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Eine Online-Kritik von Anis Hamadeh, 2008 |
Kapitel 1: Einleitung – Erste Annäherung – „Hier ist der Geist all jener, die einst hier lebten“ – Task Force – Existenzrecht – Was gut war – Merkel, Ratzinger und Zeruya – Zochrot – „Antisemitismus“ & Co. |
- Einleitung - (12.03.2008) Heute morgen im Bahnhof war noch Zeit, um die Zeitungsüberschriften in der Buchhandlung anzusehen. Die S-Bahn von Mainz nach Wiesbaden ist meistens verspätet, weil Wiesbaden am Ende der Strecke liegt. Beide Städte sind Landeshauptstädte, daher ist die Vielfalt der Zeitungen größer als anderswo. Mir fiel das farbige Titelfoto eines israelischen Soldaten auf, der eine Tränengasgranate oder etwas ähnliches in Richtung eines qualmenden Feuers auf die Straße warf. Es ging um Gaza. Überschrift: „Keine Gewinner“. Die Jüdische Zeitung titelte das; ich trat näher heran, nahm das Blatt aus dem Ständer und las den Artikel. |
(25.03.2008) Hier zunächst eine erstaunliche Email, die mich am 19.03. erreicht hat. Ich gebe sie im Folgenden vollständig wieder. „Subject: Kommentar zur Jüdischen Zeitung März 2008. Text: Kassam-Raketen, Tausende von toten Zivilisten, ständige Bedrohung seit mehreren Jahrhunderten: Lasst Israel endlich in Ruhe! Und ihr werdet Ruhe haben. Und: Palästina hätte ebenso wie Israel im Jahr 2008 seinen 60. Geburtstag feiern können. Denn der UN-Beschluss sah die Bildung zweier Staaten vor, eines israelischen und eines palästinensischen. Die Juden haben zugestimmt – die Araber haben den jungen Staat angegriffen. In der Folge hatten die Palästinenser noch mehrere Male die Chance, einen eigenen Staat zu bilden, bis heute, bis jetzt. Statt dessen werden israelische Kinder ermordet. Warum: Um die Zukunft des jüdischen Staates zu vernichten. Wenn das kein schleichender Holocaust von palästinensischer Seite ist... Heike Linde-Lembke“ |
(07.04.2008) Am dritten kam die April-Ausgabe der Jüdischen Zeitung heraus. Mein Plan war, sie dieses Mal ein wenig mit der Islamischen Zeitung zu vergleichen, aber die habe ich weder in Mainz noch in Wiesbaden bekommen können. Für diese Pressezeit macht das nicht viel aus, es ist aber schon eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man bedenkt, dass es etwa 100.000 Juden in Deutschland gibt und weit über 3.000.000 Muslime. Das Dreißigfache. |
(14.04.2008) Am Wochenende war ich in Konstanz, Freunde besuchen. Der Bahnhof liegt fast direkt am Wasser. Als ich mit Annette und dem kleinen Joel am Bodensee spazierte, sahen wir eine Gruppenführung. Der Mann sprach gerade über die 108 am 20. Oktober 1940 deportierten Konstanzer Juden. Ich erzählte Annette, dass ich Rolf Verlegers neues Buch „Israels Irrweg“ auf der Fahrt fast durchgelesen hatte und dass es bemerkenswert sei. Ich werde es in Kürze besprechen und dabei vorschlagen, es ins Arabische zu übersetzen, denn mit diesem Buch können Araber den Bezug zwischen Europa und Nahost verstehen. Auch die Jüdische Zeitung kommt in dem Buch vor, so sieht man sich wieder. Aber davon später mehr. |
(16.04.2008) Hier ist wieder der Mellow Goy. Was war nun mit Ministerpräsident Platzeck? Er hat den Heiligen Eid gesprochen: „njhfhrvntg dass für Brandenburg wie für alle anderen deutschen Länder das Existenzrecht Israels konstitutiv ist.“ Was mich daran stört? Das Wort „Existenzrecht“. Es ist eine Chiffre für: Ihr könnt töten, wie ihr wollt. Es kaschiert die Besatzung, relativiert die Enteignung und Vertreibung, auch den Libanonkrieg, es ist ein Signalwort. Es gibt dieses Wort nur für diesen Staat, kein Mensch schert sich um das Existenzrecht von anderen. Es ist völkerrechtlich und in den Menschenrechten tief verankert, deshalb ist es sinnlos, es immer wieder als Argument heranzuziehen. Es ist ein philosemitisches Signalwort. |
