says about Arundhati Roy.

Mainly a positive surprise. The long report with the full title: "From the fairytale princess to the she-devil: the change of roles of the Indian writer Arundhati Roy. A laughter lets the dykes breach. She curses, swears and is polemic, she stands up for the poor – her critics might not have understood that there is something which she does not want: to be objective". With it a big photo of a triumphing Roy. According to the text the thing about the fairytale princess and the she-devil is her own description. I read the article very critically and even – see above – with prejudice. There are indeed some points in it worth discussion, especially the role and perception of emotions in persons of public life, but the article is not ideological. It is... good. Of course, Ms. Roy is Indian. Had she such a political engagement and such an image as a German, this would probably a different case. Imagine this: a German doing these things ... Oh I see!! So it is an alibi article.

The SZ from September 8, 2004, was quite full of articles which attracted my attention. Especially on page 2. It mainly deals with the atomic program in Iran. Stefan Kornelius and Thorsten Schmitz atmospherically write about (against?) Iran. The report is from the point-of-view of the USA and Israel, in other words: the American and Israeli view is being carried on, including the threat of Israeli "preventive strikes". While the marginal notes by Rudolph Chimelli indicate that Iran seems to be dealing openly and constructively with the situation, the counter side (meaning "us") is suspicious and threatens and insults "unconcealed" (e.g. in the title "Bombs as a final means. Israel's plans etc." by Schmitz). About this article 11.1 of the human rights says: "Everyone charged with a penal offence has the right to be presumed innocent until proved guilty according to law in a public trial at which he has had all the guarantees necessary for his defence." Also note that the USA and Israel are the ones with atomic weapons.

On the same page below the politologist Wilfried Röhrich in the "External views" writes about "Limiting the power of Islam." While the text is about limiting the power of religions in general Islam is singled out as an object of explanation in the title and in the conclusion. From it two sentences. Firstly: "Contrary to Christian consciousness and to the pluralism of values in the Western civilisation the individual has only little significance in the Islamic self-understanding." And secondly: "In order to effectively approach Islamism (...) those countries must do all they can to oppose the politisation of Islam." Concerning the first sentence there is to say that something is being constructed here. "Pluralism of values" can mean anything. I regard it as too general in this context to claim that the individual in the West is free and in the East not. For example, I see the exclusivity of the frontal public as being an indication for the fact the individual in the West is not so completely free. The second sentence is abstract, too: "politisation of Islam", what does that mean? The restriction to religious cultural things, says Röhrich. Hm. But religions also are social and thus always political. So the analysis of Herr Röhrich is too limited. Which values does Herr Röhrich name? Autonomy of the individual, technical industrial world orientation, private property, limitation of rule, tolerance and constitutional state order. Sounds quite reasonable. The article is not bad, except for those fears of losing control which are not sufficiently reflected and which thus are shifted.

So we come to page 4. The commentary "Terror, Muslims and the churches" by mad deals with a conflict between the chairman of the Protestant Churches in Germany, Wolfgang Huber, and the chairman of the Central Council of the Muslims in Germany, Nadeem Elyas. The central sentence is addressed to the Muslims and it reads: "As long as those organisations do not consequently ban Islamist thoughts and Islamist bearers of thoughts their explanations sound bound in duty." Nobody can exactly say what actually is demanded or expected from the Muslims here. Clear is that the other side (meaning "us") does not want any more terror and that the Muslims are to do something about it and not we all together, as one might have believed. This is an attitude we already know of the SZ. It rather likes to deepen the gaps than to concern itself with unpleasant issues. On this page 4 there also is a caricature where Iran is being brought into a connexion with atomic missiles and Joschka Fischer says "Crazy", but I did not understand this caricature. Probably for insiders.

On page 7 there is a report about "Vexations and taboos. Russias critical journalists again are led by the hand" by Thomas Urban. Hard to say what to make of such contributions. Interesting for the analysis of images about Palestine and Israel is the article "Hamas declares 'war against every Zionist'. After an Israeli air raid on Gaza City with 14 deads Palestinian terror groups now threaten with bloody assaults", by Thorsten Schmitz. The photo shows "anger and sadness: sympathizers of the terror group Hamas carry a killed Palestinian to the grave in Gaza City". There we have the type of the angry and sad Palestinian. Not exactly a role-model. The article itself is bad journalism as can be seen even in the title. The Israelis recently have carried out one of the most severe and most violent attacks on the population in Gaza. But this was not a headline. Hamas declares war, this is the headline. Every school child in Israel will notice that this is a trick so that the good remain the good and the bad remain the bad. Concerning Hamas see the German essay "Hamas: social integration and armed resistance" by Helga Baumgarten (in: inamo – Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten. Issue 38, Summer 2004, pp. 46-50, www.inamo.de).

Now for the feuilleton. There are two interesting contributions on page 11. In "Shooting children. The Chechenian rebels aim at the civil society" by the pedagogue Jürgen Oelkers it reads towards the end: "(...) Who shoots children, fleeing ones, from behind, committs more than a brutal act of terror, namely an assault on the society and its education." It is not very difficult to write something like that. Of course Herr Oelkers is right, but is the use of such articles? Honestly, who can benefit from demonizing the terrorists and from sentencing them over and over again in the mind? Why do the terrorists receive so much more attention than the victims and the advocates of the human rights? What makes the terrorists more important? Are they in the end indeed a mirror of our frontal public? Why do they get so much attention?

On the same page there is "School of terror, children of war. Only the international community can now save the Caucasus – if it wants: an interview with the Chechenian poet Apti Bisultanow" by Sonja Zekri. The best part of it is the note: when the people is suffering the poet must not stand offside. At first I had been happy about this interview and thought it was good. Mister Bisultanow explains the situation in the critical region as an insider. But then I saw the forth question (which rather is an answer than a question), of the SZ: "SZ: Chechenia has lost sympathies because of the murder of school children." (And the poet replies: I know). I wonder whether this principle of custody of kin is legitimate. This is not about sympathies, but about security and human rights. The SZ implicitly says firstly that human rights are only for sympathetic people, and secondly that a whole society (living under occupation, not souvereign) is called to account. Towards the end Mister Bisultanow explains the way of solution (temporary administration under international patronage, civil structures, new leadership, negotiations, contract), whereafter the SZ says: "This sounds utopian" and Bisultanow agrees and says resigningn that he also rather believes that the violence will increase. This is the way the SZ is hammering into the minds of its readers: the world is getting worse and worse. It lures and seduces: come with us into resignation. There is no solution, realize it etc.

Finally a short dpa press agency note on page 14: "Terror and culture. To be prepared for the peformance on the fair." It deals with the impending Frankfurt book-fair with the Arab World as the guest of honor. In it the Egyptian poet Hegasi says the Arabs must be prepared for the questions of the Germans, also about terrorism. Hoda Wasfi, scientist of literature, is against such an "act of defense" and emphasized the aspect of the cultural presentation. Whether Arabs also have a legitimate criticism towards Germans was not made an issue at all. I could easily think of two or three substantial and plausible items in this respect.


- 09.09.2004 -

Die heutige Ausgabe ist ruhiger als die vorigen. Aufgeräumter. Keine Feindbilder, keine extremen Schwankungen. Man hätte das bei der (schlechten) Schlagzeile nicht unbedingt vermutet: „Russland will Terroristen weltweit jagen.“ Auch der Israelbeitrag von Herrn Schmitz war von gewohnter Art. Es gibt aber nicht viel zu tun für mich. Hm.

Der beste Artikel des Tages ist Alexander Kisslers „Gnade vielfältiger Meinungen. Die Muslime sind in ihrer Position gegenüber dem Klonen gespalten“ im Feuilleton auf Seite 15. Ein progressiver, inhaltlicher Beitrag. Lehrreich, auch für mich. Auch gut war Gustav Seibt über den neuen Hitlerfilm und den öffentlichen Umgang mit der „unangenehmen Person“. Allerdings steht für mich der Aspekt der Wirkung Hitlers auf die Gesellschaft stärker im Vordergrund als der Umgang mit der Person. Die beste Nachricht des Tages war, dass der bekannte israelische Atomphysiker Mordechai Vanunu jetzt die palästinensische Staatsangehörigkeit beantragt hat.

Ich frage mich in letzter Zeit, ob man die Linie der SZ irgendwie benennen kann, aber mir fällt nichts ein. Es ist zu bunt durcheinander. Was an den USA kritisiert wird, wird an Israel nicht kritisiert. Es ist auch nicht genau klar, was an den USA kritisiert wird. Es ist eine Joschka-Fischer-Zeitung, ich glaube, das könnte man so sagen. Vielleicht fällt mir noch eine bessere Beschreibung ein mit der Zeit. Ich frage mich, ob die SZ das als Kompliment oder als Beleidigung oder indifferent auffasst. Ich frage mich, wie ich es selbst auffasse. Schwammig ... irgendwie unklar. Wir werden sehen.


- 9/9/2004 -

Today's issue is more calm than the ones before. More relaxed. No stereotype images of enemies, no extreme poles. One would not necessarily have guessed that in view of the (bad) headline: "Russia wants to chase terrorists worldwide." Also the Israel contribution by Herr Schmitz was of the usual kind. Yet there is little to do for me. Hm.

The best article of the day is Alexander Kissler's "Grace of diverse opinions. The Muslims are divided in their positions on cloning" in the feuilleton on page 15. A progressive, substantial contribution. Informative, also for me. Also good was Gustav Seibt on the new Hitler film and the public handling with the "unpleasant person". Whereas for me the aspect of Hitler's effect on the society is much more relevant than the question of how to deal with the person. The best news of the day was that the known Israeli nuclear scientist Mordechai Vanunu now applied for the Palestinian citizenship.

Lately I have been wondering whether the direction of the SZ can be named somehow, but I cannot think of anything matching. It is too colored and in confusion. Things which are criticized in the USA are not criticized in Israel. It is not even clear what exactly is criticized in the USA. It is a Joschka Fischer newspaper, I think one could say that. Maybe I can come up with a better description with time. I wonder whether the SZ takes this as a compliment or as an insult or indifferently. I wonder how I take it myself. Foggy ... somewhat unclear. We will see.


Kapitel 2

- 10.09.2004: Projektionsfläche Terror -

Der Vorteil einer Zeitung gegenüber einer Frau ist, dass die Zeitung nicht weglaufen kann. Sie erscheint immer wieder. Sie ist treu. Wobei es natürlich auch treue Frauen gibt. Der Nachteil hingegen... na gut, lassen wir das. Der SZ-Artikel des Tages 10.09.2004 steht auf Seite 13 und heißt: „Der unmögliche Tausch. Warum die Geiselnahme die wirksamste aller terroristischen Waffen ist“. Er ist von Burkhard Müller. Der zentrale Satz lautet: „Der Staat ist gegen terroristische Gewalt so hilflos wie ein Adliger früherer Zeiten gegen die Beleidigung seiner Ehre.“ Dies ist ein weiterer Feuilleton-Artikel der Art, die vom Terror ausgeht und über seine Struktur philosophiert. Hier geht es speziell um das Verhältnis zwischen Terror(isten) und dem Staat.

Wie wir oben schon mehrfach sahen, ist die Terroranalyse bei der SZ defektiv, es fehlt ihr etwas. Umso interessanter sind die Bilder, die im Zusammenhang mit Terror verwendet werden. Es gibt eine sehr gute und umfangreiche deutsche Habilitationsschrift, die sich mit der Metaphorik des Staates durch die Jahrhunderte beschäftigt. Ich las sie vor etwa 15 Jahren, es gibt dort den Staat als Person, als Maschine, als Bienenstock, als Schiff und anderes. Die Metapher „Der Staat ist ein Adliger“ mit der Ergänzung „Terror ist wie eine Beleidigung“ ist überaus aufschlussreich, weil sie zeigen kann, warum sich Gesellschaften bei Angst repressiv zeigen. Die tatsächliche Terror-Situation wird sublimiert, überführt in einen anderen Bereich, einen Bereich, in dem es nicht mehr um Geiselnahmen und Opfer am Ort geht, sondern um Beleidigungen. Der Staat fühlt sich vom Terror beleidigt. Auch die Zeitung, gewissermaßen durch ihre Verdienste für die Gesellschaft geadelt, fühlt sich wohl beleidigt. Es gibt nur wenige Beispiele, an denen so deutlich wird, dass es in unserer Gesellschaft ein ausgeprägtes Klassendenken gibt, welches durch Phänomene wie Terror aktiviert wird.

Das ist die eine Seite, sagt Herr Müller. Es gebe aber auch die Idee des Gesellschaftsvertrages. „Dieser besagt, der Staat sei die freiwillige Absprache seiner Bürger zum größtmöglichen Nutzen.“ In diesem Szenario ist der Aspekt der Klasse und der Bestrafung nicht betont, vielmehr ist es objektiver im Sinne von: näher an der Situation. Müller nennt die Aspekte „Güterabwägung“ und „Verhandlung“, die sich ergeben. Im Adligenszenario wird hingegen die „Staatsräson“ als Reaktion genannt. Dies sei der Konflikt des Staates, legt Müller nahe, „er muss heucheln“, um beide Szenarien zu berücksichtigen, denn beide seien relevant.

Kommen wir noch einmal zurück auf das Adligenszenario, welches Burkhard Müller näher steht, weil er viel mehr darüber schreibt. Ausführlich heißt es dort: „Der Staat ist gegen terroristische Gewalt so hilflos wie ein Adliger früherer Zeiten gegen die Beleidigung seiner Ehre; jeder Trottel durfte ihn in die Schranken fordern, er hing ab von den Zufallsanwandlungen der feindseligen Bosheit. Das war die Schwäche seiner Stärke. Auf Gewaltandrohung kann der Staat nur mit übermächtiger Gegengewalt reagieren, die diese Drohung schlechthin zermalmen soll. Ein Staat kann Geiselnehmern nicht nachgeben. Täte er es doch, so würde er gewissermaßen zur Privatperson; er hört auf, ein Staat zu sein.“ Liest man das Zitat genau, wird deutlich, dass Terror mit „Zufallsanwandlungen feindseliger Bosheit“ gleichgesetzt wird. Dies ist eben meine Vermutung, dass die frontale Öffentlichkeit, anstatt Frieden zu machen, auf der Suche nach „dem Bösen“ ist, das sich bei den „Nicht-Adligen“ verberge.

Die Metapher „Der Staat ist ein Adliger“ ist deshalb attraktiv, weil der Bürger die Möglichkeit hat, über seine Identifizierung mit dem Staat an diesem Adel Anteil zu haben, und sei es vermeintlich, nur in seinem Kopf. Die Argumentation ist allerdings paradox, denn in diesem Szenario handelt der Staat in der Tat wie eine emotionalisierte, meinetwegen adlige, Privatperson, also nicht souverän und erhaben wie ein guter Staat. Das Konkurrenz-Szenario hingegen, das des Gesellschaftsvertrages, ist deshalb nicht so attraktiv, weil es abstrakter ist. Ich glaube allerdings nicht, dass die Schlussfolgerung stimmt, dass also dem Terrorismus nachgegeben wird, wenn der Staat nicht „zermalmt“. In meiner Metaphorik ist der gute Staat konzeptionalisiert als eine aufgeklärte große Familie, die die Gesellschaft mündiger Bürger organisiert und mit ihr lebt. Sie betrachtet auch die Ränder der Gesellschaft mit Aufmerksamkeit und kennt keine Klassenunterschiede. Den Terror verhindert sie nicht, indem sie auf die Terroristen fokussiert und in ihnen das Böse sieht, sondern indem sie gesellschaftliche Spannungen im Ansatz erkennt und durch Dialoge (sowie durch Strafe bei Überschreitungen des Gesetzes) entschärft, sie dem Terror also den Boden entzieht.

Nach der Lektüre dieses Artikels war ich erst einmal enttäuscht. Hatten die wirklich nicht mehr drauf bei der Süddeutschen? Immerhin opferte ich hier kostbare Zeit und Aufmerksamkeit... Auf der Karikatur von Ironimus auf der Meinungsseite ist ein Putin zu sehen, der mit einer unförmigen Krake kämpft, die ihn umschlingt und die den Terror darstellt. Das passt zum Thema. Terror als unförmiges und unberechenbares Wesen. Wenn man es so sieht, verliert man die Skrupel vor Gewaltanwendungen gegen „den Terror“.

Was war noch? Für die Bilderbestimmung Nahost auf Seite 8: „Wenn der Wolf zum gejagten Lamm wird. Schon im dritten Sommer haben junge Israelis und Palästinenser in Deutschland 'Ferien vom Krieg' miteinander verbracht“ von Nina Berendonk. Auf dem Foto sieht man einen jungen Pal, der einer lächelnden Israelin ein Tattoo auf den Oberarm malt. Zwar kann man bei genauer Analyse des Artikels nachweisen, dass aus der Sicht Israels geschrieben wird, aber das ist ja auch kein Geheimnis. Der Artikel ist jedenfalls gut, er berichtet nicht aus der Sicht der israelischen Regierung, wie etwa die meisten Beiträge von Thorsten Schmitz. Am heutigen 10.09. wird mal wieder Arafat mit Ausweisung gedroht. Die israelische Regierung testet so, wie weit sie gehen kann. Immerhin gibt es innerhalb geltenden internationalen Rechts keine Möglichkeit einer solchen Ausweisung. Für die SZ ist das kaum ein Problem.

Das war es im Wesentlichen vom 10.09. Auf der Leserbriefseite sind drei Beiträge über Nahost, in denen die Mauer gerechtfertigt, Arafat ein Terrorist genannt und eine Lanze für den Zionismus gebrochen wird. Zwei andere Leserbriefe handeln von unterdrückten Völkern, die ihre Freiheit möchten und der Schuldfrage am Terrorismus, an der auch Schröder und Putin beteiligt seien. Es gab noch ein paar Sachen, z.B. die Frage nach Quoten in der Popmusik und eine Rezension über Brandauer als Nathan der Weise. Interessant auch die Reportage über Schwarzenegger.


Chapter 2

- 9/10/2004: Terror as a Field for Projections -

The advantage of a newspaper compared with a woman is that the newspaper cannot run away. It appears over and over again. It is faithful. Of course there also are faithful women. The disadvantage, however, is... ok, let's leave that. The SZ article of the day 9/10/2004 is on page 13 and it is called: "The impossible exchange. Why hostage-taking is the most effective of all terrorist weapons". It was written by Burkhard Müller. The central sentence is: "In view of terrorist violence the state is as helpless as an aristrocrate in former times was in view of insults against his honor." This is another feuilleton article of the kind which starts with terror and philosophizes about its structure. The focus here is on the relation between terror(ists) and the state.

As we saw above several times the terror analysis of the SZ is defective, it is lacking things. All the more interesting are the images which are used in the context of terror. There is a very good and extensive German inaugural dissertation that deals with the metaphors about the state through the ages. I read it about 15 years ago, for example the metaphor of the state as a person, as a machine, as a bee-hive, as a ship and other things. The metaphor "The state is an aristocrate" with the extension "terror is like an insult" is revealing, because it shows why societies become repressive when they are afraid. The factual terror situation is being sublimated, transported into a different domain, a domain which has nothing to do with hostage-takings and victims on the spot, but which is about insults. The state feels insulted by terror. The newspaper, too, seems to feel insulted, as it is ennobled for its merits in society, so to speak. There are only few examples which show so clearly that there is a distinct class thinking in our society which is activated through phenomena like terror.

This is one side, says Herr Müller. But there would also be the idea of the society contract ("Gesellschaftsvertrag"). "It says that the state is the voluntary agreement of its citizens for the greatest possible benefit." In this scenario the aspects of class and punishment is not highlighted, it is more objective in the sense of: closer to the situation. Müller mentions the aspects "valuation of goods" and "negotiations" which subsequently occur. In the aristrocrate scenario, on the other hand, the "Staatsraeson" is mentioned as a reaction, this is the supremacy of the state. This would be the conflict of the state, Müller alludes, "it must be a hypocrite" in order to consider both scenarios, for both would be relevant.

Let's come back to the aristrocrate scenario one more time, the one which Burkhard Müller is closer to, because he writes much more about it. In detail the passage reads: "In view of terrorist violence the state is as helpless as an aristrocrate in former times was in view of insults against his honor; every idiot was allowed to force him into the limits, he was dependant on the accidental impulse of hostile evil. This was the weakness of his power. On the threat of violence the state can only react with overwhelming counter-power which is to veritably bruise this threat. A state cannot give in to hostage-takers. If it did it would become a private person, as it were; it ceases being a state." When you read this quote thoroughly it becomes clear that terror is equalled with "the accidental impulse of hostile evil". And this is exactly what I am suspecting, namely that – instead of making peace – the frontal public is searching for "evil" which it sees hidden in some "non-aristocrats".

Reason for the attractiveness of the metaphor "the state is an aristocrate" is that is gives the citizen the opportunity to participate in this nobility via his identification with the state, and be it supposedly, only in his head. The argumentation is paradoxical, however, because in this scenario the state indeed acts like an emotionalized – I don't mind if aristocratic – private person, meaning not souvereign and not noble like a good state. The competing scenario, on the other hand, the one of the society contract, is not as attractive, because it is more abstract. But I don't believe that the conclusion is correct, i.e. that state gives in to terrorism if the state does not "bruise". In my set of metaphors the good state is conceptualized as an educated big family that organizes a society of responsible citizens and lives with it. It also considers the edges of society with attention and does not know any differences of class. It does not prevent terror by focussing on the terrorists and by seeing evil in them, but by realizing social tensions in the outset and by solving them through dialogues (as well as through punishments, when the law is violated), and thus by cutting the ground of terror.

After having read this article my first reaction was disappointment. Was this really all the Sueddeutsche had? I mean, I was sacrificing my precious time and attention... On the caricature by Ironimus on the opinion page one can see Putin fighting with a shapeless octopus which is embracing him with its tantacles and which is meant to denote terror. This matches the subject at hand. Terror as a shapeless and uncalculable being. When you see it this way you lose your scruples about applying violence against "the terror".

What else? For the collection of images concerning the Middle East on page 8: "When the wolf becomes the chased lamb. For the third summer in sequence young Israelis and Palestinians have spent 'vacation from the war' in Germany together" by Nina Berendonk. On the photo there is a young Pal who paints a tattoo onto the upper arm of a smiling Israeli girl. It is true that one, in a deeper analysis, can find indications that the text is written from an Israeli viewpoint, but this is not a secret, anyway. The article is good, at any rate, it does not reflect the viewpoint of the Israeli government, like most of the articles of Thorsten Schmitz. Today, on September 10, Arafat again is threatened with expulsion. This is the way the Israeli government tests how far it can go. For within valid international law there is no possibility of such an expulsion. For the SZ this hardly poses a problem.

This was basically it, September 10. On the readers' mails page there are three contributions on the Middle East in which the wall is justified, Arafat is called a terrorist and Zionism is stood up for. Two other readers' mails deal with oppressed peoples who want their liberty and the question of guilt of terrorism which would also concern Schröder and Putin. There were other things, e.g. the question of quotas in German pop music and a review about Brandauer as Nathan the Wise. Interesting also the report about Schwarzenegger.


- 11./12.09.2004: Leviathan -

Heute ist der dritte Jahrestag des Massakers vom Elften September. In der Wochenendausgabe der SZ ist im Feuilleton wieder ein Terrorartikel, wieder geht es um den Staat. „Der Tod des Leviathan. Die Lehre des 'Monsters von Malmesbury': Wenn der Staat das Leben seiner Bürger nicht mehr gewährleisten kann, ist es dahin“ von Volker Breidecker. Die Argumentation geht so: Seit der islamistische Terror da ist, ist Thomas Hobbes' (1588-1679) Vorstellung (=Szenario) vom absoluten staatlichen Willen wieder aktuell. Ich stellte ja bereits fest, dass sich die SZ in die böse Vergangenheit trollt, wenn ihr alles zu viel wird, aber dass sie so weit in die Vergangenheit zurückgeht, ist doch etwas überraschend. Leviathan ist ursprünglich ein biblisches Ungeheuer, der Philosoph Hobbes meint damit den Staat. Er war der Ansicht, dass ein absolutistischer Staat die einzige Möglichkeit sei, um dem „Krieg aller gegen alle“ zu entgehen, freilich nicht ohne dass Kriege zwischen Staaten Normalität bleiben. Diese vorindustrielle Philosophie wird nun von der SZ zur Terrorbekämpfung bemüht. Dem „globalen Terrorismus des neuen Jahrhunderts“ wird vorgeworfen, er habe das Prinzip der menschlichen Selbsterhaltung verlassen und könne damit nicht mehr wirksam bekämpft werden durch das „Gleichgewicht des Schreckens“, der Philosophie des vorigen Jahrhunderts. Heute gebe es „Selbstmordarmeen“. Diese Kritik am Terrorismus wird dann ausgeweitet auf eine allgemeine Religionskritik, da in der Religion „selbst der gewaltsame Tod“ nicht das größte Übel sei.

Verlassen wir die Mottenkiste wieder und kommen wir zurück zur heutigen Zeit. Der Krieg zwischen Staaten wird bei der SZ offenbar als Normalität angesehen. Das ist ein Problem. Hier wird gerechtfertigt, dass der Staat ein Monster ist, weil er einen Feind hat, der auch ein Monster ist. Viele Monsterbilder. Wie im Fernsehen. Hm.

Auf Seite 13 ist ein langer Artikel von Holger Liebs über Fotos und Collagen von Orten des Terrors, die gerade ausgestellt werden. Man kann aber kaum eine Botschaft darin erkennen, außer dass „Bilder lügen“. Der beste Beitrag des Tages ist der Leserbrief von Sabine Matthes darüber, dass der Weg zum Frieden in Nahost darin bestehe, dass Israel, ähnlich wie zuvor Südafrika, die Herrschaft des Rechts anerkennt. Über den israelischen Anthropologen Uri Davis schreibt Sabine: „Im Gegensatz zur amerikanischen Demokratie, so argumentiert er, unterscheidet Israel vier Formen von Staatsangehörigkeit, die auf rassischer Diskriminierung beruhen. So steht den inzwischen, laut Angaben des UN-Hilfswerkes für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen gemäß Völkerrecht, UN-Teilungsresolution 181 und UN-Resolution 194 ein Recht auf israelische Staatsangehörigkeit zu, das Israel aber verweigert, weil es sonst kein mehrheitlich jüdischer Staat mehr wäre.“ Sechs weitere Leserbriefe befassen sich mit diesem Thema, welches sich auf einen Artikel zum Gutachten des internationalen Gerichtshofs über die israelische Mauer bezieht. Ich kann mich dunkel daran erinnern, ist schon eine ziemliche Weile her. Beim Lesen dieser durchweg guten Beiträge hatte ich das Gefühl, durch ein Fenster ins Freie zu schauen.