(17.04.2008) Liebe Mellow-Goy-Leser, heute schreibe ich darüber, was ich besonders gut fand an der April-Ausgabe 2008 der Jüdischen Zeitung. Zuvor aber die ersten Sätze des heutigen Rundbriefs von Dr. Mazin Qumsiyeh http://qumsiyeh.org in den USA, der die Stimmung unter Palästinensern und unter Menschenrechtlern sehr gut widerspiegelt. Ich rezensierte sein herausragendes Buch Das Land von Kanaan miteinander teilen vor drei Jahren. Mazin schreibt (heute, nicht vor 100 Jahren, nicht auf einem fernen Planeten): |
(19.04.2008) Das mit dem Mellow Goy ist übrigens nicht meine Erfindung. Der Begriff kommt von Gilad Atzmon, einem berühmten Jazz-Saxophonisten und ex-Juden aus London. Er hat Herbie Hancocks Instrumental-Klassiker „Watermelon Man“ (eines meiner Lieblingsstücke überhaupt) zu „What a Mellow Goy“ umgedichtet, auf der CD Artie Fishel and the Promised Band. Das Stück geht ganz gut ab und ich höre es manchmal vom mp3-Player. |
(22.04.2008) Gestern Nacht habe ich etwas Seltsames geträumt: Ich sitze auf dieser Parkbank „Nur für Arier“ und neben mir Marion Kahnemann, die mir etwas erklären möchte, das ich nicht verstehen kann, weil die Vögel dazwischenzwitschern. Plötzlich hebt die Bank mit uns ab und fliegt davon. Ich sehe unter mir den Rhein, wie er in Konstanz in den Bodensee übergeht und weiter fliegen wir, immer weiter. Wo will diese Bank mit uns hin? Das Mittelmeer lassen wir hinter uns und bewegen uns auf Palästina/Israel zu. |
(04.05.2008) Nun muss ich mich aber ranhalten, denn die nächste Ausgabe der Jüdischen Zeitung kommt heraus, vielleicht ist sie es schon. Zunächst einmal Berlin: Es waren erfüllte Tage mit Hedy und Greta und anderen. Das Theaterstück war sehr imposant, auch ausverkauft, und die Schauspieler haben Großes geleistet. Es ging in dem Stück um eine Gruppe Jugendlicher in Moabit, von denen jeder aus unterschiedlichen Gründen sein oder ihr Leben beenden wollte. Sie treffen aufeinander und erzählen sich ihre Geschichten. Auch eine junge Hedy ist dabei, sie führt die anderen in ihrer Geschichte nach Deutschland in der Nazizeit. Am Ende reist die Gruppe nach Jenin und trifft dort auf Arna und ihre Kinder, eine weitere Theatergruppe. Im Publikum war auch ein Abgeordneter der SPD, ich konnte kurz mit ihm sprechen. |
- Neues von der deutschen Presse - (05.05.2008) Heute habe ich eine neue Erfahrung gemacht. In der Mai-Ausgabe der Jüdischen Zeitung ist auf Seite 16 unter dem Titel „Chiffren und Dogmen. Zur März- und April-Ausgabe der 'Jüdischen Zeitung'“ etwa eine drittel Zeitungsseite lang aus dieser Pressezeit zitiert worden, speziell die Besprechungen von Shapiro, Papp, Halpert, Klatt, Platzeck, Dödtmann, Yaron, Kahnemann, Fried/Joseph und Gallers. In meiner langjährigen Erfahrung als freier Publizist ist mir eine solche Offenheit noch nicht begegnet. Und die haben das von sich aus gemacht. Sie haben vorher gefragt, ob sie Material aus der Pressezeit verwenden dürfen. Ein solches Verhalten ist völlig untypisch für eine deutsche Zeitung. Die taz ist zwar ebenfalls recht locker in dieser Hinsicht, aber nicht so. Das hier ist ein echter Präzedenzfall.