Ansonsten geht es in der vom Wochenende 11./12.09.2004 darum, dass „die Menschen“ fortwährend jammern würden und über ihrer Jammerei nicht erkennen können, wie krank das ganze System sei (Seite 3). Nicht leicht zu sagen, wie derartige Texte einzuschätzen sind. Der Zulauf zu rechtsextremen Parteien ist Thema auf Seite 5. Auch um Pisa geht es, auf Seite 2. Dazu sage ich immer: Wir haben Versailles überlebt, da werden wir auch Pisa überleben.


- 9/11-12/2004: Leviathan -

Today is the third anniversary of the massaker of September 11. In the weekend edition of the SZ there is another terror article in the feuilleton, again it is about the state. "The death of Leviathan. The lore of the 'Malmesbury monster': when the state can no longer guarantee the lives of its citizens it is gone" by Volker Breidecker. The argumentation is like this: since the beginnings of Islamist terror Thomas Hobbes' (1588-1679) conception (=scenario) of the absolute state is topical again. I did mention before that the SZ sometimes toddles off into the evil past when it all gets too much, but that it goes back so far into the past indeed is a bit of a surprise. Leviathan originally is a Biblical monster, the philosopher Hobbes means the state with it. He was of the opinion that an absolutist state is the only way to escape the "war of everybody against everybody", yet not without the normalty of wars between states. This pre-industrial philosophy now is taken by the SZ for the fight against terror. "Global terrorism of the new century" is blamed for having abandoned the principle of human self-preservation. Therefore it could not effectively be fought with the "balance of horror", the philosophy of the previous century. Today we would find "suicide armies". This criticism of terrorism then expands to a general critique of religion, as in religion "even violent death" would not be the biggest evil.

Let us now leave this moth box and return to the current time. Apparantly, war between states is regarded as a normalty in the SZ. This is a problem. It is a justification for the state to become a monster which sees itself having an enemy who also is a monster. A lot of monster images. Like on TV. Hm.

On page 13 there is a long article by Holger Liebs about photos and collages of places of terror. Yet there hardly is a message to be discovered in it, unless that "pictures lie". The best contribution of the day is the reader's mail by Sabine Matthes on that the path towards peace in the Middle East is that Israel, similar to South Africa before, acknowledges the rule of law. About the anthropologist Uri Davis Sabine writes: "Contrary to American democracy, this is how he argues, Israel distinguishes between four kinds of citizenship which are rooted in racist discrimination. Thus the meanwhile four million Palestinian refugees (according to data of the UN support organisation for refugees from Palestine UNRWA) have a right to get the Israeli citizenship (according to international law, UN partition resolution 181 and UN resolution 194) which is denied by Israel, because otherwise it would not be a predominantly Jewish state anymore." Six further readers' mails deal with this subject which is related to an article about the judgement of the international court on the Israeli wall. I vaguely remember it, it was quite some time ago. While reading these exceptionlessly good contributions I had the feeling of peeping through a window into a free world outside.

Apart from that, the weekend edition from 9/11-12/2004 was about "the humans'" permanent complaints which leads to their incapability of realizing how sick the whole system is (page 3). It is not easy to assess the value of such texts. The success of right-wing extremist parties is the subject of page 5. On page 2 the Pisa test is mentioned, this comparison of educational systems in different countries in which Germany got very bad marks. My comment on this is: we survived Versailles, so we will survive Pisa, too.


- 13.09.2004: „Augen auf, Augen zu“ -

Schwer zu sagen, was von der heutigen Ausgabe, der vom 13.09.2004, zu halten ist. Thema des Tages auf Seite 2 ist, dass die demokratischen Parteien entdecken, wie gefährlich die Wählerflucht nach rechts werden könnte. Heribert Prantl weist darauf hin, dass der „Kampf gegen Rechtsextremismus“ keine Saisonarbeit sei. In diesem Artikel („Augen auf, Augen zu“) gibt es eine interessante Metapher. Herr Prantl vergleicht nämlich Rechtsradikalismus mit Naturereignissen und schreibt mit Verweis auf geheimnisvolle „Beobachter der politischen Szene in Deutschland“: „Sie verweisen darauf, dass rechtsradikale Parteien die Bundesrepublik durchziehen wie Gewitter: Sie ziehen auf, donnern, ziehen wieder ab.“ Wie wir wissen, kann man mit Naturphänomenen wie Gewittern nicht diskutieren, sie entziehen sich dem Diskurs. Der von Herrn Prantl geforderte „Kampf gegen Rechtsextremismus“ ist strukturell vergleichbar mit dem Kampf gegen „den Terrorismus“: Man geht letztlich von einem entmenschlichten Phänomen als Gegner aus. Die NPD wird in einem anderen Artikel auf derselben Seite eine „Zeitbombe“ genannt.

Mit Volkszorn geht es weiter auf der Seite 3, und auf der Meinungsseite 4 kommentiert mad den „Jesus-Tag“ in Berlin: „Wenn es um den Einfluss christlicher Werte geht, lassen die Veranstalter offen, welche gemeint sind – sonst hätte der Jesus-Tag schnell eine heftige Fundamentalismus-Debatte gehabt. (...) So wenig alle Fundis sind, die sich in Berlin versammelt hatten: Hinter dem Jesus-Tag steht ein klares Kirchen- und Gesellschaftskonzept, in scharfem Gegensatz zu Liberalismus und Pluralismus.“ Der Kommentator schließt mit der Bemerkung, dass die etablierten Kirchen „klar sagen müssen, wo die Grenzen liegen zwischen ihnen und den fundamentalistischen Teilen der Charismatiker.“ Eine heftige Fundamentalismus-Debatte kommt also nicht in Frage. Worin ein so scharfer Kontrast zum „Liberalismus und Pluralismus“ besteht, wird kaum gesagt. Die Ablehnung der Evolutionslehre wird erwähnt, außerdem sei das Treffen „enorm politisch“ gewesen. Hier wird offensichtlich, warum Jesus bei den frontalen Medien keine Chance hat: Er ist zu politisch! So politisch gar, dass über bestimmte Themen erst gar nicht diskutiert wird. Wovor haben die Angst bei der SZ, dass sie sogar ihren eigenen Liberalismus und Pluralismus zurückstellen? Muss man vor Leuten Angst haben, die die Evolutionslehre ablehnen? Warum reicht es nicht, diese Ansicht zu belächeln? Die Evolutionslehre abzulehnen ist so ähnlich wie die Relativitätstheorie abzulehnen oder Gesetze der Schwerkraft. Man kann es tun, jedoch bringt es einen nicht viel weiter. Die zentrale echte Frage in diesem Zusammenhang ist die nach der Kontextualität von Offenbarungsschriften, also die Frage danach, inwiefern diese Texte im historischen Kontext gesehen werden und gesehen werden müssen. Diese naheliegende und zudem harmlose Problematik wurde in der SZ nicht einmal angeschnitten.

Auf derselben Seite 2 ist ein Blick in die Presse. Aus Le Monde wird unter anderem zitiert: „Kampf gegen Terrorismus heißt in erster Linie, ihm die Legitimation zu nehmen, also sich um die Beseitigung der Probleme zu kümmern, die die Terroristen ausbeuten.“ Aus der Neuen Zürcher Zeitung wird der Islamwissenschaftler Navid Kermani zitiert: „Wer die Dialektik der Eskalation in Frage stellt und auf Ursachen der Gewalt hinweist, wird zum Komplizen des Terrors erklärt, wer von politischen Verhandlungen, gar von friedlichen Lösungen spricht, zum naiven Tropf (...) Man muss nicht mit Terroristen verhandeln, aber man sollte auch nicht mit Verhandlungen warten, solange es Terroristen gibt.“ Herr Kermani kritisiert hier vor allem die Wochenzeitung „Die Zeit“, es wurde kein Bezug auf die SZ genommen. Ich glaube, die SZ merkt gar nicht, dass es sie gibt...

Zur Bilderbestimmung Nahost auf Seite 6 der AP/dpa-Artikel: „Scharon warnt vor Bürgerkrieg in Israel“. Auf dem Foto sieht man „Siedler protestieren im Juli mit einer Menschenkette gegen die Regierung“. Im Vordergrund ein sympathisch aussehender bärtiger und mit Kipa versehener Siedler, lachend, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, in einem strahlend weißen Hemd. In der Mitte des Bildes die israelische Flagge. Die Menschen halten sich an den Händen. Ein Bild des Friedens, könnte man meinen. Wer das Foto sieht, bekommt zunächst einen positiven Eindruck.

Im Feuilleton dann der Artikel „Die Zukunft von einst. Zwischen Hartz und Hitler: Wie sich die Demokratie wandelt“ von Harald Welzer. Der Autor beklagt dort mangelnde Utopien, ohne selbst welche anzubieten. Vielleicht ein 68er. Er redet davon, dass wir in einen neuen Hitlerkult hineingeredet werden und beteiligt sich gleichzeitig an dieser Mode. Es ist diese Art der Self-Fulfilling Prophecy, für die die Medien oft keinen Blick zu haben scheinen. Sie denken, dass sie nur informieren, aber natürlich geben sie auch Verhaltensweisen vor. Zwei Seiten weiter sehen wir dann ein ästhetisches, großes Farbbild von Adolf Hitler, Kragen, Schnäuzer, Führermütze, ganz oben auf der Seite, verkörpert von dem Schauspieler Bruno Ganz. Darunter ein Interview mit dem Schauspieler mit Allerweltsfragen. Solche Abbildungen kannte ich bislang nur vom Spiegel. Die Filmemacher haben dieses blöde Gesicht leider auch auf das Begleitbuch des Films gemacht, wie ich vor ein paar Tagen im Bahnhofsbuchhandel an der Kasse bemerkte. Das ist schon Werbung für Hitler, das kann man nicht anders sagen.

Auf der 16 schließlich ein weiterer Beitrag aus der Serie: „Was der Staat uns vorschreiben darf. Wolfgang Kersting und Horst Dreier erläutern Kants kluge Trennung von Moral und Recht“ von Michael Stolleis. Es ist eine Buchbesprechung. Natürlich hat Kant nicht zwischen Moral und Recht getrennt, wie im Untertitel suggeriert wird. Es geht in diesem Artikel vielmehr darum, dass nach Kant die Exekutive des Rechts ohne erneuten Rückgriff auf die Moral funktionieren soll, während die Begründung des Rechts auf der Moral beruht.


- 9/13/2004: "Eyes Shut, Eyes Open" -

Hard to say what to make of today's issue, the one from 9/13/2004. Topic of the day on page 2 is that the democratic parties are discovering how dangerous the escape of the voters towards the right-wing could become. Heribert Prantl notes that the "struggle against right-wing extremism" is not a seasonal work. In this article ("Eyes shut, eyes open") there is an interesting metaphor. Herr Prantl compares right-wing extremism with natural phenomena and writes with reference to mysterious "observers of the political scene in Germany": "They note that right-wing extremist parties would traverse the Federal Republic like thunderstorms: they draw on, roar, and leave again." As we know one cannot lead a discussion with natural phenomena like thunderstorms, they are beyond the discourse. The "struggle against right-wing extremism", which Herr Prantl is demanding, in its structure is comparable with the struggle against "terrorism": in the end the opponent is conceptualized as a dehumanized phenomenon. The right-wing party NPD in another article on the same page is called a "time bomb".

On it goes with the anger of the masses on page 3, and on the opinion page 4 mad comments on the "Jesus Day" in Berlin: "When it comes down to the influence of Christian values the organizers leave open which ones are concerned – otherwise the Jesus Day would quickly have had a vehement fundamentalism debate. (...) As little as it is true that all of those who had gathered in Berlin are fundis: behind the Jesus Day stands a clear church and society concept in sharp contrast to liberalism and pluralism." The commentator closes with the remark that the established churches "must clearly say where the borderlines are between them and the fundamentalist parts of the Charismatics." Thus a vehement fundamentalism debate is out of the question. It is hardly mentioned why there is such a sharp contrast to "liberalism and pluralism". Mentioned is the denial of the evolutionary laws, and besides the gathering would have been "enormously political". Here it becomes apparent why Jesus has no chance in the frontal media: he is too political! So political even that certain subject matters are not even part of the discussion. What are they afraid of at the SZ that they devalue their own liberalism and pluralism? Is it necessary to be afraid of people who deny the laws of evolution? Why is not not enough to smile about this view? To deny the laws of evolution is a bit like denying the theory of relativity or the law of gravity. It is possible to do it, but it is not a very successful enterprise. The central genuine question in this context is the one of the contextuality of revelational scriptures, that is the question to which extend these texts are and have to be seen in their historical contexts. This obvious and rather harmless issue was not even alluded to in the SZ.

On the same page 2 there is a view into the press. From Le Monde there is a quote: "Struggle against terrorism in the first place means to take away its legitimization and thus to care for the removal of the problems which are exploited by the terrorists." From the Neue Zuercher Zeitung there is a quote of the Islamic Studies academic Navid Kermani: "Who questions the dialectics of escalation and points to the roots of violence is declared an accomplice of terror, who talks about political negotiations, even about peaceful solutions, is declared a naive simpleton (...) One does not have to negotiate with terrorists, but one should also not wait with negotiations as long as there are terrorists." Herr Kermani here foremostly criticizes the weekly newspaper "Die Zeit", there was no reference to the SZ. I think the SZ does not realize that it exists...

Concerning the Middle East image collection there is an AP/dpa article on page 6: "Sharon warns about civil war in Israel". On the photo one can see "settlers protesting against the government in July with a human chain". In the foreground a sympathetic looking bearded settler with a kipa, laughing, with a small child on his arm, in a shining white shirt. In the center of the picture the Israeli flag. People taking each other by the hand. A picture of peace, one could assume. Who sees the photo will get a positive first impression.

Then in the feuilleton the article "The future of former times. Between Hartz and Hitler: how democracy changes" by Harald Welzer. The author complains about lacking utopias without offering utopias himself. Maybe he is from the 68 movement. He talks about our being talked into a new Hitler cult and at the same time participates in this fashion. It is this kind of self-fulfilling prophecy for which the media often does not seem to have an eye. They think they only inform, but of course they also are role-models with their behavior. Two pages ahead we see an esthetical, big colored photo of Adolf Hitler, collar, mustache, Fuehrer's cap, on the very top of the page, impersonated by the actor Bruno Ganz. Underneath an interview with routine questions. So far I had known such illustrations only from the "Spiegel". Unfortunately, the film-makers also put this stupid face onto the book of the film, as I noticed a couple of days ago on the desk of the newspaper shop in the station. This indeed is advertising Hitler, how else should one call it?

Finally on page 16 another contribution from the series: "What the state may prescribe to us. Wolfgang Kersting and Horst Dreier explain Kant's wise separation of morals and law" by Michael Stolleis. It is a book review. Of course Kant did not separate between morals and law as is suggested in the subtitle. Rather, the article is about the theses of Kant that the executive part of the law is to function without additional reference to morals while the foundation of the law is rooted in morals.


- 14.09.2004: Die German Angst -

Es gibt Hoffnung. Evelyn Roll schreibt auf Seite 3 am 14.09.2004 über den Patienten Deutschland. Es ist der zweite Teil einer Trilogie, die am Freitag ihren Abschluss finden soll. Hier der volle Titel: „'Patient Deutschland (II) – die Diagnose der Psychologen: 'Alles, was seit dem Krieg passiert ist, war nur Verdrängung.' Eine Reise zum Mandelkern der Angst. Mutlosigkeit, Selbsthass, Panikattacken – das Land scheint das Opfer seiner vergessenen, aber nie wirklich betrauerten Geschichte zu sein.“ Das ist der beste Artikel, den ich seit der Französischen Revolution in der SZ gelesen habe. Rücken wir zunächst den Titel zurecht, damit wir vor lauter Freude nicht auf das falsche Gleis geraten. Deutschland hat seine Geschichte vergessen und ist unfähig zu trauern UND FOLGLICH sich grundsätzlich zu verbessern! Vergessen wir mal sofort die Sache mit dem Opfer!! Nun ein progressives Zitat: „Wenn ein Mensch ein furchtbares Verbrechen begangen hat und weiter leben will, lautet die Frage: Wohin mit dem Bösen? Im krassen Fall spaltet er dann das Böse ab. Und so war es dann ja auch mit Deutschland. Die Abspaltung in Ost und West. Die Bösen, das waren jeweils die anderen. Alles, was seit dem Krieg passiert ist (...) war nur Verdrängung.“ Die 68er hätten nur die Symptome bekämpft. „German Angst“ übrigens ist eine Wort aus dem ersten Teil. Ein gutes Wort. Allerdings ist es nichts spezifisch Deutsches. Das gibt es überall. Nur dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte ein besonderes Verhältnis zur Angst hat.

Endlich kann man die Süddeutsche Zeitung ernst nehmen. Al-hamdu lil-lah! (Gott sei Dank). Auf den dritten Teil „In der Rehabilitation“ darf man gespannt sein. Auf Seite 4 drei interessante Artikel: Ein Kommentar von rabe, der den Verfassungsschutz in Sachsen wegen seines Schweigens über die NPD kritisiert („Was nützt es, wenn der Verfassungsschutz die braunen Kameraden schön observiert, sein Wissen aber nicht weitergibt?“) dbr schreibt über Putin, er spreche mit gespaltener Zunge. Wohl wahr! Thorsten Schmitz berichtet über „Das Schweigen der Linken. Israels Siedler trumpfen gefährlich auf, doch die stille Mehrheit im Land wünscht den Abzug aus Gaza“. Dieser Artikel ist nicht aus Sicht der israelischen Regierung geschrieben. Auf Seite 8 ist ein weiterer Beitrag von Schmitz, über Netanjahu. Auf Seite 9 wieder das Atomprogramm des Iran. Europa warnt. Angesichts Europas Schweigen über das reale Israel kann man das nicht wirklich ernst nehmen. Noch weniger Herrn Schilys Aussagen darüber, dass die israelische Mauer in Ordnung sei. Er diskreditiert sich. Die FAZ schreibt darüber, die SZ nicht.

In der „Außenansicht“ ein Artikel von Daniel Benjamin, der in der Clintonzeit im National Security Council gearbeitet hat. Er spricht sich gegen den Irakkrieg aus und kritisiert den Krieg gegen den Terror, ist aber nicht prinzipiell dagegen. Er sieht ein Umfeld „zunehmenden Hasses gegen die USA“ in den arabischen Ländern und sagt, man hätte diese Länder, die „Brutkästen des Terrors“ sind, stattdessen durch Reformen (von außen!?) „transformieren“ müssen. Der Titel dieses nicht besonders wichtigen Artikels ist „Der Terror wird noch schlagkräftiger“. Im Feuilleton steht etwas über einen Historikertag in Kiel. Ich wusste gar nicht, dass es hier in Kiel Historiker gibt. Schön! Manchmal denkt man ja fast, man lebe in einer geschichtslosen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der Geschichte zu einem Code geworden, eingefroren ist. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Gruß in die SZ-Redaktion!


- 9/14/2004: The German Angst -

There is hope. Evelyn Roll writes on 9/14/2004 on page 3 about the patient Germany. It is the second part of a trilogy which is to be completed on Friday. Here is the full title: "'Patient Germany (II) – the diagnosis of the psychologists: "Everything that has happened since the war was nothing but psychological shifts.' A journey to the almond core of fear. Couragelessness, self-hatred, panic attacks – the country seems to be the victim of its forgotten, but never really mourned history." This is the best article I have read in the SZ since the French Revolution. Let's just adjust the title first so we don't get on a wrong track for all that joy. Germany has forgotten its history and is incapable of mourning AND THUS of fundamentally improving! Let's immediately forget this thing about the victim!! Now for a progressive quote: "When an individual has committed a terrible crime and wants to live on the question is: where to put the evil? In crass cases he subsequently splits off the evil. And this is how it went with Germany. The splitting off into East and West. The evil ones were the respective others. Everything that has happened since the war (...) was nothing but psychological shifts." According to this the 68ers only fought the symptomes. "German Angst", by the way, is a word out of the previous part. A good word. And yet it is nothing specifically German. You can find it everywhere. Only that Germany because of its past has a special relation to fear.

At last one can take the Sueddeutsche Zeitung seriously. Al-hamdu lil-lah! (Thank God). I am looking forward to reading the third part which is called "In the rehabilitation". On page 4 we find three interesting articles: a commentary by rabe criticizing the constitution intelligence service (Verfassungsschutz) in Saxony about the NPD ("What use is it if the verfassungsschutz nicely observes the brown comrades without passing its knowledge on?") dbr writes about Putin that he would speak with a split tongue. How true! Thorsten Schmitz reports about "The silence of the left-wing. Israel's settlers dangerously trump, but the silent majority in the country wishes the withdrawal from Gaza". This article is not written from the viewpoint of the Israeli government. On page 8 there is another article by Schmitz, about Netanjahu. On page 9 again the nuclear program of Iran. Europe is warning. In view of Europe's silence about the real Israel this cannot really be taken seriously. Even less can be said about the minister of the interior, Herr Schily's statements about the Israeli wall being ok. He discredits himself. The Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) writes about it, the SZ doesn't.

In the "View from the outside" an article by Daniel Benjamin who had been working in the National Security Council during the Clinton time. He speaks against the war on Iraq and criticizes the war against terror without being principally against it. He sees surroundings of "increasing hatred against the USA" in the Arab countries and says one would instead have had to "transform" those countries, which are called "incubators of terror", with reforms (from the outside!?). The title of this not especially material article is "The terror gets even more effective". In the feuilleton then we find something about a historians' day in Kiel. I didn't even know that we have historians here in Kiel. Cool. For sometimes one is almost inclined to think that we live in a history-less society. A society in which history has become a code, frozen. But there are also counter-examples. Regards to the SZ editors!


- 15.09.2004: Gott und Götter -

Eine gute Ausgabe. Der Artikel des Tages steht im Feuilleton auf Seite 14 und heißt: „Alle Götter sind eins! Das Unbehagen in der Religion“. Er stammt von Professor Jan Assmann, einem Ägyptologen aus Heidelberg. Ein ausgesprochen anregender Artikel, sogar ein Dialog. Herr Assmann stellt die These auf, dass der weltverändernden Idee des Monotheismus ein ausschließender Wahrheitsbegriff zu Grunde liegt, er sich also wesentlich durch Abgrenzung definiert. Kein Gott außer Gott! bedeute demnach in den drei monotheistischen Religionen den Ausschluss alternativer Glaubenssysteme: „Allen drei Religionen ist nun einmal ein starker Begriff des Anderen gemeinsam, den sie, auf jeweils verschiedene Weise, verfolgend, umwerbend, missionierend, unterwerfen oder einfach nur ausschließend als goyim, gentiles, pagani, Ungläubige, Häretiker von sich abgrenzen.“ Es gehe beim Monotheismus um die Abgrenzung, nicht um die Eins, sagt Professor Assmann, und daher sei er exklusiv. Er spricht als reflektierender Historiker und Autor des Buches „Moses der Ägypter“ vom Prinzip der Übersetzbarkeit von Werten in einem „inklusiven Monotheismus“, in dem alle Götter eins sind und nennt dies „interkulturelle Transparenz“, in der der andere in seinem Anderssein verstanden werden kann. Großartiger, fortschrittlicher Artikel!

Die Religionen sind ein wesentlicher Ursprung unseres gesellschaftlichen und individuellen Verhaltens. Eine übergreifende und aktualisierte Religionskritik ist in der Tat heute zentral wichtig. Das klingt locker. Ist es aber nicht. Wenn man die monotheistischen Religionen kritisch betrachten möchte, muss man gerechterweise alle drei betrachten. Es ist überhaupt kein Problem, den Islam zu kritisieren, das passiert in der deutschen Presse täglich, auf welchem Niveau auch immer. (In muslimischen Gesellschaften hingegen ist es noch nicht so leicht, frei über Religionen zu sprechen, auch in der Presse.) Es ist hier auch möglich, das Christentum zu hinterfragen und fragend zu betrachten. Tja. Aber wenn man die drei zusammen bespricht und in Beziehung setzt, dann könnte es gehen. Voraussetzung ist ein überall anerkanntes Wertesystem, wie zum Beispiel die Menschenrechte, über die simultan in ebenfalls kritischer Weise gesprochen werden muss, da sie nicht von allen Beteiligten verfasst wurden.

In der neuen Bibliothek in Alexandria habe ich eine moderne schwarze Statue gesehen in ägyptischem Stil. Sie hat mich fasziniert, ebenso wie die Barke bei den Pyramiden, die ich auch im Februar besuchte. Der alt-ägyptische Stil ist sagenhaft schön. Professor Assmann würde ich ja gern mal kennen lernen. Er ist ein gesellschaftlich engagierter Ägyptologe. Von solchen Leuten träume ich normalerweise nur nachts. Meine Erfahrungen mit unseren Universitäten und mit unserem Bildungssystem im Allgemeinen sind ansonsten eher schlecht, mit wenigen Ausnahmen. Deshalb habe ich auch schon Dutzende von Seiten darüber geschrieben. Die SZ ist heute voll mit Pisa und den neuen Noten für die Bildung in Deutschland, schon wieder ein miserables Zeugnis. Das Grundproblem liegt meiner Ansicht nach in unserer ineffizienten Auffassung von Lernprozessen als der Aneignung von etwas Fremdem. Im Grunde ist es derselbe missionierende Gedanke, den Herr Assmann nennt. Die Gesellschaft weiß schon vorher, was aus den Schülern und Studenten werden soll, sie hat Erwartungen, die Eltern, die Beamten, die Wirtschaft. So werden wir zu Unfreien erzogen und nicht zu mündigen Bürgern. Auch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unsere natürliche Kreativität in den Bildungseinrichtungen methodisch zerstört wird. Es liegt letztlich am Menschenbild der Gesellschaft.