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(12.05.2008) „Ein Lichtlein am Ende des Tunnels“ ist eine der berühmten JZ-Überschriften der Hoffnung. Dieses Mal kann ich es nachvollziehen. Es geht in dem Artikel von Philipp Holtmann (S. 7) um die aktuelle Situation im Nahen Osten und mögliche Gespräche Israels mit Syrien. Auch mit der Hamas sei ein Wandel denkbar. In diesem Zusammenhang sehe ich zwar nicht wirklich einen Hoffnungsschimmer, aber der Titel passt trotzdem. Ein langer erster Absatz nämlich erklärt den historischen Hintergrund des Konflikts, vor allem die Vertreibungen und Enteignungen seit den 40er Jahren. Dieser Zusammenhang zeigt, warum die 60-Jahr-Feier von einigen Leuten boykottiert wird, beziehungsweise warum das Jubiläum des zionistischen Staats nicht überall einen Grund zum Feiern darstellt. |
(18.05.2008) Die Website der Jüdischen Zeitung ist www.j-zeit.de. Hier der Wikipedia-Eintrag, den es übrigens nicht auf Englisch oder Russisch gibt, aber auf Arabisch: „Die Jüdische Zeitung ist eine seit Herbst 2005 erscheinende Monatszeitung in deutscher Sprache. Sie ist die jüngste Veröffentlichung der Werner Media Group Berlin. Adressat der Monatsschrift ist einerseits die deutschsprachige jüdische Gemeinschaft sowie alle am Judentum und jüdischen Fragen Interessierten. Nach Selbstauskunft will die Zeitung den Prozess der Pluralisierung in der deutsch-jüdischen Gesellschaft aufmerksam, unabhängig und kritisch begleiten. Auch über für die jüdische Gemeinde relevante Vorgänge in ganz Europa, den USA und besonders aus Israel will die Jüdische Zeitung authentisch Bericht erstatten. Diese Zielvorgaben sollen ausser durch das Berliner Redaktionsteam von Korrespondenten im In- und Ausland, fachkompetenten Kommentatoren, Rezensenten, Feuilletonisten sowie Reportern und Fotojournalisten, die an der Publikation mitwirken, gewährleisten werden. Themenfelder: aktuell-politisches, religiöses (nicht nur jüdisches), gesellschaftliches, kulturelles und wirtschaftliches Geschehen in ganz Deutschland, Weltgeschehen und Diaspora, Tradition und Moderne, jüdische Gemeinschaft und zeitgenössisches Judentum, interreligiöser Dialog, Meinungen und Dispute zu aktuellen Fragen des Judentums und vielen allgemein-gesellschaftlich relevanten Themen, aktuelle jüdische Kunst und Kultur, Wissenschaft und Bildung im jüdischen Kontext, Geschichte des Judentums“ |
(25.05.08) Im redaktionellen Beitrag auf Seite 4, „Politischer Redakteur angegriffen“, wird gemeldet, dass „mehrere Vertreter jüdischer Organisationen“ die Entlassung von Ludwig Watzal fordern, Redakteur der Bundeszentrale für Politische Bildung. Er stelle Israel als „wild gewordene Kolonialmacht“ dar, die eine „ethnische Säuberung“ der Palästinenser durchführe. Die Zeitungen „Welt“ und Tagesspiegel werden genannt als Medien, die die Vorwürfe weitergetragen haben. Innenminister Schäuble sei informiert und das Innenministerium nehme das Anliegen „sehr ernst“. |
- Wortbruch - (06.06.2008) Wie mit der JZ-Redaktion besprochen ist mein Artikel über Hedy Epstein in der Juni-Ausgabe erschienen. Nicht nur das, sie haben auch meinen Kommentar wegen Ludwig gedruckt! Das ist erneut beeindruckend und besonders. Allerdings gibt es einen Haken: Entgegen klarer Verabredungen wurde mein Text verändert. Wir hatten klar abgemacht, dass Textänderungen nur nach Absprache erfolgen. Herr Dödtmann hatte mir nach Sichtung des Artikels zugesagt, dass nur an einer Stelle „Frau Hedy Epstein“ durch „Hedy Epstein“ ersetzt wird und das Wort „MultiplikatorInnen“ aus einem der Zitate umgewandelt wird. |
(17.06.2008) Nach dieser Geschichte hat sich das Thema JZ für mich erledigt. Ich bedaure das sehr und habe folgendes pessimistisches Gedicht zu dem Thema produziert: Was ist ein Journalist? Einer, der alles frisst? Der niemals was vermisst? Er wird ständig beschnitten, von klausulierten Dritten, klingt unterwürfig trist! Nein, du bleib, wie du bist. Werd bloß nicht Journalist! |
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