Was gabs noch? Auf Seite 8 erzählt Herr Schmitz, was es Neues von Herrn Scharon aus Israel gibt. Die Überschrift lautet: „Scharon nennt Arafat 'Mörder'“. Dass man sich dieses Kindertheater als Leser jedesmal mitanhören muss, ist schon lästig. Interessant der Satz: „Beim Selbstmordanschlag eines palästinensischen Terroristen im Westjordanland wurden am Dienstag drei israelische Soldaten verletzt, einer lebensgefährlich.“ Und zwar frage ich mich nicht, was diese Nachricht mit dem Titel zu tun hat, sondern ob die SZ „Terroristen“ differenziert sieht. In diesem Beispiel ging es um Auseinandersetzungen mit der Besatzungsarmee. Ist das genauso Terror? Wo hört für die SZ eigentlich das Widerstandsrecht von Gesellschaften unter Besatzung auf? Frau Steinberger hat mal wieder geschrieben und auf der Leserbriefseite stehen heute auch die Erscheinungsdaten der Artikel, auf die Bezug genommen wird.


- 9/15/2004: God and Gods -

A good edition. The article of the day is in the feuilleton on page 14 and it is called: "All Gods are one! The discomfort in religion" It was written by Professor Jan Assmann, an Egyptologist from Heidelberg. A stimulating article, even a dialogue. Herr Assmann poses the thesis that the idea of monotheism, which changed the world – is based on an excluding concept of truth, meaning that it defines itself via demarcation by nature. No god but God! in the three monotheistic religions therefore means the exclusion of alternative belief systems: "For all three religions accord in a strong concept of the other against whom they define themselves, in different ways, by persecution, by courting, missionary action, subjection or simply by excluding them as goyim, gentiles, pagani, unbelievers, heretics, respectively." Monotheism would be about demarcation, not about the one, says Professor Assmann, and therefore it would be exclusive. As a reflecting historian and author of the book "Moses the Egyptian" he speaks about the principle of the translatability of values in an "inclusive monotheism" in which all gods are one and he calls this an "intercultural transparency" in which the other can be understood inherently in his own terms. Great, progressive article!

The religions are a fundamental origin of our social and individual behavior. An overall and updated critique of religions indeed is of central significance today. This sounds straightforward. But it isn't. When one wants to critically assess the monotheistic religions then one will have to regard all three as a matter of justice. It is absolutely no problem to criticize Islam, this is happening on a daily basis in the German press, on whatever level. (In Muslim societies, on the other hand, it is not so easy yet to talk freely about religions, in the press, neither.) It is also possible here to pose critical questions concerning Christianity. Well... But when all three are discussed together, then it could work. Presupposition is an overall agreed upon system of values, like for instance the human rights about which a simultaneous critical reflection is necessary as they were not formulated by all involved parties.

In the new library in Alexandria I had seen a modern black statue in Egyptian style. It fascinated me, as did the barque near the pyramids which I visited in February. The old Egyptian style is marvellously beautiful. I would really like to meet Professor Assmann. He is a socially engaged Egyptologist. Of such people I normally only dream at night. My experiences with our universities and with our educational system in general have normally been rather bad, with few exceptions. This is the reason why I wrote dozens of pages on this subject before. The SZ of today is full of Pisa and the new marks for education in Germany, again a miserable account in the ranking. The fundamental problem to my mind lies in the unefficient conceptualization of learning processes as the acquisition of something alien. It is basically the same missionary thought Herr Assmann was talking about. The society knows beforehand what is to become of the pupils and students, it has expectations, the parents, the educational officials, the economy. In this way we are educated to become unfree people and not to become responsible citizens. Also, I have come to the conclusion that our natural creativity gets methodically destroyed in the educational institutions. In the end this is due to the image of the human in the society.

What else? On page 8 Herr Schmitz tells us the news of Mister Sharon from Israel. The headline is: "Sharon calls Arafat 'killer'". It actually is quite a harrassment for the readers that they have to overhear this children's theater every time again. Interesting the sentence: "At a suicide assault of a Palestinian terrorist in the West Jordan Land on Tuesday three Israeli soldiers were injured, one of them with danger for his life." What I wonder is not what this news has to do with the title, but whether the SZ sees "terrorists" in a differentiated way. This example is about a clash with the occupation army. Is this the same kind of terror? I wonder where the SZ sees the limits of the right of resistance in societies under occupation. – Frau Steinberger wrote again and on the page with the readers' mails today there also are the publishing dates of those articles that are referred to.


- 16.09.2004: Da da Didaktik -

Einer der wichtigsten Grundsätze in der Literaturkritik der Imagisten, einer vor knapp hundert Jahren wirkenden anglo-amerikanischen Gruppe um Ezra Pound, ist: „Keine Didaktik!“. Das Belehrende und das Schöne passen nicht so recht zusammen. Leider ist Ezra später auf politische Abwege geraten, als Kritiker jedoch ist er bewundernswert. Das Problematische an dieser humanistischen Forderung „Keine Didaktik!“ ist, dass sie didaktisch ist. Das Didaktische nimmt immer auch Freiheit weg. Auch die Zeitung ist didaktisch. Sie gibt den Lesern Freiheit durch Wissen, Analyse und Kommentar und sie nimmt ihnen Freiheit zum Beispiel durch die Auswahl der Themen und Meinungen. Wenn ich mich in dieser Form mit der Zeitung auseinandersetze, nehme ich ihr vielleicht teilweise auch Freiheit weg. Es ist manchmal paradox, aber gegen Paradoxien kann der Mensch nichts tun. Sie sind auch nicht so schlimm. Gewalt ist schlimm.

Bei einer simultanen Zeitungs-Online-Kritik geht eine Menge durch einen durch. Es bleibt wenig Zeit für die Verarbeitung, die Träume können schwer werden. Jedoch ist es eine faszinierende Angelegenheit, ein gutes Training, sehr lebendig, und was sind schon ein paar Monate? Die SZ vom heutigen Donnerstag hat mir gefallen. Es gab zwar leichte Aggressionen darin, aber wer hat die nicht? Das kann man in der heutigen Zeit nicht erwarten, dass alle immer so cool sind. Es sind schwere Zeiten und wir alle tun unser Bestes, um da herauszukommen. Ich frage mich zwar manchmal, wie ich eine SZ-Ausgabe trotz dieser Israel-„Berichterstattung“ gut finden kann, aber wahrscheinlich meine ich es relativ. Eine andere Erklärung habe ich dafür nicht.

Auf Seite 1 steht ein Zitat von EU-Außenkommissar Chris Patten: „Der Kampf gegen den Terrorismus rechtfertigt oder entschuldigt nicht die Verletzung von Menschenrechten“. Dass die Nato sich in den Irak schleicht, schreibt Christian Wernicke auf der 4. Arne Perras kommentiert die Weltbevölkerungssituation. Herr Prantl meint über Putin: „Einen Besseren haben wir nicht.“ Hm. Was bedeutet das: Einen Besseren haben wir nicht? Wer ist „wir“? Ich glaube, Herr Prantl hat diesen Kant-Artikel vom 13ten doch so verstanden, dass Recht und Moral getrennt werden. Er trennt jedenfalls. Thorsten Schmitz kommentiert Scharons „Abschied von der Road Map“. Dort wird Scharon zwar nicht kritisiert (Einen Besseren haben wir nicht?), es wird aber gezeigt, dass Scharon die Kontrolle über die Palästinenser noch verstärken will. Normalerweise lassen sich aus den Kommentaren auf der Seite 4 Meinungen erkennen, hier nicht. Das Foto zum entsprechenden Artikel auf Seite 8 zeigt „Wut und Trauer“, eine Menschenmenge mit einem vor Schmerz schreienden Mann. Lapidar heißt es: „Bei Razzien der israelischen Armee im Westjordanland wurden am Mittwoch elf Palästinenser erschossen“. Das ist aber nicht die Überschrift. „Scharon kündigt Friedensplan“, das ist die Überschrift. – Lustig der Artikel „Gute Jungs kommen aus der Hölle. Der Untergang ist nahe! Aber Guillermo del Toros 'Hellboy' weist die Nazi-Horror-Schurken in ihre Schranken“ von Doris Kuhn auf Seite 14.

Der beste Artikel ist von Torsten Körner und heißt „Viel Spaß mit Hitler! Big Bunker: Einst bot das Fernsehen den NS-Staat wie ein Pädagoge an, nun werden die braunen Machthaber dort menschlich“. Auf der Medienseite 17. Der Autor hat die Heinz-Rühmann-Biografie „Der gute Freund“ verfasst und „Die Geschichte des Dritten Reichs“. In diesem langen Artikel geht es um das Verhältnis zwischen den deutschen Nachkriegs-Medien und Hitler, auch um die Didaktik und den Erziehungsauftrag der Medien. Drei Stellen habe ich mir angestrichen, sie fassen den hervorragenden Artikel nicht zusammen, sondern sind mir einfach aufgefallen. „Ist die Darstellung Hitlers als jämmerlicher Mensch nicht auch ein unbequemer Hinweis auf seine intime Interaktion mit seinem Volk?“ Interessant ein Medien-Hitler-Fazit von 1955: „Seid wachsam, sagt nie mehr Jawoll!“ Und die Kritik der Medien an dem Hitler-Biografen Joachim Fest: „War da nicht eine gefährliche Einfühlung am Werke?“ Es geht hier um die German Angst des „Hitlers in uns“. Denn Hitlers Erfolg lag ja daran, dass sich die Bevölkerung mit ihm identifizieren konnte. Wie kann man sich mit Hitler identifizieren? Heute kaum vorstellbar. Nein? Seid wachsam, sagt nie mehr Jawoll! Dieses Fazit von 1955 ist heute gar nicht so populär. Woran das wohl liegt? Dazu ein post-9/11-Zitat von Hannsheinz Bauer (SPD), dem einzigen noch lebenden Mitglied des Parlamentarischen Rates, der 1948/49 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht hat: „(...) Gerade nach den deutschen Verbrechen der Nazizeit sind die allgemein gültigen Kriterien der Menschenrechte und des Völkerrechts formuliert worden, die in der UN-Charta stehen. An diesen Kriterien ist das Handeln heutiger Regierungen zu messen.“ („Wen darf man mit wem vergleichen?“ Juni 2003, www.sopos.org/aufsaetze/3ee9f8c72d31a/1.phtml).


- 9/16/2004: Da da Didacticism -

One of the most important principles in the literary critique of the Imagistes, an Anglo-American group around Ezra Pound, about one hundred years ago, is: "No didacticism!" The teaching and the beautiful do not really fit together. Unfortunately, Ezra later went a bad way politically. Yet as a literary critic he is worth admiration. The problematic thing about this humanistic demand of "No didacticism!" is that it is didactic. The didactic always also takes away freedom. The newspaper is didactic, too. It gives the readers freedom through knowledge, analysis and commentary and it takes away freedom for example by the choice of subjects and opinions. When I concern myself with the newspaper in this way I may also partly take away its freedom. Sometimes it is paradoxical, but there is nothing one can do about paradoxes. They are not so bad, anyway. Violence is bad.

When you are doing a simultaneous newspaper online review then there is a lot which comes into and goes out of your mind. There is little time for digestion, the dreams can become heavy. And yet it is a fascinating thing, a good practise, very vivid, and what are a couple of months? I was pleased about the SZ of today, Thursday. Despite the fact that there were slight aggressions in it. But who is free of aggressions? You cannot expect this in these times that everybody always is so cool. They are hard times and we all are doing our best to get out of them. Sometimes I wonder how I can find an edition of the SZ pleasant when there is this Israel "coverage" in it. I probably mean it in a relative way. There is no other explanation I can think of.

On page 1 there is a quote by EU foreign deputy Chris Patten: "The struggle against terrorism does not justify nor excuse human rights violations." That the Nato is sneaking into Iraq writes Christian Wernicke on the 4. Arne Perras comments the world population situation. Herr Prantl writes about Putin: "We have no better one". Hm. What does that mean: we have no better one? Who is "we"? I think Herr Prantl did indeed understand this article about Kant from the 13th in the way that law and morals are separated. He separates, anyway. Thorsten Schmitz comments on Sharon's "Farewell from the Road Map". Sharon is not criticized there (We have no better one?), but it becomes obvious that Sharon even wants to intensify the control over the Palestinians. Normally in the comments of page 4 one can derive opinions, not in this case. The photo of the respective article on page 8 shows "anger and sadness", a crowd of people with a man who is screaming of pain. The text lapidarily says: "During raids of the Israeli army in the West Jordan Land eleven Palestinians were shot on Wednesday." But this is not the headline. "Sharon calls off peace plan", that is the headline. – Amusing the article "Good guys come from hell. The downfall is near! But Guillermo del Toros' 'Hellboy' stands up against the Nazi horror villains" by Doris Kuhn on page 14.

The best article is by Torsten Körner and it is called: "Have fun with Hitler! Big Bunker: once the television offered the NS state like a pedagogue, now the brown rulers are becoming human there". On the media page 17. The author wrote the Heinz Rühmann biography (NB: famous German actor) "The good friend" and "The history of the Third Reich". This long article is about the relationship between the German media after the war and Hitler, also about didactics and the educational mission of the media. Three passages I have marked, they do not summarize the excellent article, they just caught my attention. "Isn't the presentation of Hitlers as a miserable individual also an uncomfortable hint to his intimate relationship with his people?" Interesting a media Hitler conclusion from 1955: "Be alert, don't say Jawoll anymore!" And the criticism of the media towards Hitler biographer Joachim Fest: "Wasn't there a dangerous empathy going on?" It is about the German Angst of the "Hitler in us". For Hitler's success was due to the population's ability to identify with him. How could people identify with Hitler? Hardly imaginable today. No? Be alert, don't say Jawoll anymore! This conclusion from 1955 is not exactly popular these days. What might be the reason? In this context a post 9/11 quote by Hannsheinz Bauer (SPD), the sole still living member of the Parliamentary Council which in 1948/49 brought the constitution of the Federal Republic of Germany on the way: "(...) Especially after the German crimes of the Nazi time the generally valid criteria of the human rights and of international law, which are in the UN Charta, were formulated. By these criteria the actions of current governments are to be measured." ("Who might be compared with whom?" June 2003, www.sopos.org/aufsaetze/3ee9f8c72d31a/1.phtml).


- 17.09.2004: Abgeschottete Gemeinschaft -

Vielleicht irre ich mich, aber ich habe den Eindruck, eine Bewegung zu spüren. Die Menschenrechte scheinen in der SZ aufgewertet worden zu sein, wäre ja schön. Kofi Annan hat bestimmt dazu beigetragen mit seiner Feststellung, dass der Irakkrieg illegal war. Mal sehen, wie die SZ in den nächsten Krisensituationen sein wird, in der letzten Zeit jedenfalls erschien mir das Niveau überdurchschnittlich hoch. Das heißt nicht, dass ich grundsätzlich übereinstimme, zum Beispiel, was diese Konferenz in Berlin angeht:

Heute wurde über eine so genannte Islamistenkonferenz geschrieben, offiziell heißt sie: „Erster arabisch-islamischer Kongress“. Dieser soll anfang Oktober in Berlin stattfinden und unser Innenminister will ihn verbieten, auf Anregung des Simon-Wiesenthal-Centers in Paris. „Wir sind gegen Terrorismus und Extremismus“ sagt dagegen der Organisator Gabriel Daher (S. 8). Die Zeitung schreibt im Kommentar, dass hier eher aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird, weil die Konferenz sowieso schlecht organisiert sei. Wäre die Veranstaltung gut organisiert, hätte demnach wohl auch der Kommentator anders geschrieben. Was wird den Veranstaltern vorgeworfen, dass Herr Schily den Kongress verbieten will? Auf der Homepage heißt es: „Ja zur Befreiung der von amerikanisch-zionistischem Terror okkupierten Länder, nein zum Hegemoniestreben der USA.“ Die SZ schreibt, die Einladung lese sich „wie das Schreiben einer Lobbygruppe für den Widerstand in Palästina und im Irak.“ Auf Seite 4 wird der Fall kommentiert, rabe schreibt darüber, „was wirklich gefährlich ist“, nämlich wenn in Moscheen Hass gepredigt wird, wenn Muslime Kämpfer zum Heiligen Krieg werben wollen, und: „der Rückzug ganzer Einwanderergruppen in eine abgeschottete Gemeinschaft und die Ablehnung von Werten, die Grundlage sind für unsere Demokratie.“

Diese Einschätzung der SZ ist vorsichtig und wohlüberlegt. Was fehlt, ist die begleitende Selbstkritik. Fakt ist, man kann diesen Leuten keine Gewaltbereitschaft nachweisen, dennoch wird hier ein Verbot angedroht. Hier ist die Öffentlichkeit gefragt, eine Situationsanalyse zu machen. „Befreiung von amerikanisch-zionistischem Terror“, das ist etwas, was man in Deutschland nicht so gut sagen kann. Auch „Lobbygruppe für den Widerstand in Palästina“ klingt offenbar gefährlich in deutschen Ohren. Da wird an etwas gekratzt. Woran genau? Warum? Zu Recht? Darf man zum Widerstand in Palästina aufrufen? Wie lange sollen wir noch auf dem Konflikt herumsitzen, wie viele müssen noch sterben? Ich frage das heute die Deutschen. Man bedenke in diesem Zusammenhang, dass die Unterstellung einer „zionistischen Lobby“ zum Ausschluss aus dem Diskurs führen kann. Nach einem Dialog sieht die SZ-Bewertung dieses arabisch-islamischen Kongresses also nicht aus, eher nach Affirmation der bestehenden Diskurs-Grenzen in der frontalen Öffentlichkeit. Klares Lagerdenken. Das ist nicht progressiv. Es ist verständlich insofern, als früher solche Grenzbestätigungen zur eigenen Definition nötig waren. „Abgeschottete Gemeinschaft“ ist nach wie vor ein Bumerang-Vorwurf.

Auf derselben Seite 4, der Meinungsseite, schreibt Heribert Prantl: „Die Aktion Parteispenden-Entschärfungsgesetz erinnert an Max und Moritz, sechster Streich: Die beiden waren durch den Schlot zu den Köstlichkeiten der Bäckerei vorgedrungen, in den Teig gefallen und vom Meister in den Ofen geschoben und gebacken worden.“ So wie sich M&M aus dem Gehäuse gefressen haben, verspeisen demnach die Parteien ihr Gesetz. Herr Prantl steht auf Comics aus dieser Zeit. Zum Beispiel hat er mal einen Politiker mit Paulinchen aus dem Struwwelpeter verglichen, die mit den Zündhölzern. Ich fand es damals bemerkenswert, dass mit dem sturzkonservativen Struwwelpeter argumentiert wurde. Ich schätze, das Krokodil aus Kiel könnte Herrn Prantl auch gefallen. Die CD mit dem Heft kostet nur 5 Euro 80.

Auf der Leserbriefseite wird deutlich, dass die „Patient Deutschland“-Trilogie von Evelyn Roll auf ein starkes und kontroverses Echo gestoßen ist. Eigentlich sollte heute der dritte Teil erscheinen, stattdessen gab es kommentarlos etwas über Heuschrecken. Auf der Literaturseite sind mir zwei Beiträge aufgefallen: „Bewährte Rivalität: Literaturwissenschaft und Literaturkritik“ von Ijoma Mangold. Interessant ist: „Die Kritik muss schnell reagieren, die Wissenschaft darf, ja muss sich Zeit lassen. (...) Während die Literaturkritik sehr gerne Ästhetik und Moral (auch die der Lebensführung) gegeneinanderrechnet, gehört es umgekehrt zum Dogmatismus der Literaturwissenschaft, jede Form biografischer Analyse zurückzuweisen.“ Es handelt von einigen Themen, die hier bereits vorkamen. Vielleicht kommen wir noch darauf zurück.

Auch eine Rezension von Thomas Thiel über Petra Werners Buch „Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und ein Kosmos“ ist auf dieser Seite 18. Sie reflektiert über den kumulativen Wissenschaftsbegriff der Zeit der Enzyklopädien. Dieses Phänomen gibt es auch im arabischen Schrifttum. Die Metaphorik des arabisch-islamischen Wissenschaftsbegriffs war damals mein akademisches Haupt-Thema. Welche Bilder hatten die Menschen damals von Wissen, Wissenschaft und Lernprozessen? Es war ein positivistisches Weltbild, im Westen wie im Osten. Man stellte sich die Welt wie eine Tabelle vor und dachte taxonomisch, als wären die Dinge in der Welt, über die man Wissen „erwerben“ kann, so wie die chemischen Elemente oder die Einteilungen der Biologie. Auch in der Sprachwissenschaft gab es das; man dachte in der Zeit des frühen Islam, dass es eine exakte Relation gebe zwischen allen einzelnen „Dingen“ der Welt und den Wörtern, die sie bezeichnen.

Übrigens werden in der heutigen Neuen Zürcher Zeitung (17.09.04) die arabischen Frontal-Öffentlichkeiten kritisiert („Steinwürfe statt Gedanken. Der 11. September und die arabischen Intellektuellen. Anlässlich des dritten Jahrestages des 11. September publizierte die in London erscheinende arabische Zeitung 'Al-Hayat' Stellungnahmen arabischer Intellektueller zu den Terroranschlägen auf Amerika. Die ernüchternde Einseitigkeit, befindet der irakische Schriftsteller und Publizist Najem Wali, ist repräsentativ für den arabischen Diskurs.“). Herr Wali wirft den arabischen Medien vor, dauernd über die „Befreiung Palästinas“ zu reden und „die ewig gleichen Schuldigen“ zu finden, anstatt die Schuld am Verfall bei sich selbst zu suchen, in der Obrigkeit, im saudischen Wahhabismus und anderem. Ich kenne Najem ein wenig aus Uni-Zeiten in Hamburg. Letztes Jahr war er manchmal im Fernsehen, weil er den Irakkrieg befürwortet hat. Ich bin froh, dass auch die arabischen Öffentlichkeiten neu hinterfragt werden, denn das gehört zusammen. Schön wäre es, wenn ein konstruktiver und aufrichtiger Geist dabei herrschen könnte, damit sich wirklich positive Veränderungen einstellen können.


- 9/17/2004: Isolated Community -

Maybe I am wrong, but I have the impression that there is a kind of movement going on. The human rights seem to be valued up in the SZ, a nice thing if it is so. Surely Kofi Annan has contributed to this with his assertion that the war on Iraq was illegal. We have to see how the SZ will be in the next situation of crisis, concerning the recent past the level seemed to me to be much higher than on average. This does not mean that I principally accord, for example regarding this conference in Berlin:

Today they wrote about a so-called Islamist conference. Officially it is called: "First Arab Islamic Congress". It is set to take place in the beginning of October, in Berlin, and our minister of the interior wants to prohibit it, after a suggestion of the Simon Wiesenthal Center in Paris. "We are against terrorism and extremism" claims organizer Gabriel Daher (p. 8). The newspaper writes in the commentary that here a mosquito is made an elephant (German saying), because the conference would be badly organized, anyway. Which means that, was the conference better organized, the commentator would have written differently, too. What is it that the organizers are blamed for so that Herr Schily wants to prohibit the congress? On the homepage it reads: "Yes to the liberation of the countries occupied by American Zionist terror, no to the hegemonial attempts of the USA." The SZ writes that the invitation appears "like the paper of a lobby group for the resistance in Palestine and in Iraq." On page 4 the case is commented, rabe writes about "what is really dangerous", namely when hate is preached in mosques, when Muslims want to draft fighters for the Holy War and: "the withdrawal of whole migration groups into an isolated community and the rejection of values which are a basis of our democracy."

This assessment of the SZ is cautious and well-considered. What is lacking is an accompanying self-criticism. Fact is, one cannot prove that these people are ready for violence, still there is the threat of prohibition. Here the public is asked to make a situation analysis. "Liberation from American Zionist terror", this is something which you cannot say so well in Germany. Also "lobby group for the resistance in Palestine and in Iraq" apparently sounds dangerous for German ears. Something fundamental is being questioned here. What is it exactly? Why? By right? May somebody call for resistance in Palestine? How long shall we continue to sit on the conflict, how many people will still have to die? Today I am asking this the Germans. Consider in this context that the insinuation of a "Zionist lobby" can in Germany lead to the exclusion from the discourse. The SZ assessment of this Arab Islamic congress does not really look like a dialogue, rather like an affirmation of the current borders in the frontal public discourse. Clear camp thinking. This is not progressive. It is understandable insofar as in former times such affirmations of borders had been necessary for the definition of the self. "Isolated communities" still is a boomerang reproach.

On the same page 4, the opinion page, Heribert Prantl writes: "The venture of a party donation softening law is reminding one of Max and Moritz, sixth prank: the two had come through the chimney and reached the delicious products of the bakery, fell into the dough and were shifted into the oven and baked by the master." According to this, the parties eat their own law like M&M ate the cover in which they had been baken, to escape. Herr Prantl digs cartoons from this time (about 100 years ago). For example, once he had compared a German politician with the figure Paulinchen from the famous children's book "Struwwelpeter", Paulinchen with the matches. Then, I found it remarkable that the argumentation was based on the pitch conservative Struwwelpeter. I guess the Crocodeel from Kiel might please Herr Prantl, too. The CD with the booklet is only 5 euros 80.

On the page with the readers' mails it becomes obvious that the "Patient Germany" trilogy by Evelyn Roll met a great deal of feedback, and controversy, too. Actually, the third part was set for today, instead there was something about locusts, without any comment. Two contributions on the literature page attracted me: "Proved rivalry: the science of literature and literary criticism" by Ijoma Mangold. Interesting is: "Criticism has to react quickly, science may, even must, take its time. (...) While literary criticism very much likes to connect between esthetics and morals (also the ones of personal lives), it is, on the contrary, part of the dogmatism of the science of literature to reject every form of biographical analysis." This relates to a couple of subject matters which have occurred here before. Maybe we come back to this later on.

There also is a book review by Thomas Thiel about Petra Werner's book: "Sky and earth. Alexander von Humboldt and a cosmos" on this page 18. It reflects about the cumulative concept of science of the era of the encyclopedias. We find this phenomenon in Arabic scripts, too. The metaphors and conceptualizations of the Arab Islamic concept of science had been my major academic subject back then. Which images and conceptions did people in former times have about knowledge, science, and learning procedures? It was a positivist philosophy of the world, in the West and in the East alike. People imagined the world to be like a chart or list and they thought in terms of taxonomies, as if the things in the world, about which one could "acquire" knowledge, were like the chemical elements or the divisions in biology. The same happened in the linguistic sciences. In early Islam people thought that there was an exact relation between all individual "things" of the world and the words which denote them.

By the way: in today's edition (9/17) of the Neue Zuercher Zeitung from Switzerland the Arab frontal publics are criticized ("Stone throws instead of thoughts. September 11 and the Arab intellectuals. On the occasion of the third anniversary of September 11 the London-based Arabic newspaper 'Al-Hayat' publishes statements of Arab intellectuals about the terror assaults on America. The sobering one-sidedness, assesses the Iraqi writer and publisher Najem Wali, is representative for the Arabic discourse.") Mister Wali blames the Arab media for continuously talking about the "liberation of Palestine" and for finding "the always same guilty ones", instead of looking for the responsibility for the decay in themselves, in the magisterial state, in Saudi Wahhabism, and other things. I know Najem a little from uni times in Hamburg. Last year he was in the telly sometimes, because he was in favor of the war on Iraq. I am glad that the Arab publics are also questioned anew, this all belongs together. It would be nice if there could be a constructive and sincere spirit as a basis so that positive changes can really come about.


- 18./19.09.2004: Be the Change you Want -

Eine Leserin in Vietnam hat mich gestern gefragt, ob ich wirklich glaube, dass es in Palästina/Israel ohne Knall zum Guten kommen kann. Ja, ich glaube in der Tat, dass dies möglich ist. Es ist eine Frage der Bewusstmachung. Die meisten Gesellschaften nach 45 sind so erzogen worden, dass sie nicht mehr wirklich nach Glück streben. Nach dem Holocaust scheint es ja fast pervers, glücklich sein zu wollen. Unbeschwert, unschuldig sein zu wollen. Dennoch ist dies die menschliche Natur, wir alle streben unterbewusst nach Unschuld, auch die Opfer unter/in uns, und auch die Täter. Und es ist der richtige Weg, danach zu streben, denn es ist der Weg der Erfüllung und Entfaltung, weg von der Gewalt auf natürliche Weise. Den Grund für Kriege sehe ich bereits auf dieser Ebene. Es gibt eine Aggressivität in den Menschen, die schnell aktiviert ist, ein Kontrolldrama mit starken Verlust- und Sicherheitsängsten. Dies führt auch zu Kriegen. Ein weiterer Punkt ist, dass man sich beim Frieden-Machen selbst auch verändert, davor haben viele Leute Angst, weil sie einen Identitätsverlust fürchten, und so verharren sie lieber im Konflikt.

Bei mir ist das irgendwie anders. Jetzt gerade bemerke ich bei mir selbst eine Veränderung, denn die Zeitung hat eine andere Wirkung auf mich als noch vor zwei Wochen oder auch zwei Jahren. Es gibt jetzt keinen Grund mehr für Kriegsbemalung (Sätze wie „Ich liebe Kollektivpsychen“). Erstaunlich. Ich blickte vom Bildschirm auf und sah an der Wand Lawrence von Arabien hängen. Ich musste grinsen. Während ich noch über die Angst vor der Veränderung sinnierte, schaltete ich den Fernseher ein. Auf Vox lief ein BBC Special über Kinderpsychologie. Als ich einschaltete, sagte gerade jemand, dass die Reflektion über das eigene Verhalten und gegebenenfalls seine Veränderung auch in der Erziehung zentral wichtig sei. Der Doku-Film über die Arbeit der bewunderswerten britischen Psychologin Dr. Tanya Byron hat mich inspiriert. Die SZ hatte ich zu dieser Zeit noch nicht gewagt zu lesen, es war eine seltsame Angst vor Enttäuschung, die zur Hoffnung wohl dazugehört.

Die heutige Ausgabe war schön. Mit einem Tag Verspätung schreibt Evelyn Roll über „Die Therapie in der Reha: 'Jammer nicht! Steh auf! Mach es! Action!' Die Zauberlehrlinge am Krankenbett. Vielleicht gelingt es uns ja sogar, den Schmerz gerecht zu verteilen – warum die Abkehr vom Populismus der Anfang der Heilung sein könnte.“ Mit Populismus sind hier besonders die Medien gemeint, und zwar besonders die Bildzeitung. Frau Roll hat erst mit Feridun Zaimoglu gesprochen, einem Schriftsteller, der über die nicht bewältigte Migration in Deutschland spricht und die Bildzeitung umfassend charakterisiert („Drecksblatt“). Auch die Pomade des Chefs von Bild, Herrn Kai Diekmann, wurde in Herrn Zaimoglus Aussagen thematisiert. Dann sprach Frau Roll mit Herrn Diekmann, der sich professionell zu wehren wusste, sie aber auch „in Watte laufen“ ließ. Es gibt, so las ich dort, auch ein Internet-Tagebuch www.bildblog.de, in dem „seit Juli vier Journalisten Tag für Tag fundiert und sehr lesbar die Falschmeldungen und Fehler der Bildzeitung auseinander nehmen.“ Das muss ich mir demnächst mal ansehen, was die Kollegen machen, das klingt interessant. Frau Roll sagt, nur 5 Prozent der Deutschen lesen die SZ (oder FAZ, FR, Welt, Spiegel, Focus), die anderen 95 lesen gar nix oder Bild. Auf der Frontseite der SZ steht: „Heutige Druckauflage: 669.400“.

Dann schreibt sie noch: „Mal angenommen, alle deutschen Medien würden sich (...) einen Monat lang zusammenreißen. Sie würden nicht alarmistisch über Weimarer Verhältnisse schreiben.“ Keine „Katastrophenbulletins“ mehr, sondern einen Monat lang den Fokus auf das Positive richten ... Ganz erstaunlich, das war sehr ähnlich dem, was die Kinderpsychologin in dem BBC Special auch gesagt hat. Man soll für die Identitätsfindung/Befriedung auf positive Impulse fokussieren und selbst ein positives Verhalten und Denken vorgeben. Das Ende des Roll-Artikels fällt zwar weniger stark aus (Ein germanisierter Amerikaner ruft uns zum positiven Denken auf), aber das ist der forschende, erlebende, fortschrittliche Geist, den ich im Kopf habe, wenn ich von der gegenwärtigen Zukunft träume.

Matthias Drobinski auf der Folgeseite 4 macht im Grunde da weiter, wo Evelyn Roll aufgehört hat. Er wünscht sich eine „neue deutsche Zuversicht“. Es geht um die Rechtsradikalen bei den anstehenden Wahlen. Der Wähler räche sich, so seine These: „Bei einem Racheakt, sagen die Psychologen, liegt die Befriedigung nicht im eigenen Nutzen, sondern im Schaden für den anderen.“ Es bedürfe einer Art Heilserwartung, um die German Angst zu überwinden. Vielleicht wird es nur ein Flickenteppich sein können, aber es sei jetzt wichtig, daran zu arbeiten, auch Visionen seien wichtig. Herr Drobinski schreibt in der SZ meistens über das Christentum. Er hat ziemlich viel drauf, auch wenn ich mich schon mal mächtig über ihn geärgert habe. Ich weiß nicht mehr, was es war, erst wollte ich einen ganzen Artikel darüber schreiben, aber ich habe es gelassen. Es hatte mit dem Islam zu tun. Unten auf der Seite 4 ein guter Satz von gras: „Es ist die Aufgabe der Politik, dem Bekenntnis der Wähler zum braunen Gedankengut etwas entgegenzusetzen. Die demokratische Kultur ist gefestigt genug, diese Auseinandersetzung auszuhalten. Am Ende wird sie gestärkt daraus hervorgehen.“ Zum Thema Iran beginnt Herr Chimelli seinen Kommentar mit: „Wenn die Europäer mit einer Stimme sprechen (...), können sie tatsächlich etwas erreichen.“ Das ist altes Lagerdenken. Nicht wenn die Europäer, sondern wenn die Welt mit einer Stimme spricht, können wir wirklich etwas erreichen.

Franziska Meier schreibt im Feuilleton (S.16) „Altes Europa. Auch die Historiker haben den 'linguistic turn' entdeckt“. Daraus ein Zitat, das verschiedene Stränge der vorliegenden Diskussion berührt, zum Beispiel den der Kontextualität von Offenbarungsschriften (siehe unter 13.09.). Nach diesem Artikel finden die deutschen Historiker wieder internationalen Anschluss, „indem sie der so genannten Cambridge School nacheifern, die die Vergangenheit nicht mehr nur als zu rekonstruierende Geschichte betrachten will, sondern als 'Einheit in der Kommunikation'. Nach dem der linguistic turn nun auch die deutschen Geschichtswissenschaften erreicht zu haben scheint, sollen fortan nicht mehr nur soziale oder materielle Begebenheiten die Wirklichkeit bestimmen, vielmehr sind die Historiker nun dessen eingedenk, dass historische Realität 'mittels Sprache konstituiert' wird und folglich die Sprache, die Begriffe in ihren jeweiligen Kontexten analysiert werden müssen.“

Sehr gut auf der Medienseite die Besprechung „Die Droge Macht. Politiker und Journalisten sind nicht besser als das Volk, das sie vertreten – ein Buch von Jürgen Linnemann“ von Michael Jürgs. Dann die Wochenendbeilage. Ich gebe zu, dass ich bei dieser Überschrift zunächst voreingenommen war: „Alle Jahre wieder. Am Sonntag gibt's ein altes Ritual: Rechtsextreme Parteien werden Deutschland erschrecken. Kurt Kister über Souveränität. Heribert Prantl über den Souverän. Für eine starke Gesellschaft“. Das klang schon ziemlich schräg. Besonders der Schlussteil, für eine starke Gesellschaft, klingt wie ein CDU-Slogan, oder von Herrn Struck einer. Aber es ist ganz anders. Die Artikel sind beide nicht nur tolerabel, sondern gut. Herr Prantl schreibt: „Neonazis bekämpft man nicht durch Exorzismus, sondern auf der Straße.“ Und Herr Kister sagt, man soll die Kirche im Dorf lassen: „Vor DVU und NPD muss man sich nicht fürchten. Beide sind immer wieder zu dumm fürs Parlament.“ Vor wirklichen radikalen Individuen sei die Angst gerechtfertigt, aber nicht vor den Parteien. Das ist gut.


- 9/18-19/2004: Be the Change you Want -

A reader in Vietnam yesterday asked me if I really believe that things in Palestine/Israel can turn to the good without a bang. Yes, indeed I believe that this is possible. It is a matter of bringing things to awareness. Most societies after 45 have been educated in a way that they do no longer really strive after happiness. After the Holocaust it almost seems perverted to want to be happy. To want to be unburdened, innoscent. But despite all this it is human nature, we all subconsciously strive after innoscence, also the victims among/in us, and also the perpetrators. And it is the right way to strive after it, for it is the way of fulfilment and unfolding, away from violence in a natural way. The reason for wars I see already on this level. There is a quickly activated aggressivity in the people, a control drama with severe fears of loss and safety. This also leads to wars. Another point is that in the process of peace-making you are changing yourself, too. Many people are afraid of this, because they fear a loss of identity. So they rather remain in the conflict.

With me this is somewhat different. Right now I am sensing a change in myself, because the paper has a different effect on me than two weeks ago, or two years ago, for that matter. There is no more reason for using war paint (sentences like "I love collective psyches"). Remarkable. I looked up from the screen and saw Lawrence of Arabia hanging on the wall. I had to grin. While I was still pondering about the fear of changing oneself I turned on the TV. On the channel Vox there was a BBC Special about children's psychology. When I turned it on somebody in the film was just saying that the reflection of the own behavior, and in case of necessity also the altering of the own behavior would be of central significance in education, too. The documentary about the work of the admirable British psychologist Dr. Tanya Byron inspired me. At that time I had not yet dared to read the SZ, it was a strange fear of disappointment which probably belongs to every hope in a way.

Today's edition was beautiful. With one day delay Evelyn Roll writes about "The therapy in the reha: 'Don't complain! Stand up! Do it! Action!' The sorcerer's apprentices at the bed of the ill. Maybe we can even make it to distribute the pain in a just way – why the renunciation of populism could be the beginning of the healing process." With populism the media is meant especially, and especially the Bildzeitung, Germany's biggest tabloid. Frau Roll first spoke with Feridun Zaimoglu, a writer who talked about the lack of overcoming the hard aspects of migration in Germany and who comprehensively assesses the Bildzeitung ("Shit paper" /"Drecksblatt"). Also, the hair-oil of the boss of Bild, Herr Kai Diekmann, was made a subject in Herr Zaimoglu's assertions. Afterwards Frau Roll talked with Herr Diekmann who knew how to defend himself as a professional, but who also let her "run into cotton-wool". There is, as I read, an internet diary www.bildblog.de in which "since July four journalists day by day decompose the false news and the mistakes of the Bildzeitung in a well-founded and very readable way." Gotta have a look at this, sounds interesting what the collegues do there. Frau Roll says, only 5 percent of the Germans read the SZ (or FAZ, FR, Welt, Spiegel, Focus), the other 95 read nothing or Bild. On the front page of the SZ it reads: "Today's print edition: 669.400".

Then she continues to write: "Let us assume that all German media would (...) for one month get itself together. It would not write about Weimar conditions in an alarmistic way." No more "catastrophe bulletins", and instead keep the focus on the positive for one month... Really amazing, this was very close to what the children's psychologist in the BBC Special had said, too. For identity finding/peace-making one should focus on positive impulses and set a positive behavior and thinking as an example. Although the end of the Roll article is less strong (a Germanized American calling us to positive thinking) this is the kind of researching, experiencing, progressive spirit which I have in mind when I dream of the present future.

Matthias Drobinski on the following page 4 basically continues where Evelyn Roll had stopped. He wishes for a "new German confidence". It is about the right-wing extremists in the impending elections. The voter would take revenge, is his thesis: "In an act of revenge, say the psychologists, the satisfaction does not lie in the own benefit, but in the damage for the other." There would be a need for a salutary expectation to overcome the German angst. Maybe this could only be a patchwork carpet, but now would be the time to work for this aim, visions, too, would be important. Herr Drobinski mostly writes about Christianity in the SZ. He is quite deep in this analysis and thought, yet once I was really angry on him. I don't remember what it was, at first I had wanted to write a complete article about it, but then I skipped that. It had something to do with Islam. Below on page 4 a good sentence by gras: "It is the task of politics to contrast the confession of the voter for the brown world of ideas. The democratic culture is stable enough to bear this discussion. In the end it will be strengthened by it." Concerning Iran Herr Chimelli starts his commentary with: "When the Europeans speak with one voice (...) they can really achieve something." This is old camp thinking. Not when the Europeans, but when the world speaks with one voice, we can really achieve something.

Franziska Meier writes in the feuilleton (p. 16) "Old Europe. The historians, too, have discovered the 'linguistic turn'". From it a quote which touches several aspects of the discussion at hand, for example the one of the contextuality of revelation scriptures (see 9/13). According to this article the German historians find back to the international community, "by emulating the so-called Cambridge School which does not want to view the past only as a history which is to be reconstructed, but as a 'unit in communication'. After that the linguistic turn now seems to also have reached the German sciences of history from now on not only social or material constellations determine reality, but rather are the historians aware now that historical reality is 'constituted through language' and thus that language, that concepts have to be analyzed in their respective contexts."

Very good on the media page the review "The drug of power. Politicians and journalists are not better than the people they represent – a book by Jürgen Linnemann" by Michael Jürgs. Then the weekend supplement. I admit that I had some prejudices when I first saw this title: "Every year again. On Sunday there will be an old ritual: right-wing extremist parties will alarm Germany. Kurt Kister on souvereignty. Heribert Prantl on the souvereign. For a strong society". Now this did sound a bit odd. Especially the last bit, for a strong society, sounds like a slogan of the conservative party, or one of Herr Struck. But it is all different. Both articles are not only tolerable, but good. Herr Prantl writes: "You don't fight Neo-Nazis with exorcism, but on the street." And Herr Kister said one should let the church remain in the village (German saying meaning one should not exaggerate): "There is no need to be afraid of the DVU and the NPD. Both are too stupid for the parliament again and again." There would be a justification for fearing really radical individuals, but not the parties. This is good.


Kapitel 3

- 20.09.2004: Traumsequenz -

Und wohin soll die Reise denn gehen, fragte Tobbi den Roboter neben sich im Cockpit. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Klick, sagte die sympathisch schnarrende Stimme. Tobbi sah aus dem Fenster nach unten. Baumwipfel huschten unter ihnen hindurch. Der Himmel war klar. Ich möchte Musik hören, sagte der Junge. Okay. Der Roboter nahm eine Hand vom Steuer und steckte sie um. Eine CD-Schublade öffnete sich. Tobbi legte Bob Dylan's CD „Desire“ hinein. Geigenklänge beendeten die Monotonie der dröhnenden Rotorblätter. Der Junge wippte mit dem Kopf rhythmisch nach rechts und links. Mach es auch! sagte er. Es ist nicht schwer. Versuch's mal. Es ist wie Mathematik, bloß besser. Okay. Rechts, links, rechts, links. Klick. Unsere erste Aufgabe besteht darin... Sieh doch, ein Wasserfall! ...die richtigen Fragen zu finden. Aber das ist leicht! Wohin mit dem Bösen? Du musst hier abbiegen.

Sie näherten sich dem Polarkreis. Eisschollen schoben sich durch das Wasser. Sie wurden dichter. Dort ein großes Schiff, das an einem Seil gezogen wurde. Ist das die Titanic? Nein. Sieh dort vorn, der kleine Schlepper. Steure ihn an. Wir müssen mit ihm reden. Er winkt. Wir brauchen Lebertran. Der Treibstoff geht bald aus. Sie umkreisten den Schlepper. Auf einer Landzunge trafen sie sich. „Ihr seid hier ganz falsch“, lachte der bärtige Seemann mit der Pfeife im Mund. „Ihr seid zu hastig aufgebrochen. Nach Afrika solltet ihr doch, und nach Amerika.“ Die beiden bekamen Lebertran für die Weiterreise. Und wohin mit... Da verwandelte sich der Seemann in einen Coyoten und feixte und lachte immerzu. Komm, Robbi, wir gehen.

Sie flogen über eine Wiese, die voller Leichen war. Oh, was ist denn hier geschehen? Die Menschen haben das gemacht. Klick. Es sind so viele. Ich hätte nicht gedacht, dass der Tod so viele genommen hat. Überall lagen Leichenteile, Köpfe, Arme, Beine. Das müssen Millionen sein. Klick. Dort vorn neben dem Kino ist ein Imbiss-Stand, lass uns dort mal fragen. „Es sind Dutzende von Millionen“, sagte der Wirt, „die Blauen haben das gemacht. Sie werden dafür büßen.“ Ein blauer Kopf kam aus dem Getümmel heraus und meinte, dass es die Gestreiften waren. „Wir werden sie kriegen. Wir werden kämpfen, bis die Hölle zufriert.“ Alles Terroristen. Klick.

Ein Professor kam dazu. Vielleicht können wir es abspalten. Wir müssen irgendwohin damit. Schnell. Robbi und Tobbi sahen einander an. Geht dorthin, wo alles begonnen hat. Kenia? Im Kino wenig Worte. Robbi und Tobbi sahen sich den ganzen Film an. Wir müssen zurück nach Afrika. Ja, wir werden über Ägypten fliegen. Es ist so dunkel. Warte, ich mache den Scheinwerfer an. Ist das Afrika? Ja. Sie flogen dicht über dem Boden. Es wurde Tag. Sie hörten Saxofon-Musik von John Coltrane.

Dort saß ein Kind. „Das Morden fällt schwerer“, sagte es. Wer bist du? „I am the child of the world. I am Om.“ Das Kind verbeugte sich. Klick. Wohin mit dem Bösen? fragte Tobbi. Das Kind sagte: „Die Freiheit des Lebendigen äußert sich nur in Handlung.“ Und weiter? „Es waren Hunderte von Millionen. Deutungsmonopole, Rechtfertigungsstrategien, Bewusstseinsblockaden.“ Und wohin mit dem Bösen? Das Kind nahm die beiden an die Hand und führte sie ins Dorf. „Seht in die Gesichter“, sagte das Kind der Welt, „seht in alle Gesichter.“ Werden wir es dann wissen? „Ja, dann werdet ihr es wissen.“


Chapter 3

- 9/20/2004: Dream Sequence -

And where shall the journey go then? Tobbi asked the robot next to him in the cockpit. We have a mission to accomplish. Click, said the sympathetically rattling voice. Tobbi looked down from out of the window. Tree tops were slipping away underneath them. The sky was clear. I want to listen to some music, said the boy. OK. The robot took one hand from the steering and plugged it into another place. A CD slot opened. Tobbi put in Bob Dylan's CD "Desire". Sounds of violins ended the monotony of the roaring rotating wings. The boy rocked his head rhythmically to the right and to the left. You do it also! he said. It is not difficult. Have a try. It is like mathematics, but better. OK. Right, left, right, left. Click. Our first task is... Look-a there, a waterfall! ...to find the correct questions. But this is easy! Where to with the evil? You gotta branch off here.

They were approaching the polar circle. Floes of ice were shifting in the water, becoming more and more. There a big ship was pulled with a rope. Is this the Titanic? No. Look over there, the little tug-boat. Steer over to him. We must talk to him. He is waving his arms. We need cod-liver oil. The fuel will be off soon. They circled around the tug-boat. On a tongue of land they met. "You are completely wrong here", the bearded seaman with the pipe in his mouth laughed. You have started too hastily. You were to go to Africa, and to America." The two received some cod-liver oil to continue the journey. And where to with the... At this the seaman transformed into a coyote and he kept joking and laughing all the time. Come, Robbi, we are leaving.

They flew over a meadow which was full of corpses. Oh, what happened here? The humans did that. Click. They are so many. I had not thought death had undone so many. There were body parts all over the place, heads, arms, legs. This must be millions. Click. Over there next to the cinema there is a take-away diner, let's ask there. "They are dozens of millions", said the keeper, "the blue ones did that. They will pay for that." A blue head appeared from under the chaos and said the striped ones did it. "We will get them. We will fight until hell is freezing in." All terrorists. Click.

A professor stepped in. Maybe we can separate it, segregate it. We must do something with it. Quick. Robbi and Tobbi looked at each other. Go where everything has started. Kenia? Few words in the cinema. Robbi and Tobbi watched the whole film. We must return to Africa. Yes, we will take the way via Egypt. It is so dark. Wait, I switch on the spotlight. Is this Africa? Yes. They were flying tightly over the ground. The day began. They listened to saxophone music by John Coltrane.

There sat a child. "The killing is becoming harder to do", it said. Who are you? "I am the child of the world. I am Om." The child made a bow. Click. Where to with the evil? asked Tobbi. The child said: "The freedom of the living expresses itself in action only." Yes, and? "They were hundreds of millions. Explanation monopolies, justification strategies, consciousness blockages." Yes and where to with the evil? The child took the two by the hand and guided them to the village. "look into the faces", said the child of the world, "look into all the faces." Will we know it then? "Yes, then you will know it."


- 21.09.2004: Epilog -

Lawrence von Arabien nahm ich von der Wand und legte ihn zu den Akten. Die Aufgabe war erfüllt. Ich öffnete das Fenster. „Ach so?“ fragte die Amsel. „Jetzt, wo es langsam eine Struktur bekommt.“ Eine Routine, sagte ich, es bekommt Routine. Ich nahm die Maske ab und hängte das Cape in den Schrank. Feierabend. Aus dem Kühlschrank holte ich ein Malzbier. „Hal-lo!“ sagte die Stimme im Spiegel, „das kann ja wohl nicht dein Ernst sein.“ Doch, natürlich. „Du sagtest, ein paar Monate.“ Ich sagte: Veränderung. Ich sagte: Begleitung für eine Weile. „Ach Mann, jetzt, wo es so schön wird!“ Japp. Ich nahm einen langen Zug aus der Flasche. „Und was ist, wenn sie wieder Lagerdenken machen?“ Müssen sie selber wissen. Ich bin kein Kindermädchen. „Und wie war die Zeitung heute?“ Super. „Im Ernst?“ Japp. „Sag wenigstens den Artikel des Tages.“ He, weißt du eigentlich, wie müde ich bin? „Nur den Artikel des Tages.“ Also gut. Er heißt: 'Auferstanden aus Ruinen. Wie aus Depression Aufbruchstimmung wird: Katastrophen und therapeutische Gemeinschaften', es ist eine Buchbesprechung, von Olaf B. Rader. „Und sonst?“ UNO. Cohen. Selbstkritik. „Und was ist mit Herrn Schmitz?“ Herr Schmitz will auch Frieden. Alle wollen Frieden. „Aber es sind noch so viele Fragen offen.“ Ja. Viele Fragen.

- 9/21/2004: Epilogue -

Lawrence of Arabia I took from the wall and put it into the archive. The mission was accomplished. I opened the window. "Oh really?" asked the blackbird. "Now that it is beginning to get a structure." A routine, I said, it is getting routine. I took off the mask and hung the cape into the cupboard. Job finished. From the fridge I got myself a malt beer. "Hel-lo!" said the voice in the mirror, "you cannot be serious." Yes, sure. "You said: a couple of months." I said: change. I said: company for a while. "Oh man, now that it is getting so beautiful!" Yapp. I took a long swallow from the bottle. "And what if they get into this camp thinking again?" They gotta know by themselves. I am not a nanny. "And how was the paper today?" Super. "Really?" Yapp. "Say at least what the article of the day was." Hey, do you know how tired I am? "Only the article of the day." Well ok. It is called: 'Resurrected from ruins. How depression becomes a feeling of optimism: catastrophes and therapeutic communities', it is a book review, by Olaf B. Rader. "And apart from that?" UNO. Cohen. Self-criticism. "And what about Herr Schmitz?" Herr Schmitz also wants peace. All want peace. "But there are still so many questions open." Yeah. A lot of questions.

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